Die Europäische Union, die Finanzkrise und die Perspektiven der Integration
Krisen waren für die Europäische Union in der Vergangenheit schon öfter externe Impulsgeber. Unverhofft, so unser Autor, könnte die Finanzkrise das europäische Projekt voranbringen. Tatsächlich haben sich, mit allerlei Für und Wider, gewisse Grundierungen für Vorformen einer europäischen Wirtschaftsregierung abgezeichnet. Auch haben sich in der Krise die Gewichte wieder zu Gunsten des Parlaments selbst verschoben. Nationale Barrieren und Alleingänge werden in Zukunft dagegen noch bornierter erscheinen.
Als am
Abend des 12. Juni 2008 das Ergebnis des irischen Referendums zum Vertrag von
Lissabon feststand – 53,4 Prozent der Wähler lehnten den Vertrag ab –, war Europa
erneut in höchstem Maße konsterniert. Ein Land, dessen Bevölkerung nicht einmal
die Hälfte der Einwohnerzahl von Paris umfasst, hatte die Europäische Union
(EU) in eine weitere Vertragskrise gestürzt, und es war nicht einmal
schemenhaft erkennbar, wie sie überwunden werden sollte.(1) Nach der Ablehnung
des Verfassungsvertrags im Sommer 2005 bei den Volksabstimmungen in Frankreich
und den Niederlanden schien sich das europäische Projekt nun nach dem irischen
Votum in einer Art Endlosschleife verloren zu haben.
Zugleich
verdichtete sich im Sommer 2008 die Finanzkrise, das Unheil war schon
registrierbar, in den Dimensionen aber noch unwägbar. Das, was da mittlerweile
zu einer Jahrhundertkrise aufblüht, konnte nur als zusätzliche Belastung der EU
gedeutet werden. Für solche Fälle wurden in einschlägigen Szenarien Bilder vom
Zerfall der Währungsunion und Ähnliches an die Wand gemalt. Wäre die Redeweise
von den Chancen, die in jeder Krise liegen, angesichts des wohl kommenden
Elends nicht so zynisch, ließe sie sich für die Vertragskrise, in der Europa
nach dem irischen Referendum steckte, doch bemühen.
Der Blick
zurück in die europäische Integrationsgeschichte zeigt an zwei Knotenpunkten,
dass es externe Krisenkonstellationen waren, die dem Integrationsprojekt entscheidende
Impulse versetzten. Erstens, nach der Initialkrise(2) um die politische
Einigung Europas in den frühen Fünfzigerjahren waren es der sich ausbreitende
Kalte Krieg und der heiße Korea-Krieg, die mit dem EGKS-Vertrag (1952) und dem
EWG-Vertrag (1957) zwar bescheidene, aber doch konkrete
Integrationsfortschritte zeitigten. Zweitens, eine enorme
Integrationsbeschleunigung mit der Gründung der Europäischen Union, der
Währungsunion und später der Nord- und Osterweiterung brachte der Zeitenwechsel
von 1989/90.
These 1:
Die Finanzkrise des Jahres 2008 könnte ein solcher (unverhoffter) externer
Impulsgeber sein.
These 2:
Die Methode Monnet, das »muddling-through«, der
Inkrementalismus über das Klein-Klein, bewährten sich in der bisherigen
Integrationsgeschichte am nachhaltigsten. Praktische Probleme stellen sich und
müssen unter Druck bearbeitet werden. In seiner den europäischen Feiertag
stiftenden Erklärung vom 09. Mai 1950 zur gemeinsamen deutsch-französischen
Schwerindustrie formulierte es der damalige französische Außenminister Schuman
folgendermaßen:
»Europa
lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine
einfache Zusammenfassung: es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die
zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen
Nationen erfordert, dass der jahrhundertealte Gegensatz zwischen Frankreich und
Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie
Deutschland und Frankreich erfassen.« (Schuman 1950, in: Schwarz 1980, S. 108)
Sicher lag
es außerhalb der Intention des Verfassers, mit dieser These eine Art
Naturgesetz der europäischen Integration zu formulieren. Oft genug hat sich
aber die These von der »Solidarität der Tat« und der »Überwindung des
deutsch-französischen Gegensatzes« bewährt, und in der jetzigen Finanzkrise
könnte das erneut der Fall zu sein.
Ein Aspekt,
der in den vergangenen Wochen noch im Hintergrund stand, betrifft die
Auswirkungen auf das europäische Währungsgeschehen. Die Weltwirtschaftskrise
der Jahre nach 1929 führte rasch zu einem Zerfall der Weltwährungsordnung und
in der Folge zur Inkonvertibilität der Währungen und
extremem wirtschaftlichem Nationalismus. Erst mit der Weltwährungsordnung von Bretton Woods von 1944 eröffneten sich Perspektiven einer
Normalisierung.
In der
Folge der aktuellen Finanzkrise schälen sich vier interessante Beobachtungen
heraus. Sie betreffen das britische Pfund und seine Entwicklung mit Blick auf
den Euro, die nordeuropäischen Währungen und ihr Austauschverhältnis zum Euro,
die osteuropäischen Währungen und die Währungsunion.
Zunächst
zu Großbritannien. Die
Reputation des britischen Pfunds im internationalen Währungswettbewerb zehrte
in den vergangenen Jahren primär von dem Finanzplatz London und der
Deregulierung der globalen Finanzmärkte. Als die ersten Schockwellen der
Finanzkrise aus den USA Richtung Großbritannien rollten und britische Banken
ins Wanken gerieten, kam das Pfund sofort unter Druck. Innerhalb von gerade
eineinhalb Jahren wertete die britische Währung gegenüber dem Euro um 20
Prozent ab, so dass am Horizont die Parität zwischen beiden Währungen sichtbar
wird. Wahrscheinlicher noch wird dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
Großbritannien in den vergangenen Jahrzehnten eine spezifische Tertiarisierung
durchgemacht hat, die das Land weitgehend deindustrialisierte und den
Finanzsektor als die tragende Säule der Volkswirtschaft etablierte. Wie immer
die neuen Ordnungsmaßnahmen im Weltfinanzsystem aussehen werden, die Dynamik
der vergangenen beiden Jahrzehnte dürfte der Finanzsektor nicht mehr entfalten,
so dass Prognosen über die Zukunft der britischen Wirtschaft entsprechend
düster ausfallen.
Zu den
nordeuropäischen Währungen.
Nach dem Akutwerden der Finanzmarktkrise entfalteten sich sehr schnell
Währungskrisen bei den drei nordeuropäischen Währungen. Als kleine abhängige
Währungen waren die dänische Krone, die schwedische Krone und die norwegische
Krone von massiven Kapitalabflüssen bedroht, der Wechselkurs zu großen
Währungen, insbesondere zum Euro, geriet ins Rutschen und die nationalen
Zentralbanken mussten durch Leitzinserhöhungen den Wechselkurs verteidigen.
Infolge der Zinserhöhung treibt das inländische Preisniveau nach oben und zieht
weitere volkswirtschaftliche Konsequenzen in Hinblick auf Wachstum und
Investitionen nach sich.
Sonderfaktoren
verkomplizieren die Lage noch: In Norwegen, einem nicht EU-Land, fallen Finanz-
und Währungskrise mit einem fast im freien Fall befindlichen Ölpreis zusammen,
in Schweden macht sich die enge Verflechtung der dortigen Banken mit dem
Finanzsektor der baltischen Staaten negativ bemerkbar, da den dortigen
Kleinstaaten heftige Turbulenzen ins Haus stehen, und Dänemark, Mitglied im
EWS-II-Club, muss, wenn die Club-Mitgliedschaft aufrechterhalten werden soll,
heftig einseitig intervenieren, um den Kurs zu halten. Für Dänemark hat sich
die Situation in der Zwischenzeit so verschärft, dass die Regeln der
Wechselkursordnung EWS II ohne viel Aufheben außer Kraft gesetzt wurden und die
Europäische Zentralbank (EZB) als »lender of last resort« aufgetreten ist. Am 27. Oktober 2008 trat die
dänische Notenbank in eine Vereinbarung mit der EZB, nach der ihr 12 Milliarden
Euro zur Sicherung der Liquidität des Finanzsystems zugesichert worden sind.(3)
– Bleibt noch daran zu erinnern, dass sich das selbstbewusste Dänenvolk im Jahr
2000 und das selbstbewusste Schwedenvolk im Jahr 2003 in Volksentscheiden gegen
die Einführung des Euros ausgesprochen haben.
