Die Zukunft der Vergangenheit – Israel in Palästina

 

Dagmar Barnouw

 

Hannah Arendt und ihr politischer Mentor, Judah L. Magnes, Kanzler und Präsident der Hebrew University in Jerusalem, entwarfen seinerzeit ein Konzept jüdisch-arabischer Zusammenarbeit und kritisierten den politischen Zionismus. Unsere Autorin zeigt Grundlinien dieser Kritik auf, deretwegen sich Arendt den Vorwurf des „Antisemitismus“ einhandelte, weil sie „Emanzipation von der Vergangenheit“ forderte. Zu denken geben jedoch die Einwendungen der jüdischen Denkerin, sind doch ein halbes Jahrhundert später zahlreiche Prognosen eingetroffen – darunter die, dass die Zukunft eines Volkes nicht darin liegen kann, in ständiger Festungsmentalität zu leben.

 

Der fünfzigste Geburtstag ihres Staates am 14. Mai 1998 wurde von vielen Israelis kaum zur Kenntnis genommen; umso lauter waren die Klagen der Palästinenser über „die Katastrophe“ (al-Nakba) der Staatsgründung, Ausdruck ohnmächtiger Enttäuschung über die Unfriedenspolitik Israels. Im Zentrum dieser Politik stand und steht der alte explosive Konflikt zwischen der arabischen Insistenz auf Anwesenheit in Palästina und der jüdischen Verneinung dieses Anspruchs – ein Konflikt, der sich mit der Gründung des Staates Israel katastrophal verschärft hatte. Zur Einstimmung in die Jubiläumswoche gab es am 11. Mai im Flüchtlingslager von Balata Demonstrationen gegen „50 Jahre Besetzung“, jeder Tag brachte weitere Unruhen, die blutigsten am Donnerstag, und am Freitag flogen zum Abschluss die obligaten Steine über die westliche Mauer des Tempelbezirks und jagten die an der Klagemauer betenden Juden und die plötzlich nicht mehr unbeteiligten Touristen in die Flucht. Das fünf Jahre alte Osloer Übereinkommen der gegenseitigen Anerkennung eines jüdischen und palästinensischen Staates schien lange zurückzuliegen, nicht mehr wirklich zu sein, nicht mehr zu verwirklichen. Und aus dem Rückblick der sehr viel ernsteren, blutigeren Krise von 2002 erscheint dieser Versuch der Beilegung von Jahrzehnten bitterer Feindseligkeiten sowohl erstaunlich als auch von vornherein zum Scheitern verurteilt: So leicht, so schnell würde die Vergangenheit sich nicht zurückziehen, vor allem nicht auf jüdischer Seite. Der fotogene Händedruck auf dem Rasen des Weißen Hauses, der Bühne der Welt, war nicht spontan gewesen, sondern den israelischen Führern von ihrem alten Feind Arafat aufgezwungen, wie auch die Umarmung des strahlenden Präsidenten Bill Clinton, der wie immer die zukünftige Geschichte seiner Präsidentschaft im Auge hatte. Nach weiteren neun Jahren provokativer und oppressiver Strategien zur Befriedigung des utopischen israelischen Sicherheitsbedürfnisses, die den Teufelskreis der palästinensischen Menschenbomben und israelischen Invasionen in Gang setzten, ist die Last der Vergangenheit eher noch größer geworden, anstatt sich im Laufe der Zeit zu verringern.(1) Und die politischen Konsequenzen dieser machtvollen Gegenwart der Vergangenheit werden immer gefährlicher – für die Welt, nicht mehr nur für die Staaten des Nahen Osten. Die brutale koloniale Politik des neuen jüdischen Staates mit seinen jahrtausendealten, nicht zu hinterfragenden Ansprüchen auf eine von Gott verheißene und versicherte Anwesenheit in Palästina ist zu einem großen Teil verantwortlich für den wachsenden internationalen fundamentalistischen Terrorismus: Nichts irritiert mehr als Israels absolute militärische und ökonomische Rückendeckung durch die amerikanische Super-Technokratie, die wiederum den Anspruch der USA stützt, als alleinige Supermacht alle Machtfragen dieses Planeten moralisch-politisch zu regeln. Die Terroranschläge auf die Allegorien westlicher Hybris, das Pentagon und die Twin Towers, waren ein erschreckend wörtliches Beispiel der explosiven fundamentalistischen Symbiose von neu und alt: die Umfunktionierung des modernen Jet-Flugzeugs zum Instrument der Zerstörung durch den prämodernen, nichtsymbolischen Akt des Menschenopfers.

