Balduin Winter

editorial

Die Uhr läuft. In den Medien wird noch erörtert, ob Barrack Obama »auf dem Wasser gehen kann« (Paul Kennedy in The Guardian), ob er ein »Sklave der Weißen« ist (al-Qaida-Vize al-Zawahiri), ob er wirklich allein kraft seiner Wahl »die moralische Leadership der USA wieder hergestellt« habe (Justin Vaisse in Le Monde) oder zu welchem sonstigen (vorwiegend) messianischen oder teuflischen Wirken er bereits in der Lage war, was ein nicht gerade US-zugewandtes Medium wie al-Jazeera zur Hymne veranlasst: »Er kann einer der außerordentlichsten Führer der USA werden.« (Peter Lohauß, Dick Howard, Michael Werz und Eike Hennig analysieren die Verhältnisse in diesem Heft.)

Intensiv gehen Obama und sein Team in die Vorbereitungen, um das quälend lange Interregnum bis zur Inauguration zu nutzen. Und sie werden sofort mit ganz anderen Maßstäben gemessen als die »lame duck«, die, so ein globaler Meinungschor, das Land heruntergebracht hat wie kein Präsident zuvor. Die Krise wartet nicht, sie erfordert einschneidende Maßnahmen, was Bush ignoriert oder was von seiner Administration blockiert wird. Doch ein neuer Ton kommt ins Spiel. Das erste Stichwort heißt »Detroit« und steht für den einzigen noch verbliebenen Industriesektor der USA. Es steht auch für die US-Umweltbehörde EPA, die sich trotz anders lautender Urteile weigert, Grenzwerte beim Treibhausgas-Ausstoß von Neuwagen festzulegen – die Standards haben sich seit Reagan verschlechtert. Es steht auch, noch wenig konturiert, für die Perspektive eines grundlegenden Umbaus der US-Wirtschaft. Detroit soll jetzt massive Subventionen erhalten, es stehen schließlich Hunderttausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel. In diesen Kampf hat Obama seine Klimaziele eingebracht: Reduktion der Treibhausgase bis 2020 auf den Stand von 1990. Diese Ziele sind Teil eines strategischen Wirtschaftsprogramms des Center for American Progress (CAP) seines »Stabchefs« John Podesta (»Progressive Growth«). Damit hat die Debatte einen deutlichen Dreh bekommen. Die Financial Times, deren Inhalt sich neuerdings wie ein von Keynes’ Erben redigiertes Magazin liest, tritt populistisch gegen die innovationsunfähigen Konzerne auf. Paul Krugman kommentiert, wer die Autoindustrie sterben lässt, müsse Zukunftspläne vorweisen. Hier geht es nicht um Taktikspielchen politischer Gegner, sondern um tiefe Existenzfragen. Ähnliches gilt auch für die Menschen, die zu Zehntausenden im hereinbrechenden Winter ihre Häuser und Wohnungen verlieren. Aber Entscheidungen müssten über den Moment hinausreichen, nicht wie beim gestern »geretteten« Versicherungsgiganten AIB, der heute schon wieder in allen Fugen kracht. Richtungsfragen also.

Keine Rede noch von klaren Linien. Die werden sich erst herausbilden. Aber die Auseinandersetzung läuft auf Touren, mit neuen Orientierungen, im Blickpunkt die hauptsächlich von der Krise Betroffenen: die um Arbeitsplatz und Existenz bangenden Menschen. Und mit neuen Perspektiven, die einen hierzulande leicht ins Grübeln kommen lassen, wie nun Standort- und Energiepolitik zusammengedacht werden können. Verwiesen wird öfter auf Bundesstaaten wie Kalifornien, New Mexico und Colorado – im letzteren will Gouverneur Ritter bis 2012 zwanzig Prozent des Energiemix aus Sonne und Wind gewinnen. Auch mit Schwarzenegger hat sich Obama bereits »verbündet«.

Die Uhr läuft, die Krise wartet nicht. Der Weltfinanzgipfel in Washington mag gefeiert werden wegen der Verschiebung von den G8 zu den G20. Man mag es zur »List der Geschichte« zählen, dass Bush beim Abendessen unter dem Gemälde Abraham Lincolns zwischen Ignacio Lula und Hu Jintao gesetzt wird und mag darin ein Symbol neuer Multipolarität sehen. Während sich hier der Elitenboulevard zufrieden zurücklehnt (FAZ: »Kein geringer Erfolg«), reicht Obama im »nach links gerückten Amerika« der »historische Moment« nicht aus. Vertreter der OAS und der AU müssten anwesend sein, und der großartige Titel »Bretton Woods II« müsse erst mit kooperativen Inhalten gefüllt werden, die die Menschen bis ins letzte Entwicklungsland spüren, verlautet es aus Präsidentenkreisen. Protektionismus ja – aber für die Bevölkerungen. Denn neue Pakete sollen geschnürt werden, was Kritiker bissig nachfragen lässt, wer die angesichts der katastrophalen Staatsfinanzen zahlen soll. Mit seinem Satz, Maßnahmen zur Wirtschaftsbelebung treffen zu wollen, »koste es, was es wolle«, handelte sich Obama den Vorwurf der »Nonchalance gegenüber dem Defizit« ein. Jedoch waren die Reaganomics und der Bushismus die Phasen größter Geldverschleuderung in der Geschichte der USA. Unter Reagan wurde immerhin, wenngleich in der Durchführung höchst fragwürdig, der Umbruch vom fordistischen zum informationellen Kapitalismus gestartet. Aber unter Bush?

Schon öfter haben demokratische Präsidenten den enormen Flurschaden ihrer republikanischen Vorgänger, die immer »Freunde der Wirtschaft« waren, reparieren müssen. Dass Wirtschaftsfreundlichkeit etwas ganz anderes sein kann als ökonomische Expertise, hat sich schon einmal, 1932/33, schmerzhaft erwiesen. Auch heute klingt noch in der schärfsten Kritik die Hoffnung mit, das Land möge unter der neuen Präsidentschaft wieder aus der Asche seiner Krisen auferstehen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 6/2008