Zu den
osteuropäischen Währungen,
zunächst dem Fall Ungarn. Seit Wochen steht die dortige Landeswährung, der
Forint, unter Druck, Anfang Oktober wertete die Währung allein innerhalb einer
Woche um mehr als 5 Prozent ab. Seit Jahren leistet sich das Land eine
exorbitante Staatsverschuldung. Das Bankensystem ist extrem von ausländischem
Kapital abhängig, da die interne Hochzinspolitik zur Währungsstabilisierung die
Bevölkerung dazu verführt, bei Krediten auf Fremdwährungen zurückzugreifen. Das
wurde jetzt abrupt eingestellt. Zum Erliegen gekommen ist der Handel mit
Staatsanleihen. Über all diesen Krisenprozessen ist dann Mitte Oktober die
Börse auf Talfahrt gegangen. Bedrohlich wird die Situation für einzelne große
Unternehmen.
Mitte
Oktober trat daraufhin zunächst die EZB auf den Plan und stellte fünf
Milliarden Euro für die Ungarische Nationalbank zur Versorgung der
einheimischen Geldmärkte bereit, Ende des Monats musste ein Konsortium von
Internationalem Währungsfonds (IWF), der Europäischen Union und der Weltbank
weitere 20 Milliarden Euro nachschießen, um den Staatsbankrott zu vermeiden.
Von
Interesse ist die Sache aus mehreren Gründen. Zwei davon seien herausgegriffen.
Zum einen ist die Frage aufgeworfen, wie die EU mit der finanzpolitischen
»Lateinamerikanisierung« einzelner ihrer Mitglieder umgeht. Die »isländische
Lösung« – Staatsbankrott mit anschließendem Verkauf an Russland – scheidet für
ein EU-Mitglied wohl aus. Die Frage ist aber dann, wie es die EU – nennen wir
sie für diesen Fall einen Staatenverbund – mit der »staatenverbundlichen«
Solidarität hält. Die EU ist zwar nach der Vertragslage kein Haftungsverbund,
gleichwohl sichern die Verträge aber auch Solidarität zu.
Der die
Haftung ausschließende Artikel 103, Absatz (1) im geltenden Vertrag von Nizza
lautet: »Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der
Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder
anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des
öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt
nicht für derartige Verbindlichkeiten ein.«
Der die
Solidarität einfordernde Artikel 100, Absatz (2) lautet: »Ist ein Mitgliedstaat
aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich
seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden
Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit
auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter
bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Gemeinschaft zu
gewähren. Der Präsident des Rats unterrichtet das Europäische Parlament über
den Beschluss.«
Bemerkenswert
ist noch ein zweiter Aspekt. Offensichtlich interpretiert die EZB ihre
Unabhängigkeit nicht so buchstäblich, wie sie auf dem Papier steht. Mit dem
Kredit an Ungarn (und an Dänemark) übernimmt sie, besser sollte man sagen die
EU, Verantwortung und ist bei der Überwindung einer bedrohlichen Staatskrise
behilflich. Mit den eigentlichen Aufgaben der EZB, der Geldpolitik, hat dies
nichts zu tun, zumal Ungarn nicht einmal im EWS-II-Wechselkursmechanismus ist.
Streng genommen hat es mit der EZB genauso wenig zu tun wie Island, es ist eben
»nur« EU-Mitglied. Die EZB hat sich hier verhalten wie ein europäischer
Währungsfonds, der einspringt, wenn einem Staat gravierende
finanzpolitische Gefahren drohen.
Im übrigen
Osteuropa herrscht, mit der Ausnahme der Ukraine, noch Ruhe. Doch scheint das
eher die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Es ist weniger die Finanzkrise als solche,
die in Osteuropa eine Rolle spielen wird, als heraufziehende Währungskrisen und
realwirtschaftliche Einbrüche. Die Finanzkrise spielt keine Rolle, weil das
dortige Bankenwesen noch wenig entwickelt ist, große Auslandsbeteiligungen
vorliegen und wenig Engagements in dem verbrieften Sektor eingegangen wurden.
Allerdings gibt es in einer Reihe osteuropäischer Länder hohe
Auslandsverschuldungen. Überdies sind die Länder, da ihre Währungen nicht durch
Wechselkursordnungen abgesichert sind, auf Hochzinspolitik verwiesen und von
Kapitalflucht bedroht. Es rächt sich nunmehr, dass in ruhigen Zeiten keine
vernünftigen Wechselkursordnungen aufgebaut wurden.
Zur
Währungsunion selbst. Allgemein
wirkt sich die Währungsunion, die mittlerweile fünfzehn Währungen unter einem
Dach zusammengeführt hat, so aus, dass die Gesetze des Währungswettbewerbs
suspendiert sind, und mit dem gemeinsamen Dach des großen Währungsraumes ein
Schutzschirm gespannt wird, der die Finanzkrise wenigstens nicht um ein
Währungswirrwarr zusätzlich verschärft. Eine um eine Währungskrise erweiterte
Wirtschaftskrise hätte zu Zeiten des Währungswettbewerbs einerseits das
Leitwährungsland, die Bundesrepublik Deutschland, in der Folge der Verteidigung
der eigenen Position zu Hochzinspolitik und scharfen Restriktionsmaßnahmen
verführt, während andererseits »Schwachwährungen« zusätzlich unter Druck
geraten und Abwertungen ausgesetzt gewesen wären. Bei Bestehen eines
Wechselkursverbundes wie vormals dem EWS wäre dieser sicher gesprengt worden.
Da die
Spielregeln des Währungswettbewerbs andere sind als jene des Finanzmarktes
hätte es möglicherweise zu irrationalen Entwicklungen kommen können. Spanien
hatte beispielsweise in kluger Voraussicht verboten, die verbrieften
Finanzprodukte außerhalb der Bilanz abzuwickeln, so dass Risiken nicht kenntlich
werden. Da die Peseta aber eine »klassische« Abwertungswährung war, hätte
möglicherweise der Währungswettbewerb rationales wirtschaftspolitisches
Verhalten »bestraft« und die Peseta in die Abwertung getrieben. Die
Wirtschaftsgeschichte hat einiges von diesen Beispielen zu bieten. Dass Spanien
doch massiv in die Finanzkrise verwickelt ist, liegt an der dortigen
Immobilienblase, die sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hat. Das
spanische Bankenwesen an sich ist gut positioniert.
In den
europäischen Annalen findet sich das Jahr 1985 als jenes Jahr, in welchem unter
dem damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors mit dem
Binnenmarkt-Beschluss ein Projekt angegangen wurde, das bis zum Jahr 1992
verwirklicht sein und in den Mitgliedstaaten eine einheitliche Marktordnung
formen sollte. Im Zieljahr zeigte sich dann, dass trotz energischer Initiativen
zwar reichlich Fortschritte zu verzeichnen waren, von dem wirklichen Ziel eines
Binnenmarkts aber nicht die Rede sein konnte. Obwohl sich viele hundert
Binnenmarkt-Richtlinien in den Folgejahren anschlossen, schälte sich immer mehr
heraus, dass das Binnenmarktprojekt eine Daueraufgabe sein würde, nicht zuletzt
auch aufgrund der Erweiterungsrunden von 1995 und 2004.
