Peter Lohauß

Die globale Finanzkrise, Barack Obama und das Dilemma der Mittelklassen

 

Die Präsidentschaftswahlen in den USA und die Weltwirtschaft

Die Startvoraussetzungen für Barack Obama sind schlecht. Die US-Immobilienkrise hat eine globale Finanzkrise angestoßen, deren Aufblähung allseits völlig unterschätzt worden ist. Dabei mangelt es nicht an historischer Krisenforschung. Doch wird darin die Lernfähigkeit der Akteure als bescheiden dargestellt, eine Schlussfolgerung, die sich, so unser Autor, in den bisherigen Maßnahmen zu bestätigen scheint. Bleibt die Hoffnung, dass die neue Präsidentschaft in den USA neue Kräfte und Ideen mobilisiert. Zuallerst auf dem wirtschaftspolitischen Feld.

 

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Kein amerikanischer Präsident seit F. D. Roosevelt fand bei seinem Amtsantritt eine so schwere wirtschaftliche Krise vor wie Barack Obama. Der Finanzsektor ist in Aufruhr, der Immobilienmarkt liegt am Boden, Millionen Haushalte sind überschuldet, eine Rezession beginnt. Schon vor seinem Amtsantritt entwarf der zukünftige Präsident einen »Plan um das Vertrauen der Märkte wiederzugewinnen, die Immobilienkrise zu meistern und zu helfen, die Familien vor dem Wirtschaftsrückgang zu schützen«.(1) Der Plan sieht vor, neue Standards für Transparenz und Aufsicht über das Finanzsystem zu schaffen, um zukünftigen Missbrauch und Krisen abzuwenden; sofortige Hilfe für von der Immobilienkrise betroffene Hausbesitzer zu gewähren; ein zweites Konjunkturpaket zur Stabilisierung und Stärkung der Wirtschaft aufzulegen; Hilfen für von der Immobilienkrise besonders betroffene Bundesstaaten(2) zu leisten und die Arbeitslosenversicherung auszuweiten und zu verlängern.

 

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Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen Krise liegt im amerikanischen Markt für Wohnimmobilien. Es gibt Schätzungen, nach denen heute jeder sechste Eigenheimbesitzer Probleme mit seinen Hypothekenkrediten hat. Bislang sind etwa 500 Milliarden Dollar an Immobilienkrediten abgeschrieben worden. Hält der rapide Verfall der Grundstückspreise an, rechnet man mit weiteren ein bis eineinhalb Billionen Dollar an Wertverlusten. Das große soziale Problem sind die überschuldeten Familien, die jetzt ihre Wohnungen verlieren. Während bei steigenden Immobilienpreisen Eigenheimbesitzer Wertsteigerungen realisieren können beziehungsweise Banken bei Zahlungsschwierigkeiten den Ausfall kompensieren, übersteigen bei langfristig fallenden Preisen die zu zahlenden Hypothekenschulden den Wert der Immobilie, und die Bank macht bei Zahlungsausfall Verluste. Verschärft wird die Situation durch Eigenheiten des amerikanischen Hypothekensystems, wonach vielfach variable Zinssätze vereinbart sind, die jetzt, wo niemand das brauchen kann, in die Höhe gehen. Zudem wird bereits nach einem Rückstand von zwei Monaten bei der Zins- und Tilgungszahlung ein so genanntes »foreclosure«-Verfahren eingeleitet, in dessen Gefolge die Kreditfähigkeit des Schuldners ruiniert wird und der verbliebene Wert des Hauses noch weiter sinkt. Die Verachtung für die vermeintlich unseriösen Schuldner, die hierzulande immer mitschwingt, wenn die »subprime«-Darlehen für die globale Finanzmarktkrise verantwortlich gemacht werden, ist völlig unangebracht. In einer Periode steigender Grundstückspreise und niedriger Zinsen kann die Mittelklasse ihre Wohnbedürfnisse besser befriedigen und zugleich noch eigenes Vermögen bilden, aber wenn eine »Blase« entsteht und platzt, leiden alle darunter. Ein konkreter Rettungsplan für die 30 bis 40.000 Familien, die auf diese Weise jeden Monat ihr Heim verlieren, steht noch aus.