Analysen des von Israel erklärten „Krieges“ im Nahen Osten scheinen wenig interessiert an dieser Frage, obwohl der fundamentalistische Islam Israels Fixierung auf die Vergangenheit teilt, und damit die gefährliche Symbiose von Religion und Politik. Die sich daraus ergebenden politischen Probleme wurden vor über einem halben Jahrhundert vorhergesehen von Hannah Arendt, die später das Konzept der Natalität ins Zentrum ihrer politischen Philosophie stellen würde, und von Judah L. Magnes, der als erster Kanzler der Hebrew University in seiner Antrittsvorlesung 1925 bereits für arabisch-jüdische Versöhnung plädiert hatte. Beide waren tief besorgt über die Zukunft eines jüdischen Staates in Palästina, dessen Politik sich auf die göttliche Gabe des „Landes ohne Volk“ an das „Volk ohne Land“ stützen würde: Palästina als auf Dauer unanfechtbares Eigentum des erwählten Volkes. Sie fürchteten weiterhin, dass der Gründungsmythos des neuen Staates, die Naziverbrechen gegen das europäische Judentum, schwer wiegende politische Folgen haben würde. Der Anspruch auf die Einzigartigkeit und damit absolute Autorität jüdischen Leidens würde es dem jüdischen Staat de facto unmöglich machen, sich als eine Nation unter anderen zu sehen, mit denen sie eine unvorhersagbare Zukunft gegenseitiger Abhängigkeiten, Zugeständnisse und Verantwortlichkeiten zu teilen hätten – wofür schon die Zunahme des jüdischen Terrorismus zeugte, die sie 1946 mit Sorge beobachteten. Die beiden Grundpfeiler des „niemals vergessen“ und „niemals wieder“ würden dafür sorgen, dass diese neue politische Gründung für immer der ausschließlich jüdische Staat von 1948 bleiben wollte, und das in einer Periode rapider sozialer und politischer Veränderungen.

Im Frühling 2002 sollte dann ein israelischer Soldat an die Wand eines Hauses in Jenin schreiben „ich habe kein anderes Land,“ um sein gehasstes und gefürchtetes Eindringen in das Zuhause einer palästinensischen Familie zu rechtfertigen.(2) Wenn man sich die Realität von Israels militärischer und politischer Macht vor Augen führt, hinter der die Supermacht USA steht, ist diese Rechtfertigung irrational; wenn man aber an Israels vergangenheitsbezogenes, in die Zukunft transferiertes Sicherheitskonzept denkt, ist sie logisch. Wie Arendt und Magnes befürchtet hatten, würden mehrere Generationen der Bevölkerung des neuen Staates von der Staatsreligion des Holocaust geprägt werden(3), der kollektiven Erinnerung an extreme Verfolgung. Diese Identität würde die volle und fraglose Unterstützung der USA finden, im Gedenken an den heiligen Krieg gegen den Faschismus und im Bewusstsein des gemeinsamen heiligen Kampfes gegen Terrorismus. Schließlich verteidigt Israel in der Sicht fundamentalistischer Christen und liberaler Juden in Amerika „unsere Werte“ im Nahen Osten – dass und wie sich die Kulturpolitik in den USA dauernd und rapide verändert, scheint dabei niemanden zu kümmern.

 