Die jetzige
Finanzkrise legt nun in einem Teilsegment des Binnenmarktes, dem Finanzsektor
als Schnittstelle zwischen Währungsunion und Realwirtschaft, eklatante
Schwächen frei. Sie betreffen zum einen das Verhältnis von institutioneller
Finanzmarktregulation und Finanzprodukten und zum anderen das Verhältnis von
Binnenmarkt und Weltmarkt beziehungsweise innerer und äußerer Regulation. Aus
diesen Schwächen ergibt sich als Schlussfolgerung, dass die EU-Kommission und
hier insbesondere die beiden für den Wettbewerb und den Binnenmarkt zuständigen
Kommissare mit ihrem Konzept desaströs gescheitert sind, so dass eine
grundsätzliche Umsteuerung in der Politik der Kommission ansteht.
In Hinblick
auf die Finanzmarktregulation und die Finanzprodukte ist zunächst das
aufzugreifen, was in der integrationstheoretischen Fachliteratur negative und
positive Integration genannt wird. Stark vereinfacht bedeutet negative
Integration die Beseitigung sowie den Abbau von nationalen
Marktzugangsbeschränkungen, positive Integration die Entwicklung neuer
supranationaler Normen oder Standards, sei es auf der Produkt- und damit der
Marktzugangsebene, sei es auf der Ebene der Regulationsinstitution, häufig auch
mit dem Begriff der Re-Regulation auf der europäischen Ebene gekennzeichnet.
Nun war es zu Delors‘ Zeiten so, dass die Re-Regulation (damals noch unter 12
Mitgliedsländern) schon reichlich Schwierigkeiten bereitete und das
Binnenmarktprojekt enorm zu verzögern drohte, so dass man unter pragmatischen
Aspekten dazu übergegangen ist, den Wettbewerb von Regulationen zuzulassen und
damit das Prinzip der Anerkennung in einem Land setzte, das die europaweite
Anerkennung zwangsläufig nach sich zog.
Was in den
Achtziger- und frühen Neunzigerjahren aber noch pragmatische Politik war,
geriet im Laufe der Zeit immer mehr zur – letztlich auch ideologisch überhöhten
und dem Mainstream folgenden – Politikmaxime, die Re-Regulation verschwand nach
und nach als Politikziel vom Tapet und wurde sozusagen flächendeckend durch den
Regulationswettbewerb, der faktisch auf eine Deregulation
hinauslief, substituiert. Diese marktradikale Verselbstständigung rächt sich
nun, und sie muss, soll das europäische Projekt mit neuen Impulsen aus der
Krise hervorgehen, überwunden werden.
Zeigen
lässt sich dies am Fall der Hypo Real Estate (HRE) und ihrer Tochter, der Depfa Bank. Der Ausgangspunkt für die Depfa
– heute Tochter der HRE, bis 2007 noch selbstständig als Finanzierungsinstitut
für öffentliche Immobilien – war im nationalen Rahmen die deutsche
Finanzaufsicht, vormals dreigespalten, später nur noch zweifach. Das
Steuerdumping in Europa – die Unternehmensbesteuerung in Irland liegt bei 12
Prozent – und regulationsfreie Zonen auf der Insel haben zu einer Verlagerung
des Unternehmenssitzes nach Irland geführt. Greift man aus dieser mehrfach
problematischen Entwicklung nur den Regulationsaspekt heraus, zeigt sich als
auffälliges Merkmal, dass Marktraum und Aufsichtsraum eklatant
auseinanderklaffen.
Zu Beginn
dieses Jahres hat die Deutsche Bundesbank (mit nahezu 12.000 Mitarbeitern) im
Auftrag der Bafin, der Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungen (mit rund 1700 Mitarbeitern), und in Kooperation mit der
irischen Bankenaufsicht die HRE-Gruppe geprüft, allerdings keine
Auffälligkeiten feststellen können. Offensichtlich wurde die extreme
Problematik bei der Fristentransformation – der kurzfristigen am Geldmarkt
realisierten Finanzierung des Geschäfts und der Vergabe von langfristigen
Krediten – falsch eingeschätzt. Die mit der Lehman-Insolvenz vom 15. September
2008 abrupt einsetzende Austrocknung des Geldmarktes wurde bei den
Aufsichtsbehörden einfach nicht für möglich gehalten. Bei der HRE jedoch, so
war in der Presse zu lesen, war die Problematik des Liquiditätsmanagements
schon seit Sommer ein Thema.
Aus all dem
kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass erstens die zukünftige
Politik der EU-Kommission erheblich in Richtung Re-Regulation, das heißt
positiver Integration umsteuern muss, und zweitens Regulationsraum und
Marktraum wieder zusammenfallen müssen. Aufsichtsbehörden müssen einen
Informations- und Einschätzungsvorsprung vor den Beaufsichtigten haben,
ansonsten macht die Marktveranstaltung keinen Sinn.
In der Tat
kommt aus dem Europäischen Parlament heraus in diesen Tagen die Forderung nach
einer europäischen Aufsichtsbehörde für den Finanzsektor. Die
Regulationsbehörde könnte entweder bei der EZB angesiedelt sein oder, wie im
Falle der Bundesrepublik, aus einer unabhängigen Behörde wie der Bafin bestehen. Vieles spricht allerdings dafür, die
Finanzmarktaufsicht der EZB beizuordnen, da diese durch ihre sonstigen
Geschäfte auch den Interbankenmarkt überblickt. Der derzeitige Zustand, dass
die Bankenaufsicht mal bei den Zentralbanken, mal bei den Finanzministerien,
mal bei unabhängigen Institutionen liegt und das Ganze dann noch europäisch
dezentral, muss überwunden werden. Der Binnenmarktkommissar, der Ire McCreevy, dem auf den Gängen des Europäischen Parlaments
nachgesagt wird, er sei ein »deregulierungsfreudiger Ire« und »ferngesteuert
aus Dublin und London«, schlug jetzt bezeichnenderweise vor, dass bei
transnational tätigen Finanzkonzernen die nationalen Aufsichtskollegien mit den
Behörden der Gastländer kooperieren und sich abstimmen sollten. So schön
Dezentralität auch ist, zu einer supranationalen Währungsunion und einem
supranationalen Binnenmarkt passt keine zersplitterte nationalstaatliche
Finanzaufsicht.(4)
Noch am
ehesten auf der Ebene der Finanzprodukte scheint die EU-Kommission den
heilsamen Schock der Finanzkrise umsetzen zu wollen. Bei der Einlagensicherung
wurde sie bereits aktiv, im Zusammenhang der Eigenkapitalrichtlinie sollen
Banken mehr Kapital vorhalten, damit im Falle einer Bankenpleite nicht andere
Banken mitgerissen werden. Auch soll es bei Geschäften mit Verbriefungen
(Zertifikaten) zu einem größeren Selbstbehalt kommen, damit Risiken
verantwortungsvoller abgeschätzt werden. Auch die Auslagerung von Risiken in
Zweckgesellschaften muss in einer neuen transparenten Finanzmarktordnung
überwunden werden. Streit gibt es zwischen Kommission und EU-Parlament, das
insgesamt sehr viel weiter in der Regulation gehen will, in Hinblick auf Hedge Fonds und Privat-Equity-Gesellschaften. Dieses
weitgehend unregulierte »Schattenbankensystem«, so ist aus dem EU-Parlament zu
hören, müsse, wenn schon nicht verboten, dann doch unter rigide Aufsicht
gestellt werden.
Was das
Verhältnis von Binnenmarkt und Weltmarkt angeht, raunte es bis vor nicht allzu
langer Zeit unisono, wenn es um die Regulation der internationalen Finanzmärkte
ging, dass ein solches Anliegen angesichts der Macht und der Dynamik der
Finanzmärkte vollständig aussichtslos und träumerisch weltfremd sei. Diese
Legende korrigiert sich angesichts eines zerfallenden Finanz-Weltmarktes gerade
selbst. Stattdessen wird in diesen Tagen an einer zweiten Legende gebastelt.