 

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Die globale Finanzkrise machte schlagartig der Öffentlichkeit die immensen Risiken der modernen Finanzwirtschaft klar und führt allerorten zur Erschütterung von vermeintlichen Glaubensgewissheiten. Die Eigenarten einer globalen Finanzkrise führen dazu, dass über die Tiefe und die möglichen Folgen der Krise sowie über die notwendige Abhilfe Unklarheit herrscht, die meisten Protagonisten scheinen im Zustand des Nicht-Wissens zu handeln. Da erstaunt es, wie sehr Barack Obama durch sein Auftreten selbst schon zur Beruhigung beiträgt.

Risiko – erklärt Ulrich Beck im Interview(3) – ist die Vorwegnahme der Katastrophe in der Gegenwart, um das Schlimmste, das ja auf gar keinen Fall eintreten darf, zu verhindern. Aber selbst der Risikotheoretiker bekennt, »dass vieles von dem, was jetzt im Realkabarett der Weltwirtschaft und Weltpolitik vor sich geht, weit über das hinausgeht, was mir im Studierzimmer eingefallen ist«. Er muss über »die strukturelle Ironie der Verhältnisse« hilflos lachen und fragt sich: »Wie erklärt sich das Umsturzpotenzial der Verhältnisse, zumal doch die meisten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ansätze von einer weitgehend krisenfreien Stabilität und Expansion der westlichen Moderne und ihres Wirtschaftssystems ausgehen?« Der Interviewer stellt jedoch die listige Frage: Ob er selbst sich denn auch verspekuliert habe oder ob ihm seine Risikotheorie zu einer sicheren Geldanlage verholfen habe? Ulrich Beck bekennt, Glück gehabt zu haben, indem er in Finanzdingen nicht gemäß einer Theorie der krisenfreien Stabilität der Moderne, sondern »beamtenförmig« gehandelt hat, also Staatspapiere statt Immobilienfonds gekauft hat. Frage und Antwort verweisen auf das Dilemma der Mittelklassen in der globalen Finanzkrise: Die Mittelklasse hat in der globalen Finanzkrise nicht nur Schulden akkumuliert, sondern natürlich auch Vermögen angelegt, sie ist deshalb nicht nur Opfer, sondern auch (Mit-)Täter.

 

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Nicht erst über die bösen Folgen auch schon über sein noch vermeintlich unschuldiges Handeln zuvor legt sich der individuelle Anleger keine Rechenschaft ab. Christoph Deutschmann hat die Verwicklung der Mittelklasse in die Finanzkrise jüngst deutlich beschrieben:(4) Es sei eine einfache Wahrheit, dass Wertpapiere immer nur so viel wert sind, wie sich Schuldner finden, die das angebotene Kapital leihen und mit Zinsen zurückzahlen. Der Kreditnehmer eines Bank- oder Hypothekenkredits muss dies durch seine eigene Arbeit oder durch die Verwertung in seinem Unternehmen und damit auch über die Arbeit seiner abhängig Beschäftigten tun. Die Finanzwirtschaft ist nichts ohne die »Realwirtschaft« und die kapitalistische »Realwirtschaft« funktioniert nicht ohne Finanzwirtschaft. Zukunftsorientiertes Wirtschaftswachstum heißt nichts anderes, als dass die einen mehr ausgeben, als sie einnehmen – sich also verschulden – und die anderen mehr arbeiten als zuvor. »Ein idealer kapitalistischer Vermögensmarkt stellt eine sozialstrukturelle Pyramide dar, mit wenigen Vermögensbesitzern an der Spitze und einer großen, möglichst jugendlichen, armen, aber zugleich aufstiegswilligen Bevölkerung an der Basis. Das Interesse an sozialem Aufstieg und Geldreichtum motiviert außerordentliche Arbeitsleistungen der Vermögenslosen, und diese Leistungen stellen wiederum die Verwertung des Kapitals der Vermögenden sicher.« Dem idealen kapitalistischen Vermögensmarkt kommen die USA recht nahe. Wächst aber der Vermögensmarkt insgesamt stark und steigt ein großer Teil aus der Mittelklasse wirtschaftlich nach oben und versucht, über Vermögensanlagen mehr zu »verdienen«, als die Gesellschaft durch Arbeit erzeugt, kann eine »Finanzblase« mit anschließendem Crash beschleunigt werden.