Sie lautet: Nur in Übereinstimmung mit den USA könne Europa eine neue globale
Finanzarchitektur konstruieren. Auch hierbei handelt es sich um eine Legende,
und die Behauptung, die Finanzregulation könne nur international sein, sollte bei
den anstehenden internationalen Konferenzen für Europa nicht handlungsleitend
werden. Wie bei den Gütermärkten und den GATT-Verhandlungen sollte das Primat
des eigenen Regulationsraumes gelten.
Vom Volumen
her ist der europäische Finanzmarkt heutzutage dem US-Markt fast ebenbürtig. In
der Zwischenzeit ist er – trotz aller noch existierenden Zersplitterung – auch
so integriert, dass bei den Bemühungen um Re-Regulation auf der Institutionen-
wie auf der Produktebene zunächst auf den europäischen Standard gesetzt werden
sollte und danach erst auf die Kompatibilität mit Vorstellungen aus der
globalen Finanzwelt. Der europäische Finanzmarkt wurde in den vergangenen zwei
Jahrzehnten nach dem Muster des angelsächsischen Modells geformt. Die jetzt
anstehenden Korrekturen sollten zu einem europäischen Modell führen, das dann
seinerseits in den internationalen Konferenzen zum Maßstab genommen werden
kann.
Das könnte
mit der Neuausrichtung der Politik der Kommission in Richtung Re-Regulation und
europäischer Standardsetzung zum Beispiel bedeuten, dass die auf eigenem
Territorium liegenden Steueroasen und Offshore-Finanzzentren (einschließlich
Irlands und Luxemburgs) trocken gelegt werden, dass nicht jede
Finanzinnovation, so viel Dynamik und Flexibilität sie auch bringt, auf dem
europäischen Markt zugelassen wird und dass in sehr viel höherem Maße als in
der Vergangenheit an kontinentalen Traditionen im Finanzgewerbe angeknüpft
wird.(5)
Die
»Opfergabe« Deutschlands für die nationale Einheit war zu Beginn der
Neunzigerjahre die Bereitschaft zur Herstellung der europäischen Währungsunion.
Die alte rheinisch-mainische Republik konnte nur
unter Hergabe der D-Mark in die Berliner Republik überführt werden. Schon in
jene Zeit fallen die französischen Forderungen nach einer europäischen
Wirtschaftsregierung (vgl. Busch 2008, S. 25 ff.). Alle damaligen Bemühungen
Frankreichs, im Maastrichter Vertrag der Währungsunion eine Wirtschaftsunion
zur Seite zu stellen, blieben indes erfolglos. Aus deutscher Perspektive hatte
das Modell einer EZB und einer Währungsunion ohne wirtschaftliche (und
politische) Einrahmung durchaus seinen Reiz: Wenn schon die D-Mark gegen die
nationale Einheit »eingetauscht« werden musste, war auf europäischer Ebene eine
in jeder Hinsicht isolierte EZB von großer Attraktivität. In den Verträgen
konnte zwar die Unabhängigkeit der EZB vertraglich fixiert werden, bei einem
institutionellen Zentrum im Rahmen einer Wirtschaftsunion hätte aber durchaus
ein potentielles Gegengewicht gegen das monetäre Zentrum bestanden. Eine
Währungsunion und eine EZB, schwebend in einem wirtschaftspolitischen und
politischen Vakuum, sichert die Unabhängigkeit der EZB auf eine ganz wundersame
Weise ab, denn es stellt sich nicht einmal die Frage, von wem eine solche EZB
abhängig sein sollte, da sie wirtschaftspolitisch im engeren Sinn gesehen die
einzige supranationale europäische Institution ist.(6)
Einige
Jahre nach der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages wurde es beiden
Seiten, Deutschland und Frankreich, dann doch etwas mulmig, und es kam zu
Nachverhandlungen. 1997 beschloss der Europäische Rat schließlich zwei
wirtschaftspolitische Maßnahmen: den Stabilitätspakt(7) und die
Einrichtung der Euro-Gruppe, der Pakt folgte Überlegungen der Deutschen,
die Euro-Gruppe solchen der Franzosen. Beiden Gründungen war der Charakter des
Formelkompromisses mehr als anzumerken. Bezogen auf die Euro-Gruppe sorgten die
Deutschen dafür, die Einrichtung so schwach wie möglich zu halten: die
Finanzminister der Eurozone treffen sich nur im informellen Rahmen (einen Tag
vor dem Ecofin), die Einrichtung hat nur
Gruppencharakter, sie hat kein eigenes Sekretariat, der Währungsausschuss der
Kommission bereitet die Sitzungen vor. Überflüssig zu erwähnen, dass die
Euro-Gruppe über keine Entscheidungskompetenz verfügt. Umgekehrt sorgten die
Franzosen dafür, dass aus dem Stabilitätspakt ein aberwitziger Papiertiger
wurde.
Im Rahmen
des Verfassungskonvents kam es zu einer minimalen Aufwertung der Euro-Gruppe.
Sie sollte in einem Protokoll zum Vertrag angesprochen, ihr Vorsitzender für
zwei Jahre gewählt und ein Euro-Ecofin-Rat
eingerichtet werden. Im Verfassungsvertrag wurde die Euro-Gruppe schließlich in
Artikel III-195 und in einem Protokoll erwähnt. Der Lissabonner Vertrag hat dies
wortgleich übernommen (Artikel 137 und Protokoll Nr. 14).(8) – In der
Finanzkrise hat die Euro-Gruppe, wie gleich zu sehen sein wird, eine ganz
unverhoffte Aktualität bekommen.
Heraufziehende
Wirtschaftskrisen sehen sich zunächst einem Zeitproblem konfrontiert.
Rechtzeitiges Handeln kann möglicherweise spiralförmigen Abwärtsbewegungen
vorbeugen, ist ein »point of no return« erreicht,
verpuffen alle Maßnahmen.
Mit Blick
auf Deutschland zeigt sich, dass spätestens seit Sommer 2007 akuter
Handlungsbedarf vorlag. Selbst als eigene Banken (eine private, drei
öffentliche) in Schieflagen gerieten, rührte sich nichts. Stattdessen gefiel
man sich mehr in dem Räsonnement über das Verhalten der »Staatsbanker« der
zunächst in die Schieflage gerutschten Landesbanken. Das Konjunkturprogramm in
den USA vom Februar 2008 erfreute sich dann der üblichen Häme (»Strohfeuer«,
»verpufft« usw.). Sinniert wurde wirtschaftsgeschichtlich darüber, dass alle
Probleme auf den ehemaligen Chef der US-Notenbank Greenspan und seine ungezügelte
Geldpolitik usw. zurückgingen.(9)
Offensichtlich
fehlte es in Deutschland an den einschlägigen Stellen an dem notwendigen
Sachverstand, um internationale Wirtschaftsbeziehungen adäquat einschätzen zu
können. Während in den Sonntagsreden über die Globalisierung stets über die
grenzüberschreitenden Wirkungen von wirtschaftspolitischen Vorgängen
reflektiert wurde, tat man bei der heraufziehenden Finanzkrise so, als könne
man sich auf ein Eiland zurückziehen und die Welt gemächlich von außen
beobachten. Unmittelbar nach Bekanntgabe des 700-Milliarden-Dollar-Programms in
den USA Mitte September gab es – man möchte es im Nachhinein kaum glauben –
folgende »Expertenkommentare« aus der neoliberalen Klippschule in Deutschland:
– »Für uns
gibt es in den Verantwortlichkeiten und in den Auswirkungen Unterschiede,
sodass aus Sicht der Bundesregierung eine solche Maßnahme, wie sie die USA
jetzt getroffen haben, nicht notwendig ist.« (Regierungssprecher Wilhelm)
– »Jeder
kehrt vor seiner Tür und sauber ist das Stadtquartier.« (Wirtschaftsminister
Glos)
–
»Kurzfristig Geld ins Feuer zu werfen, das halte ich für den falschen Weg. Das
legt nur das Fundament für die nächste Krise in einigen Jahren.«
(CDU-Haushaltsexperte Meister)
Neben
dem Zeitproblem werfen Wirtschaftskrisen ein Koordinationsproblem auf.(10) In Europa wurde
nach der Lehman-Insolvenz munter unkoordiniert gehandelt. Der irische
Finanzminister verkündet am 30. September 2008 für die großen Banken eine
Staatsgarantie, in Großbritannien und Deutschland gab man sich empört, um dann
wenige Tage später das Gleiche zu tun. Großbritannien, neben Irland am
frühesten und massivsten von der Finanzkrise betroffen, begann schneller zu
reagieren.(11) Die französische Ratspräsidentschaft erkannte dann auch die
Zeichen der Zeit und versuchte in Windeseile, eine europäisch koordinierte
Politik auf den Weg zu bringen. Sie berief für den 4. Oktober einen Mini-Gipfel
mit den vier europäischen G-8-Ländern, dem Kommissionspräsidenten, dem
Vorsitzenden der Euro-Gruppe und – man höre und staune – dem EZB-Präsidenten
ein, der sich plötzlich in einem wirtschaftspolitischen Koordinationsgremium
fand.
Auf der
Tagesordnung des französischen Staatspräsidenten standen eine ganze Reihe
kurzfristiger – hier im Zentrum die Sicherung des Bankensystems – und
langfristiger – unter anderem eine Reform der internationalen
Bilanzierungsregeln, eine Kontrolle der Rating-Agenturen – Maßnahmen. Bei den
langfristigen Maßnahmen stieß er auf den Widerstand Großbritanniens, das eine
allzu starke Regulierung der Finanzmärkte weiter ablehnt, bei den kurzfristigen
Maßnahmen, dem Garantiefonds von 300 Milliarden Euro, baute die deutsche
Bundesregierung ihr striktes Nein auf, da man »nicht für andere zahlen« wolle.
Das Ergebnis wurde in einem 19-Punkte-Papier auf dem kleinsten möglichen Nenner
festgehalten.
Für den
weiteren Gang der europäischen Integration ist weniger dieses
Verhandlungsergebnis von Bedeutung als die Tatsache, dass in diesen Tagen mit
den Initiativen Sarkozys die Türen für eine wirtschaftspolitische
Fortentwicklung geöffnet wurden. Der Sache nach tagte nämlich an diesem
Wochenende und in den Gremien der darauf folgenden Woche der Prototyp einer
europäischen Wirtschaftsregierung, die auf zwei Ebenen zu agieren
versuchte: Zum einen ging es um den supranationalen europäischen
Sicherungsfonds für in Not geratene Banken und zum anderen um das ordnungspolitische
Grundmuster für eine Staatsintervention zugunsten des
Interbankenbereichs.
Argumente
für einen supranationalen Fonds gibt und gab es reichlich. Erstens: Die
»economies of scale« eines
solchen Fonds hätten dazu geführt, dass eine erheblich geringere Summe – sowohl
was den kassenwirksamen Teil angeht als auch, was den Bürgschaftsteil betrifft
– aufzubringen gewesen wäre, als sie jetzt bei der Addition der nationalen
Programme notwendig wurde. Ohnehin ist auffällig, dass die jetzt in Europa
gesammelten Summen eine exorbitante Größenordnung erreicht haben, jedenfalls
wenn man unterstellt, dass es sich im Kern um eine US-amerikanische Krise
handelt. Auch einzelne Länder, zum Beispiel Schweden, bringen doch sehr
beachtliche Summen auf. Zweitens: An den internationalen Finanzmärkten hätte
das europäische Fondsmodell mit Sicherheit eine größere Wirkung gezeigt, als
dies das nationalstaatliche Potpourri vermochte. Die Quittung für das
unkoordinierte Handeln kam dann auf den Währungsmärkten: Der Euro setzt die
schon vorher begonnene Talfahrt in rasantem Tempo fort.(12) Drittens: Kleinere
Länder sind gar nicht in der Lage, die entsprechenden Summen aufzubringen, die
große eigene Banken für die Rettung bräuchten. Das Beispiel der
niederländisch-belgischen Bank Fortis zeigt dies. Als dann am 6./7. Oktober die
Euro-Gruppe und der Ecofin tagten, wurde faktisch
auch eine supranationale Lösung verabredet: Es gab die Zusicherung, dass jede
europäische Großbank von systemischer Bedeutung, käme sie ins Trudeln,
gesichert würde.
Der zweite
Aspekt, auf den man sich nicht einigen konnte, betraf das ordnungspolitische Grundmuster
für die Staatsintervention. Das Muster, auf das sich die 15
Euro-Länder-Chefs am 12. Oktober einigten, bestand aus drei Teilen: Erstens,
Kreditgarantien (für den Interbankenhandel), zweitens, Kapitalfonds für
Bankenbeteiligungen, und drittens, einer Entschärfung der Bilanzregeln. Der
springende Punkt betrifft die Frage der Art und Weise der Bankenbeteiligung.
Während in einer Reihe von Ländern, allen voran Großbritannien,
Teilverstaatlichungen im Bankensektor stattgefunden haben, die es erlauben,
unmittelbar auf den Geld- bzw. Interbankenmarkt und weitere Dimensionen der
Geschäftspolitik zu wirken, hat die Bundesrepublik aus »ordnungspolitischen«
Bedenken wieder einmal auf Freiwilligkeit gesetzt und so für die fatale
Konstellation gesorgt, dass in der ersten Woche nach der Verabschiedung des
Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (FMStG) zunächst
keine Bank sich traute, Bedarf anzumelden, da dies für Reaktionen an der Börse
gesorgt hätte. Erneut wurde Zeit verplempert. Dann meldeten sich öffentliche
Institute, die privaten Banken warteten weiter zu und spielten auf Risiko.
Angestanden hätte eigentlich die Verabredung einer europäisch koordinierten
Maske, die Wettbewerbsverzerrungen vermeidet.
Das gleiche
Spiel setzte sich dann Ende Oktober fort, als es darum ging, auf europäischer
Ebene realwirtschaftliche Maßnahmen für die Krisenbekämpfung zu entwickeln. Auf
Sarkozys Vorschlag von europäischen Staatsfonds, die europäische
Industrieaktien – preislich mittlerweile Ausverkaufsware – aufkaufen sollten.
Auch hier reagierten die Deutschen wieder mit einem empörten Nein, obwohl keine
acht Wochen zuvor das Bundeskabinett das neue Außenwirtschaftsgesetz zum Schutz
deutscher Firmen vor ausländischen Investoren beschlossen hatte
(Genehmigungspflicht oberhalb einer 25-Prozent-Beteiligung) und gegen eine
europäische Koordination an und für sich nichts gesprochen hätte. Auch bei
diesem Vorschlag Sarkozys wäre es »lediglich« um die Verabredung eines
europäisch koordinierten Musters für solche Abwehrmaßnahmen gegangen.
Mit der
tatsächlichen Aufwertung der Euro-Gruppe zu einer Wirtschaftsregierung
entstünde ein rein exekutives Gremium, das weder über Kompetenzkompetenz
verfügte noch supranationalen Charakter trüge. Typologisch ließe sich die
Institution in etwa mit der »Doppelhut-Struktur« des EU-Außenministers
beziehungsweise dem Hohen Vertreter nach dem Lissabonner Vertrag vergleichen.
Um auf außenpolitischem Gebiet wenigstens gewisse Fortschritte zu erzielen,
wurde das Amt des Hohen Vertreters (vormals in dem Verfassungsvertrag:
»Außenminister«) zusammengeführt mit dem entsprechenden Kommissariat (deshalb
»Doppelhut«, weil einerseits supranational, andererseits intergouvernemental
verankert). Die Außenpolitik bleibt gleichwohl weiter Veto-Bereich, es handelt
sich also lediglich um eine minimale Integrationsverdichtung.