Eine der Folgen der Globalisierung der Finanzmärkte ist, dass die beschriebenen Effekte zum Teil exportiert werden können. Die deutsche Pensionärin, die ihre gesparten 10.000 Euro gut anlegen will, und überhaupt jeder, dem ein Bankberater einredete, höher verzinsliche Anlagen zu tätigen, fand hierzulande niemanden, der bereit war, für ihr Geld so viel Zinsen zu zahlen, wie sie erwarteten, und sie griffen deshalb freudig und ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein, zu den gut verpackten Hypothekenschulden der amerikanischen Mittelklasse.

 

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Es ist ein dieser Tage gern erzähltes Märchen, dass die Banken genauso wenig gewusst hätten wie die Anleger. Auf einem Symposium für Insider im April 2008 amüsierte sich der Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, eingangs über die Unwissenheit der »Außenstehenden«, die nicht einmal die wichtigsten Abkürzungen kennten.(5) Dabei sei alles doch so einfach: »Eine, häufig außerbilanzielle, Zweckgesellschaft emittiert zu Finanzierungszwecken kurzlaufende Wertpapiere (asset backed commercial papers) und investiert die so gewonnenen Mittel in langfristige Anlagen wie Hypothekendarlehen beziehungsweise Papieren, die ihrerseits durch das Verbriefen von Immobilienkrediten entstanden sind (mortgage backed securities).« Auf diese Weise verbinden sich die deutsche Pensionärin und der amerikanische Hypothekenschuldner und wissen nichts voneinander. Die Banken aber haben diesen Weg gewählt, weil sie ihr Risiko minimieren wollten. Der einzelne Hypothekenkredit wurde vom so genannten Originator (z. B. einer US-Hypothekenbank) ausgereicht, dann mit anderen Hypothekenkrediten zusammengefasst, anschließend in eine Zweckgesellschaft transferiert und schließlich in Form forderungsbesicherter Wertpapiere an andere Finanzmarktteilnehmer weiterverkauft (so genannte collaterised debt obligations, CDOs, strukturierte Wertpapiere). Der Bundesbankpräsident stellte klar: »Den heutigen Möglichkeiten, Kreditrisiken zu transferieren, stehe ich weiterhin grundsätzlich positiv gegenüber, da sie es erlauben, auch Kreditrisiken aktiv zu steuern ... es ist Teil eines fortschrittlichen Risikomanagements.« Zu den maßgeblichen Ursachen der Blase zählte er die »Suche vieler Investoren nach einer (Über-)Rendite«; die Fehleinschätzung läge in der Annahme der Anleger, den Renditeaufschlag der strukturierten, hypothekenbesicherten Wertpapiere gegenüber Staatsanleihen ohne Risikoaufschlag zu bekommen.

Die Risikokalkulation beispielsweise der Deutschen Bank kann man in ihrem Geschäftsbericht schon seit 2006 nachlesen: »Ein unvorhergesehenes Nachlassen der Anlegernachfrage nach Asset-backed Securities könnte uns dazu bewegen, künftig weniger zur Verbriefung verwendbare Kredite zu vergeben. Wir sind jedoch nicht von der Verbriefung von Forderungen als Finanzierungsquelle abhängig. Folglich würde eine solche Marktveränderung zu keinem signifikanten zusätzlichen, nicht bereits in unseren Risikoanalysen berücksichtigten Liquiditätsrisiko führen. Sofern wir von einer Zweckgesellschaft begebene erstrangige oder nachgeordnete Schuldtitel im Bestand haben, entsteht ein Kreditrisiko, das wir in unsere Kreditrisikobeurteilungen oder Marktbewertungen einbeziehen.« Aber selbst wenn die gutmütigen kleinen Anleger auf der Suche nach höheren Zinsen dies gelesen hätten, hätten sie dies vermutlich für Bankerkauderwelsch gehalten und nicht als Warnung über die Risiken ihrer Anlage. Denn sie verfügen nicht wie die Investmentbanker über durch Differenzialgleichungen abgesicherte finanzmathematische Modellrechnungen über Kursverläufe, Volatilität, Risiko und Preise von Finanzoptionen. Doch trotz allem Risikomanagement kam es in der Tiefe der Finanzkrise zu einer »rasch steigenden Risikoaversion von Investoren gegenüber Anlagen im Hypothekenbereich«, und so zeigte sich selbst der Bundesbankpräsident darüber überrascht, dass in der Krise viele Kreditrisiken wieder bei den Banken landeten, obwohl sie doch meinten, das Risiko mittels Streuung und Verbriefung an die Anleger weitergereicht zu haben.