Ähnlich
könnte mit der aus der Euro-Gruppe geborenen Wirtschaftsregierung verfahren
werden. Die Euro-Gruppe mit ihrem Vorsitzenden – seit 2004 ist es der
Luxemburger Juncker, der übrigens in der aktuellen Finanzkrise eine durchaus
positive Rolle gespielt hat – wäre einerseits weiter im Ministerrat verankert,
andererseits wäre sie institutionell herausgehoben und könnte eigenständig
agieren. Letzteres würde an ihrem Grundcharakter einer intergouvernementalen
Institution nichts ändern. Das faktische Agieren der EU-Institutionen –
insbesondere des Ratsvorsitzenden, der Euro-Gruppe sowie des Ministerrats – im
bisherigen Krisenverlauf als Wirtschaftsregierung begründet die formalen
Aufgaben, wie bei allen Institutionen, eindeutig: erstens Gewinn von Zeit,
zweitens Optimierung der Koordination und drittens Überlegenheit des Wissens.
Den Gipfel der Euro-Staaten vom 12. Oktober 2008 kommentierte der Vorsitzende
der Euro-Gruppe Juncker so: »Wir haben keine Wirtschaftsregierung im
französischen Sinne, aber ich sehe keinen Unterschied zwischen dem, was
Frankreich wünscht, und dem, was wir machen.«
Das
Argument der Deutschen gegen die Wirtschaftsregierung ist kaninchenhaft:
Gefürchtet wird das institutionelle Gegengewicht gegen die EZB, obwohl der
Institution, jedenfalls zunächst – keinerlei Entscheidungsbefugnis zukäme. Im
Übrigen war die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank gegeben, obwohl ihr mit
der Bundesregierung beziehungsweise dem Finanzministerium ein Gegenspieler von
ganz anderem Kaliber gegenüberstand. Und: wenn die Anhängerschar der
Preisstabilität als zentralem wirtschaftspolitischem Ziel so überzeugt ist, was
spricht schon dagegen, die Sache in einem dialektischen Prozess in der
Auseinandersetzung mit einer anderen Institution zu schärfen? Die EZB wäre
durch einen solchen Dialog in der Vergangenheit vielleicht von mancher
zinspolitischen Torheit abgehalten worden.
Nicht ganz
auszuschließen ist, wie eingangs angedeutet, dass mit der sich aufbauenden
Wirtschaftskrise eine Jahrhundert-Krise entsteht, die in ihrer Tiefe und ihren
Folgen mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 und den politischen Umwälzungen
von 1989 vergleichbar ist. Das festgefahrene europäische Integrationsprojekt
wird dann davon nicht unberührt bleiben. Soweit sich das bisher ablesen lässt,
gibt es auf der Ebene der europäischen Akteure eine klare
Gewinner-Verlierer-Konstellation. Zu den sehr gut erkennbaren Verlierern
gehören die EU-Kommission und die Bundesregierung, zu den ebenso eindeutigen
Gewinnern gehören die französische Ratspräsidentschaft und das Europäische
Parlament. Die EZB liegt auf der Gewinner-Verlierer-Skala in der neutralen
Zone.
In all
ihrem marktradikalen Überschwang der negativen Integration zur Herstellung des
Binnenmarktes und dem reibungslosen Funktionieren des Wettbewerbs geriet der Kommission
völlig aus dem Kopf, dass Märkte nur funktionieren, wenn über ihnen der
Regulationsmechanismus funktioniert. Bei Regulierungen – nicht nur auf dem
Finanzsektor, da aber ganz besonders – war in den vergangenen zwei Jahrzehnten
weit und breit wenig an Aktivitäten der Kommission zu sehen.
Die
Kommission hat das legislative Initiativrecht (»Motor der Integration«), und
sie hat die Pflicht, für das Funktionieren des Binnenmarktes zu sorgen
(»Hüterin der Verträge«). Der dafür zuständige Kommissar hat sich in der
Vergangenheit auf allen Regulationsebenen des Finanzmarktes – auf der Produkt-
wie auf der Institutionenebene – von den neoliberalen Sirenengesängen verführen
lassen. Auch beim Krisenmanagement der Gegenwart war jenseits der französischen
Ratspräsidentschaft von der Kommission lange nicht viel zu hören, dann ist sie
in blinden Aktionismus gefallen.
Im
Zusammenhang mit dem nationalen Bankenrettungsprogramm, das nicht nur
Bürgschaften, sondern auch kassenwirksame Teile enthält, hat sich die
Bundesregierung rasch von ihrem Plan verabschiedet, bis 2011 keine Schulden
mehr zu machen. Das zeigt die ganze Fragwürdigkeit solcher Stabilitätspakte,
finanzpolitischer Selbstverpflichtungen und so weiter. Wenn es hart auf hart
kommt, werden sie aus dem Verkehr gezogen, für den normalen Gang der Dinge sind
sie bestenfalls überflüssig, da es im politischen System reichlich eingebaute
Mechanismen der Selbstkorrektur gibt. Ähnlich ist es dem europäischen
Stabilitätspakt ergangen. Die Kommission in Gestalt ihres Währungskommissars
Joaquín Almunia hat nach der Verkündigung der
nationalen Bankenhilfsprogramme schnell »konzediert«, dass die
Drei-Prozent-Defizit-Grenze des Stabilitätspakts überschritten werden könne.
Nach ihrem Verständnis handele es sich bei der Finanzkrise und den
Interventionen um ein »außergewöhnliches Ereignis«, das ein vorübergehendes
Überschreiten der Grenze toleriere. Die sonst sehr bissig die
EU-Wettbewerbsregeln verteidigende Kommissarin Neelie
Kroes ließ angesichts der nationalen Beschlüsse zur
Rettung des jeweiligen Finanzsystems die reine Lehre reine Lehre sein und
sicherte eine »flexible« Handhabung der EU-Beihilferegeln an.
Staatshilfen und Staatsgarantien wurden durchgewunken.
Der andere
große Verlierer des bisherigen Krisenverlaufs ist die deutsche Bundesregierung.
Es bedarf nun tatsächlich keiner aufwändigen Google-Recherchen, um sich in
Erinnerung zu rufen, dass diese Bundesregierung – wie auch ihre Vorgängerin –
zu den innigsten Befürwortern der Deregulierung der Finanzmärkte gehörte. Sehr
langjährige und sehr fatale Fehleinschätzungen prägten also das Bild in
der Vergangenheit. Als sich die Krisenprozesse manifestierten, zog man nicht
die Bremsen, sondern streute Verharmlosungen bis weit in das Jahr 2008.
Es handele sich bei der Finanzkrise um ein amerikanisches Phänomen, die
deutsche Wirtschaft sei gut aufgestellt und so weiter.
Noch wenige
Tage vor den dramatischen Zuspitzungen Ende September verkündete der
Bundesfinanzminister in einer Regierungserklärung im Bundestag: »Deshalb und
weil die Verhältnisse bei uns anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich
ist, das die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in Europa nicht
sinnvoll und auch nicht notwendig.«
Die
Halbwertszeit dieser Einschätzung betrug kaum zwei Wochen.
Bei den
ersten Zuspitzungen war die Bundesregierung der Getriebene, die
Bankengarantien in Irland und Griechenland wurden verdammt, wenige Tage später
wurde den deutschen Sparern das Gleiche versprochen. Dann breitete sich Konfusion
aus, weil man nicht genau wusste, welche Summen man da bei der bizarren
Pressekonferenz absicherte. Der Plan B machte die Runde, obwohl es ihn nicht
gab. Bei dem Management der HRE-Krise ließ man sich von deren Managern hinters
Licht führen. Als dann das FMStG mit der gravierenden
Fehlkonstruktion der Freiwilligkeit verabschiedet war, zeigte sich, dass die
größte deutsche Privatbank sich höhnisch davon absetzte. Auf europäischer Ebene
war zunächst deutsche Hilflosigkeit zu registrieren, geflissentlich
folgte man dem Kurs der französischen Ratspräsidentschaft. Bald aber schon
erwachten die alten Instinkte, und man begann Blockadefronten
aufzutürmen. Zunächst auf dem Mini-Gipfel und später bei der Ausarbeitung des
Interventionsmusters durch die Euro-Gruppe beziehungsweise den Ecofin, als man den Sicherungs-Fonds und gemeinsame Regeln
torpedierte. Schließlich wurden die Reihen enger geschlossen, als es um die
Wirtschaftsregierung, europäische Staatsfonds und Konjunkturprogramme ging.