 

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In einer seit 30 Jahren immer wieder aktualisierten Arbeit über Manias, Panics, and Crashes listen die Wirtschaftshistoriker Charles P. Kindleberger und Robert Aliber im Zeitraum zwischen 1618 und 1998 nicht weniger als 38 umfassende, aus Finanzblasen entstandene Wirtschaftskrisen auf. Diese hätten eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen, die zeigten, dass Finanzmärkte von einer inhärenten Instabilität geprägt sind. Diese würde durch die Hebelwirkung von Krediten zusätzlich befördert. Die nach der »Blase« fällige Vernichtung von Finanzvermögen träfe letztlich immer die Mittelklasse. Das drückte Adam Posen vom Peterson Institute for International Economics in Washington, DC, und aus dem Beraterkreis um Barack Obama in einem Vortrag zur Präsidentschaftswahl am 3. November 2008 noch plastischer aus: »If you start rich, you end up rich, if you start poor, you end up poor!«

Ein weiteres historisch immer wieder auftretendes Merkmal von Finanzkrisen ist nach Kindleberger übrigens die Lernunfähigkeit der Akteure. Darum sei noch ein drastischer Lehrsatz über Finanzkrisen von Adam Posen zitiert: »Life is unfair!«

 

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Der Wertberichtigungsbedarf der globalen Finanzwirtschaft wurde im Oktober 2008 vom IWF mit 965 Milliarden Dollar beziffert. Diese Verluste müssen alle Marktbeteiligten abschreiben. Nach der Insolvenz oder dem Verkauf der großen Investmentbanken und einer Reihe von Institutionen trat in den USA und in vielen anderen Ländern für die übrigen großen Finanzinstitutionen eine Staatshaftung ein. Das amerikanische Finanzministerium unter dem früheren Chef der Investmentbank Goldman Sachs, Henry Paulson, verteilte 125 Milliarden Dollar und versprach noch einmal dieselbe Summe in Reserve. Eine Ministeriumssprecherin sagte: »Wir haben die Bedingungen, zu denen die Banken Geld aus dem Rettungspaket erhalten, bewusst attraktiv gestaltet. Damit wollten wir eine breite Teilnahme sicherstellen.« In der Folge zahlen allein die 33 Banken, die in der ersten Runde Hilfen erhalten haben, 7 Milliarden Dollar an Dividenden an ihre Aktionäre aus. Das Wall Street Journal berichtet, dass sich die Führungsebenen von Goldman Sachs 11,8, JP Morgan 8,5 und Morgan Stanley 12 Milliarden Dollar an »Gehältern« genehmigten, nicht zuletzt aus dem Topf der staatlichen Finanzhilfen. So hilft der Sozialstaat dem Finanzkapital, wirft die Mittelklasse ihren Verlusten noch ihre Steuern hinterher.

 

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Die öffentliche Wahrnehmung der Krise wird durch ein unzureichendes Verständnis des Verhältnisses von Markt und Staat verzerrt. Finanzministerien, Aufsichtsbehörden und Finanzmarktinstitutionen arbeiten eng zusammen. Die Bildung von Zweckgesellschaften, das Weiterreichen und Streuen von Kreditrisiken, die Hypothekenkreditvergabe und so weiter finden nicht auf einem staatsfernen, regulationsfreien, sich selbst regulierenden Markt statt, sondern sind genau koordinierte, von staatlichen und selbstverwaltenden Finanzinstitutionen erlassene Regulierungen eben dieses Marktes. Diese Regulierungen werden seit langem unabhängig von der politischen Farbe der Regierungen erlassen – in Deutschland sind zum Beispiel Derivate unter der rot-grünen Regierung zugelassen worden, von mehr oder weniger denselben Finanzbeamten und Wirtschaftsvertretern, wie sie vorher und auch jetzt noch unter der großen Koalition tätig sind. Zweifellos verbreiten neoliberale Ökonomen und ihre Nachbeter in den Wirtschaftsredaktionen der Medien ihre Interessenpolitik unter dem Siegel der Staatsferne, aber wer ihnen das glaubt und meint, nun solle statt des freien Marktes endlich einmal auch die Finanzwelt reguliert werden, der ist den Prämissen der neoliberalen Propaganda schon aufgesessen. Jagdish Bhagwati, ein renommierter Handelstheoretiker von der Columbia Universität New York, sagt dazu: »Die wirkliche Debatte ist doch nicht, ob der Staat eingreift, sondern wie er das tut. Ich habe in den letzen Jahren kaum Deregulierung gesehen, dafür aber viel gescheiterte Regulierung, und das hat meist mit Lobbyismus zu tun. Es wurde viel Geld auf schlecht regulierten Märkten verdient. Es ging nicht um Ideologie, sondern um Geschäftsinteressen. Die Wall Street kam wie ein Gorilla auf die Politiker zu und sagte: Reguliere mich bloß nicht.«(6)

 

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Zweischneidig ist auch der gegenwärtige Ruf nach Transparenz. Die in den letzten Jahren erlassenen Regulierungen, die weitreichende Transparenz der Finanzmärkte erzwungen haben, sind nicht unwesentlich daran schuld, dass nun eine amerikanische Immobilienkrise international zerstörerische Auswirkungen hat. Gerade die Finanzmärkte waren früher innerhalb des nationalen Rahmens reguliert; über den Großteil der Kreditbeziehungen wussten außer Schuldner und Gläubiger niemand etwas und kaum eine Firma musste in Bilanzen ihre Vermögensverhältnisse dem Kapitalmarkt transparent machen. Ein wirksames Mittel, um das produktive Kapital von den Wirren des Finanzmarktes unabhängig zu machen, wäre, es nicht über Aktien zu finanzieren und damit für die Finanzmärkte intransparent zu machen. Es ist gerade die Ausweitung von Prinzipien des Finanzmarktes auf immer weitere Wirtschaftsbereiche, ja selbst auf öffentliche Güter von Stadtwerken bis zu Universitäten, die letztlich die Gefahr der Zerstörung der bisher mit guten Gründen vor der schrankenlosen Kapitalverwertung geschützten Bereiche heraufbeschwört.

 

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Zu den Eigenheiten des Finanzmarktes gehört die Schnelligkeit, mit der Transaktionen vollzogen werden können. Zu den Dummheiten der Medien gehören die auf dem Fernsehschirm eingeblendeten Laufbänder mit Börsenkursen, die suggerieren, jedermann müsse minütlich auf das Wirtschaftssystem reagieren. Atemlos berichten Fernsehsprecher, dass Kurse stürzen, immer im freien Fall. Der hektische Rhythmus wird auf alle medialen Sensationen übertragen. Aber die jetzt so genannte Realwirtschaft bewegt sich weiterhin in deutlich längeren Zeiten, und auf einmal entstehen kognitive Dissonanzen: Wieso erreicht die Arbeitslosigkeit nicht noch zu Börsenbeginn eine Rekordhöhe?

 

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Der IWF erwartet 2009 die erste Weltrezession seit 1945, wobei in den Vereinigten Staaten das Bruttosozialprodukt um 0,7 Prozent sinken soll.(7) Genauso wie Immobilien- und Finanzmarktblasen gehören Konjunkturzyklen zu den Verlaufserscheinungen des Kapitalismus. In den Projektionen des IWF sind aber entscheidende Parameter, durch die sich die Krise von allen anderen unterscheiden könnte, nicht berechenbar: In den USA hängt die Entwicklung des Sozialprodukts wesentlich vom privaten Verbrauch ab. Während nun aber die Zinsen der Zentralbank bereits extrem niedrig sind, steigen die Zinsen für Hypothekenkredite und Konsumentenschulden wegen der höheren Ausfallrisiken. Die Hauskreditkosten übersteigen vielerorts schon deutlich die Mietniveaus für vergleichbare Häuser und zwingen den Hauseigentümern drastische Konsumbeschränkungen auf. Die Krise dehnt sich auf die steigenden Zinsen für Kreditkarten aus. Das ist insofern in den Vereinigten Staaten ein großes Problem, als der private Konsum wesentlich auf Kreditkartenschulden beruht. So ist es zum Beispiel möglich und üblich, die Kosten für eine Berufsausbildung über ein oder zwei Kreditkarten zu finanzieren, in der Erwartung, die aufgelaufenen Schulden aus dem späteren Erwerbseinkommen zurückzahlen zu können. Bei den gegenwärtigen drastischen Zinsanhebungen brachen aber viele Lebensplanungen finanziell ein. Die Kreditkrise beschädigt auch viele Pensionspläne und Altersversorgungen, so dass auch diese Betroffenen ihren Konsum einschränken müssen. Der Nachfrageausfall führt zum Rückgang des Wirtschaftswachstum mit der Folge größerer Arbeitslosigkeit und weiterem Nachfrageausfall. In den USA kann es also in bislang ungekanntem Ausmaß zu einer Spirale des Abschwungs kommen. Gleichzeitig ist so klar wie nie: In den USA kann die sinkende Binnennachfrage nur durch staatliches Eingreifen gemildert werden, was die Erwartungen an die neue Präsidentschaft fast ins Unermessliche steigert. Der neue Nobelpreis-Ökonom und New York Times-Kolumnist Paul Krugmann stellt fest: Die Euphorie der Demokraten kann ein schnelles Ende finden, wenn sie nicht eine schnelle wirtschaftliche Erholung bewirken können. Er selbst erwartet freilich nichts weniger als einen neuen »New Deal«.