Unfreundliche Ablehnungen der europäischen Initiativen waren die
Handlungsmaximen.
Nun zu
den Gewinnern. Selbst die erbarmungslosen Kritiker politischer Eitelkeiten und die
größten Frankophobiker Europas kommen nicht umhin,
das Vorgehen der französischen Ratspräsidentschaft zu würdigen. Als die
Deutschen nach der Verkündung des US-amerikanischen Rettungspakets noch
selbstgefällig verharmlosten und abwiegelten, ergriff Frankreich die Initiative
und formte – gegen die deutschen Blockaden – so etwas wie eine europäische
Krisenstrategie. Dass es dabei des Bündnisses mit den der Staatsintervention
nicht unbedingt verdächtigen Briten bedurfte, um die deutschen Verhinderer zur Seite zu bewegen, spricht nicht für
Letztere. Die französische Ratspräsidentschaft stellte jeweils die richtigen
Fragen (europäischer Sicherungsfonds, Interventionsmuster,
Wirtschaftsregierung, Staatsfonds, europäisches Konjunkturprogramm), konnte
aber nur minimale Ergebnisse einfahren.
Der zweite
Gewinner ist das Europäische Parlament. Es gibt Anzeichen dafür, dass
die ersten Reaktionen aus dem EP in Hinblick auf seinen Gegenspieler, die
Kommission, geeignet sind, das nach wie vor bestehende Demokratiedefizit und
damit das eigene Schattendasein zu überwinden. Die Parlamentarier haben
Oberwasser gewonnen gegen die beiden neoliberalen Speerspitzen der Kommission,
die Kommissare für den Binnenmarkt und den Wettbewerb. Die Chance liegt dabei
in dem fruchtbarsten Ansatz, den das Parlament zu bieten hat, der ganz
originären Mischung aus politischen Grundrichtungen und nationalstaatlicher
Herkunft, welche die jeweiligen Bindungen (an Parteien und Herkunftsstaaten)
lockert und eine Versachlichung in der politischen Auseinandersetzung
befördert. Fraktionsübergreifend wird etwa der bisherige und offensichtlich
noch weiter bestehende Deregulierungskurs des irischen Binnenmarktkommissars
kritisiert. Und es werden Modelle einer bei der EZB angesiedelten europaweiten
Bankenaufsicht entwickelt, die in Zusammenhang mit der institutionellen
Weiterentwicklung der Euro-Gruppe zu einer Wirtschaftsregierung gestellt
werden.
In der
neutralen Zone findet sich die EZB. Die Abstriche beziehen sich auf die
absurde Zinsentscheidung vom 4. Juli 2008, als in unsäglicher Verblendung noch
die Inflation bekämpft werden sollte, obwohl schon längst das Haus brannte und
es darum ging, Dämme gegen die Vorläufer der Deflation zu errichten. Im
weiteren Verlauf hätten zwar die Zinsen rascher gesenkt werden können, bei der
Liquiditätsversorgung für den Interbankenmarkt öffnete die EZB aber die
Schleusen, freilich ohne die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Besonders
anzurechnen ist der EZB aber, dass sie im Ernstfall die verbriefte
Unabhängigkeit nicht so nimmt, wie es ihr von der einschlägigen Priesterschaft
vorgesummt wird. Bei den ersten Währungskrisen (Ungarn und Dänemark) hat sie
wie ein Währungsfonds agiert und Kredite vergeben, und bei dem Treffen des
»Mini-Gipfels« ließ sie sich einbinden in so etwas Ähnliches wie eine
wirtschaftspolitische Gesamtstrategie.(13)
Was
lässt sich aus diesen ersten Wochen der Finanzkrise für die Zukunft der europäischen
Integration ableiten? Einige langjährige Begleiter des europäischen Projekts
scheinen in jüngerer Zeit angesichts der Implementierungsschwierigkeiten für
den Verfassungsvertrag beziehungsweise Vertrag von Lissabon die Nerven zu
verlieren. Sie wollen aus dem elitären Europaprojekt durch allerlei wundersame
Vorschläge eine Volksangelegenheit machen (»europaweites Referendum«,
Habermas 2008, S. 125) und über eine endlich einzuberaumende
Diskussion um die Finalität des Projekts Integrationsfortschritte
erzielen (ebd., S. 100).(14) Der Konvent zur Ausarbeitung des
Verfassungsvertrages widerstand diesen Versuchungen aus guten Gründen.
Die Krisen
der vergangenen und der nächsten Monate – die Finanz-, die Währungs- und die
wohl anstehende Wirtschaftskrise – werden verdeutlichen, dass es keine
Notwendigkeiten dafür gibt. Die zugegebenermaßen in der Europaliteratur
zuweilen in ihrer Bedeutung etwas überhöhte »Methode Monet« – konkrete
Fortschritte entlang der deutsch-französischen Achse erzielen – wird sich denn
auch jetzt bestätigen. Überdies haben die letzten Wochen eine Antwort auf die
mit der »abgestuften Integration« und dem »Kerneuropa« verbundenen Fragen
angedeutet: »Wie kommt der Kern zustande und wie verhält er sich zu den
bestehenden Institutionen der EU?« (Schmierer 2008, S. 26)
Die Antwort
auf die beiden Fragen lautet: Der Kern kristallisiert sich um die praktischen
Probleme und ist dort zu suchen, wo die meisten Überschneidungen und
Verdichtungen der europäischen Integration liegen, nämlich in der Euro-Gruppe.
Die bestehenden Institutionen – insbesondere Kommission und Parlament – werden
sich am Ende dieser Krise in einer anderen Balance befinden, jede für sich und
untereinander.
Folgendes
könnte passieren:
1. Es wird
einen Zulauf zur Währungsunion geben, aus Nordeuropa, aus Osteuropa sowieso und
möglicherweise auch aus Großbritannien. Um die Warteschleifen nicht
ungebührlich zu verstopfen, sollte ein pragmatisches Beitrittsprocedere
gefunden werden.
2. Wenn die
Deutschen ihre absurden Vorbehalte gegenüber einer europäischen
Wirtschaftsregierung nicht bis zur Verstocktheit treiben, dann wird es
Verdichtungen in Richtung einer Wirtschaftsunion geben.
3. Die
Kommission, will sie denn im europäischen Institutionengefüge weiter ihren
Platz haben, wird sich in Richtung des Regulationsgedankens fortbewegen müssen.
Die zaghaften Veränderungen in Richtung des Sozialen, wie sie nach den
Volksabstimmungen in Frankreich, den Niederlanden und Irland zu verzeichnen
waren, muss sie jetzt deutlich verstärken.
4. Den Iren
schließlich, die der EU ihren Aufstieg an die Spitze der europäischen
Wohlstandsskala zu verdanken haben, wird nach und nach dämmern, was für ein
Unfug ihnen da im Sommer unterlaufen ist. Dass »ihr« Kommissar dann noch als
der Blamierte der Finanzmarktkrise dasteht, sollte ein Übriges tun.
Damit die
hier angedeuteten Schritte eingeleitet werden können, bedarf es »nur« der
Rückbesinnung auf Schumans Rede vom 8. Mai 1950. Die
deutsch-französische Achse kann das europäische Projekt weiter vorantreiben,
und kleine Stufen in Richtung der Herstellung einer Wirtschaftsunion sind
anzugehen (vgl. dazu auch Collignon 2007, S. 134 ff.).
1
Zu den politischen Skurrilitäten Europas
gehört dies: Bei seinem Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft war
Irland das Armenhaus Westeuropas. Eine Generation später gehört es aufgrund
europäischer Fördermaßnahmen zu den fünf reichsten Staaten der Welt. Bei rund
vier Millionen Einwohnern hat knapp die Hälfte bei dem Vertrags-Referendum abgestimmt,
wiederum eine knappe Hälfte hat mit Nein gestimmt. Das sind – nicht einmal eine
Million Wähler.