Weltwirtschaftlich ist die Lage noch komplizierter und auch hierfür gibt es noch keine Vorausberechnungsparameter des IWF. In Ländern, deren Wirtschaftswachstum überwiegend vom Export abhängig ist – wie Deutschland und eine Reihe von Schwellenländern –, wird wegen des Ausfalls der internationalen Nachfrage ein noch stärkerer Wachstumseinbruch erwartet als in den USA. Hinzu kommen die zwar irrationale, aber dennoch heftige Kapitalflucht aus den Schwellenländern, die deren Währungen in die Knie zwingt und somit die Importe verteuert, sowie der Fall der Rohstoffpreise wegen der weltweit sinkenden Nachfrage, der ebenfalls besonders die Schwellenländer schädigt. Über allem steht als neue, noch unkalkulierbare strukturelle Gefahr die kumulative Wirkung eines erstmals seit dem Weltkrieg synchronisierten Konjunkturabschwungs auf dem Weltmarkt. Da diesmal keine »Weltkonjunkturlokomotive« vorhanden ist, also keine Wirtschaftsregion, die in der Lage ist, die rückläufige Nachfrage anderer Regionen zu kompensieren, wird der Abschwung für alle exportabhängigen Ländern extrem ausfallen.

 

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In »Obama’s and Biden’s Plan for America« ist für alle wichtigen Fragen erstaunlicherweise eine sehr detailreiche Lösung vorgeschlagen, und in der Tat sind alle wichtigen Felder zur Stärkung der Binnennachfrage in den USA angesprochen. Noch erstaunlicher sind die vielen Finanzierungsvorschläge. Es lässt sich durchaus eine Linie darin erkennen, die Privatisierung von Risiken, sei es für die Krankenversorgung, die Altersversorgung oder die Ausbildung, die die Bush-Regierung überall befördert hat, wieder zugunsten kollektiver Modelle zurückzunehmen, so wie ja auch versprochen wird, die Risiken der Finanz- und Wirtschaftskrise auch für die Mittelklasse zu mildern. In den Lösungsvorschlägen gibt es aber eine entscheidende Lücke: Der Staatshaushalt ist das kürzeste Kapitel und es steht unter der Überschrift Haushaltsdisziplin. Zwar positioniert die vorgeschlagene Rücknahme der Steuerkürzungen der Bush-Regierung für die Reichen sehr deutlich den politischen Standort Obamas, aber als einzige Finanzierungsquelle aller Aktivitäten ist der Vorschlag doch sehr dürftig. Die Regierung Bush hinterlässt eine Staatsverschuldung von rund 10 Billionen Dollar. Das klingt zwar gewaltig, ist aber gemessen am BIP nur wenig mehr als in Deutschland. Die finanziellen Spielräume für die Milderung der Folgen der Finanzkrise und der heraufziehenden Rezession auch für die Mittelklasse scheinen aber gleichwohl sehr gering zu sein, insbesondere wenn noch eine spürbare steuerliche Entlastung der Mittelklassen und die Einführung der generellen Krankenversicherung auf dem Programm stehen. Welche konkreten wirtschafts-, steuer-, und haushaltspolitischen Initiativen ergriffen werden und vor allem auch durchgesetzt werden können, lässt sich allerdings noch nicht absehen und wird in der nächsten Zeit genau beobachtet werden müssen. In der Wirtschaftspolitik ist jedenfalls ein deutlicher Kurswechsel gegenüber der Bush-Regierung zu erwarten, im Unterschied zur Außenpolitik, bei der es in wichtigen Grundlinien keinerlei Veränderungsversprechen gibt, von der wichtigen Ausnahme abgesehen, künftig zunächst mehr diplomatische Mittel einzusetzen und wieder in den Rahmen internationalen Rechts zurückzukehren.

 

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Nach Wählerstimmen gerechnet hat Obama mit 52 Prozent insgesamt deutlich gewonnen, konnte aber bei den weißen Wählern weder bei Frauen noch bei Männern die Mehrheit gewinnen. Sein Sieg ist nicht zuletzt durch die großen demografischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte bedingt, wobei der Anteil der weißen Bevölkerung beständig gesunken ist. Die Wählergewinne, die er unter Latinos, Jungen und gut Gebildeten errang, hatten zur Folge, dass aufgrund der demografischen Veränderungen heute viele Suburbs zur demokratischen Seite des politischen Spektrums neigen. Aufgrund dieser strukturellen Veränderungen verbessern sich die Chancen der Demokraten nachhaltig. Auf der anderen Seite bedeutet das, dass die große Gruppe der weißen, christlich-fundamentalistischen, antistaatlichen, patriotischen und konservativen Wählerschaft keinen politischen Sinneswandel vollzogen hat, sondern fast unverändert groß ist, nur eben relativ nicht ganz die Mehrheit stellt. Obama wird, wenn er die extrem scharfen Brüche der politischen Lager überwindet, auch diesem Wählerklientel Angebote machen. Nicht zuletzt dürfte der Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise in der letzten Phase des Wahlkampf und die größeren Erwartungen, die in der Wählerschaft bei diesem Thema auf ihn, statt auf McCain gesetzt wurden, ein weiterer wichtiger Baustein seines Sieges gewesen sein. Über den Erfolg seiner Präsidentschaft wird deshalb in den nächsten zwei Jahren auf dem wirtschaftspolitischen Feld entschieden.

 

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Die USA haben tatsächlich die Gabe, sich in den Präsidentschaftswahlen periodisch immer wieder neu politisch zu erfinden. Der Wechsel gegenüber der ja auch für das eigene Gemeinwesen zerstörerischen Präsidentschaft Bush kann innenpolitisch kaum hoch genug geschätzt werden. Die Mittelklassen in den USA werden wirtschaftlich zunächst noch weiter unter Druck kommen. Die Hoffnungen, die die neue Präsidentschaft geweckt hat, wird aber auch Kräfte freisetzen, die Krise rascher zu überwinden, und nach wie vor wird eine Mehrheit der Mittelklassen in den Vereinigten Staaten hierfür eine direkte Hilfe vom Staat weder erwarten noch fordern.

 

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Barack Obama’s Plan To Restore Confidence In The Markets, Tackle The Housing Crisis And Help Protect Families From The Economic Slowdown. http://obama.3cdn.net/f9836ef496f75a9be0_39gimvt5b.pdf

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Etwa 22 Bundesstaaten, vor allem Arizona, Kalifornien, Nevada und Florida, sind wegen des dramatischen Rückgangs der Steuereinnahmen aus Umsatz- und Grundsteuern in einer schweren Budgetkrise.

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Ulrich Beck im Interview mit Arno Widmann, FR, 5.11.08.

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Christoph Deutschmann: »Der kollektive Buddenbrooks-Effekt. Die Finanzmärkte und die Mittelschichten«, MPIfG Working Paper 08/5. http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp08-5.pdf

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A. Weber: »Die Subprime-Krise. Ursachen und Folgen für das Kreditwesen«. Rede anlässlich des FTD-Bankengipfels 2008, 25.4.08. http://www.bundesbank.de

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SZ, 11.11.08 als Auftakt einer Serie im Wirtschaftsteil, die tatsächlich »Kapitalismus in der Krise« heißt.

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International Monetary Fund, World Economic Outlook, Release November 6, 2008: »Rapidly Weakening Prospects Call for New Policy Stimulus«. http://www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2008/update/03/

 

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2008