2
Erste euphorische politische und
wirtschaftliche Pläne zu Sofortvereinigungen Ende der Vierzigerjahre verliefen
sich, ebenso wie der EVG-Vertrag 1954 in der französischen Nationalversammlung
scheiterte.
3
Das EWS II, mit der Einführung der
Währungsunion geschaffen, verdient nicht einmal den Namen Wechselkursordnung,
da es die Verteidigung des Wechselkurses – vorgesehen sind eine enge und eine
weite Marge – ausschließlich der Satelliten-Währung aufbürdet. Gedacht war das
EWS II als Kriterium für Staaten, die dem Euro-Gebiet beitreten wollen. Es
dürfte die gegenwärtigen Turbulenzen kaum überleben. Interessanter aber noch
ist, in welche neue Rolle die EZB bei der Krise um die dänische Krone getreten
ist; weiter unter wird dieser Faden wieder aufgenommen.
4
Nach dem Desaster der privaten
US-Rating-Agenturen nimmt es nicht Wunder, dass in Europa über eigene Agenturen
nachgedacht wird, wobei auch eine öffentliche Trägerschaft, mindestens aber
eine öffentliche Kontrolle erwogen wird.
5
Die deutschen Sparkassen und
Genossenschaftsbanken haben sich in der Vergangenheit so manchen Angriffen der
Kommission ausgesetzt gesehen. Den dortigen Vertretern der »reinen Lehre« hat
letztlich das öffentliche Bankenwesen in Deutschland insgesamt nicht in das
Konzept gepasst. Vor noch nicht allzu langer Zeit galt der öffentliche
Bankensektor als hoffnungslos unmodern – im Gegensatz zu den modernen
Investmentbanken –, musste seinen Namen (Sparkasse) verteidigen, sah sich dem
Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung ausgesetzt und wurde mit dem Wegfall der
Gewährträgerhaftung – das war die bis 2005 geltende staatliche Haftung für die
öffentlichen Institute – erst auf die Schiene gesetzt, die in das Finanzkasino
führte.
6
Für die Konstruktion einer Währungsunion ohne
Wirtschaftsunion vgl. Polster 2002, S. 370 ff. Der Wissenschaftliche Beirat
beim Bundesministerium für Wirtschaft hatte in einem Gutachten das Modell einer
Zentralisierung der Geldpolitik bei dezentraler Wirtschaftspolitik geradezu als
Idealmodell empfohlen (vgl. ebd. S. 392 ff.).
7
Eigentlich lautet der Titel auf »Stabilitäts-
und Wachstumspakt«. Das Wachstumselement ist aber reine Etikette, gewissermaßen
ein verbales »Zugeständnis« an Frankreich. Für eine kritische Darstellung vgl.
Polster 2004.
8
Der Artikel 137 des Lissabonner Vertrages
lautet: »Die Einzelheiten für die Tagungen der Minister der Mitgliedstaaten,
deren Währung der Euro ist, sind in dem Protokoll betreffend der Euro-Gruppe
festgelegt.« Lapidarer kann die Bedeutungslosigkeit einer Institution nicht
dokumentiert werden. Erhebender sind die Formulierungen im beigefügten
Protokoll auch nicht.
9
Inzwischen hat Greenspan auf die Kritik
reagiert: Auf den quantitätstheoretischen Unfug seiner deutschen Kritiker geht
er nicht ein, wohl aber auf seine Fehleinschätzungen in Hinblick auf die von
ihm zu verantwortenden Deregulierungen im Finanzsektor.
10
Das markttheoretische Argument gegen die
Staatsintervention, dass diese die Fehlallokation verdecke und damit verhindert
werde, welche Bank im Entdeckungsverfahren »Wettbewerb« ausscheiden müsse,
wurde noch weit bis in den Oktober hinein in Deutschland hin- und herbewegt. In
der europäischen Politik wurde dies offensichtlich nicht ernsthaft in Erwägung
gezogen.
11
Der Aufstieg des britischen Premiers zum
Krisenmanager wurde in britischen Zeitungen wie folgt kommentiert: »Wenn die
Wahl kommt, könnte die Tatsache, dass Brown die Finanz-Institutionen gerettet
haben mag, weniger zählen als der mächtige Vorwurf – den die
Oppositionsparteien gestern schon erhoben – dass er der Mann ist, der den
Banken überhaupt erst erlaubte, die Klippen anzusteuern.«
12
Es wurde mancherorts spekuliert, warum Lehman
Brothers, die, wie sich kurz nach dem Bankrott herausgestellt hat, durchaus
eine »systemrelevante Bank« (»too big
to fail«) war, fallen gelassen wurde. Meist wurde es
neoliberal gedeutet: man müsse ein Exempel statuieren, damit für Banken das
Geschäftsrisiko der zentrale Faktor bleibe. Vielleicht braucht man aber eine
politische Deutung: Die US-Amerikaner haben diese Bank über die Klinge springen
lassen, damit der Attentismus der Europäer aufgegeben würde.
13
Sorgen muss man sich in diesem Zusammenhang
aber um die politische Führung Deutschlands und ihre Redenschreiber machen. In
der Regierungserklärung vom 7. Oktober führt die Kanzlerin aus: »Wir haben ...
im akuten Krisenmanagement am Samstag ein Treffen der europäischen Mitglieder
der G-8-Gruppe mit dem EZB-Präsidenten und Jean-Claude Juncker gehabt. Wir
haben dabei die Übereinstimmung gefunden, dass die Europäische Zentralbank
Liquidität in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Das ist in diesen Zeiten
ausgesprochen wichtig.« Vielleicht zeigen sich hier die ersten Anzeichen, dass
die Gespensterkämpfe um die Unabhängigkeit der EZB zu Ende gehen. Jedenfalls
funktionieren die üblichen Gebetsmühlen im Hinblick auf die Unabhängigkeit der
europäischen Notenbank nicht mehr so wie früher.
14
Habermas: »Mein Optimismus im Hinblick auf
eine Annahme eines solchen Referendums stützt sich unter anderem darauf, dass
dieselben Parteien, die in der Regierung oder mit dem Blick auf eine zukünftige
Regierungsteilnahme vorsichtig operieren, mit offenem Visier kämpfen müssten,
sobald die Frage der Zukunft Europas nicht mehr in den Kabinetten, sondern auf
den Marktplätzen entschieden würde.« (2008, S. 125) Schon die Vorstellung einer
Diskussion in einem Konvent über die Finalität Europas führt zu
Schwindelgefühlen, sich das Ganze in Gestalt eines Massenpalavers »auf den
Marktplätzen« vorzustellen, übersteigt nun jedes Vorstellungsvermögen. Im
Übrigen unterschätzt der Gedanke die latenten und offenen Potenziale der
Europa-Feindlichkeit in allen EU-Staaten – Euro-Barometer hin oder her.
Literatur
Busch, Berthold (2008): Zur
Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Grundlagen, Entwicklung und
Perspektiven, Köln
Collignon, Stefan (2007): Bundesrepublik
Europa. Die demokratische Herausforderung und Europas Krise, Berlin
Das Parlament
2008, Nr. 40/41 und Nr. 42
Habermas, Jürgen (2008): Ach Europa. Kleine
politische Schriften XI, Frankfurt am Main
Polster, Werner (2002): Europäische
Währungsintegration. Von der Zahlungsunion zur Währungsunion, Marburg
Polster, Werner: »Kontroverse um den
Stabilitätspakt. Die Zukunft der europäischen Wirtschaftsintegration«, in: Kommune
Nr. 2/2004
Schmierer, Joscha: »Eliteprojekt – tief im
Alltag verankert. Die Europäische Union in der ›Verfassungs-Falle‹«, in: Kommune
Nr. 4/2008
Schwarz, Jürgen (Hrsg.) (1980): Der Aufbau
Europas. Pläne und Dokumente 1945–1980, Bonn