Hannah Arendts Bedenken gegen die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, die sie in Aufsätzen 1945 bis 1948 entwickelte, sind heute so triftig, so brisant wie damals. Und so auch die Ideen des Mannes, von dessen Bemühungen um arabisch-jüdisches Verständnis sie sehr viel gelernt hatte, Judah L. Magnes, Kanzler (1925-1935) und späterer Präsident der Hebrew University in Jerusalem. Magnes hatte um die Jahrhundertwende an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums studiert und sich dabei zum Zionismus „bekehrt,“ wie er seiner erstaunten Familie in Kalifornien mitteilte. Dieses „Lebensprogramm“ bedeutete für ihn eine offene, selbstkritische Position in der jüdisch-arabischen Frage, die auch sein Konzept der Hebrew University beeinflussen würde: eine Institution, die Judaismus, Humanismus und Internationalismus repräsentieren und ein Forum für ungehinderten Gedankenaustausch sein sollte. In seinen Argumenten gegen einen exklusiv jüdischen zu Gunsten eines binationalen Staates in Palästina stützte sich Magnes auf Brit Shalom, eine Gruppe von zentral- und westeuropäischen Intellektuellen, die sich 1925 im Kampf für jüdisch-arabische Gleichberechtigung zusammengefunden hatten. Da ihre Ideen in den Augen vieler Zionisten politisch unrealistisch und vor allem nicht genügend nationalistisch waren, wurden sie nach den Unruhen von 1929 praktisch nicht mehr diskutiert, und nach der arabischen Revolte 1936 schien jede Hoffnung auf ein Rapprochement vergeblich. Magnes dagegen gründete noch 1942 die Partei Ihud (Einheit), um die Arbeit für eine arabisch-jüdische Verständigung und einen binationalen Staat weiterzuführen. In explosiven Fragen wie das von Gott verheißene Land in Palästina und die Bedeutung der jüdischen Diaspora für den modernen Judaismus war Magnes beeinflusst von dem geistig-kulturellen Zionismus Ahad Ha’Ams. Das Land Israel bedeutete in dieser Sicht das geistige, aber nicht das politische Zentrum des Judaismus, und die politische Befreiung des jüdischen Volkes setzte einen säkularen Lernprozess mit Hilfe politischer Institutionen eher voraus denn ein messianisches Ereignis. Magnes fand hier seine Neigung bestätigt, eher Fragen kultureller Nützlichkeit und Kompetenz zu stellen als auf der Erfüllung religiöser Verheißungen zu bestehen. Er fand hier auch Nahrung für seine Mahnungen, die Zukunft des jüdischen Volkes unter anderen Völkern zu bedenken, statt sich im Grübeln über eine einzigartige jüdische Vergangenheit zu isolieren.

 

Es war für Magnes sehr wichtig, dass die arabischen Demonstrationen gegen die Anwesenheit von Lord Balfour bei der Inaugurationsfeier der Hebrew University 1925 unblutig verlaufen waren. Er sah darin eine Zurückhaltung, die nicht so sehr der Anwesenheit von Regierungstruppen, schon gar nicht glücklichen Zufällen zuzuschreiben war, sondern der unter den Arabern wachsenden Überzeugung, dass Verständnis und Versöhnung zwischen Völkern sich nur auf der Basis der Abstinenz von Gewalttätigkeit entwickeln kann. Genau das schien seine Forderung nach der konkreten Beteiligung der ganzen Bevölkerung Palästinas an der Regierung ihres gemeinsamen „Homeland“ zu rechtfertigen. In seiner zu Unrecht vergessenen Schrift Like all the Nations? (1930) argumentierte Magnes, dass das Leben dieses „unglücklichen Landes“ „viel gesünder, viel weniger hysterisch“ sein werde, „je eher seine Bevölkerung ihre politischen Energien auf legitime, praktische und konstruktive Weise realisieren“ könnte. Es waren gerade die historischen Gründe für die Separatheit des jüdischen Volkes, die es Juden nahe legten, sich und ihre Geschichte in die säkulare Gemeinschaft anderer Völker einzupassen, statt sich auf eschatologische Verzweiflungen und Hoffnungen zurückzuziehen. Versöhnungen zwischen Völkern als Interessengruppen verlangten geduldiges Verhandeln zwischen unbegrenzten Ängsten und Wünschen, begrenzten Absicherungen und Erfüllungen. Solches Verhandeln wiederum setzte das Zusammentreffen beider Gruppen als politisch Handelnde und damit (in dieser Rolle) gleichberechtigte Erwachsene voraus. Gerade diesem Konzept einer politischen Kooperation verdankte Magnes (und dann Arendt) die Einsicht, dass weder ein jüdischer Staat noch ein binationaler Staat, noch ein Homeland sich in Palästina halten könnten, wenn alle Nachbarländer sich dagegen wehrten. Die Welt friedlich miteinander zu teilen, war für beide die Voraussetzung einer sinnvollen Existenz, am dauerndsten und sichersten durch von politischen Institutionen gestützte Zusammenarbeit. Die Antwort auf die Frage „Like all the Nations?“ war ein emphatisches „Ja“.

Ihuds politische Ziele wurden amerikanischen Lesern in Magnes’ Aufsatz „Towards Peace in Palestine“ vorgestellt, der im Januar 1943 in Foreign Affairs erschien. Im Gegensatz zu vielen amerikanischen Juden akzeptierte Arendt sie im Prinzip, hatte aber Vorbehalte gegenüber der von Buber und Ernst Simon befürworteten Idee einer arabischen Föderation unter dem Schutz einer anglo-amerikanischen Allianz. Aber in dem „Testimony before the Anglo-American Inquiry Commission for the Ihud (Union) Association“ vom August 1946 waren diese Ziele auf eine Weise formuliert, dass Arendt sie für ihre Kritik des politischen Zionismus nutzen konnte. In seinem Vorwort zu dem gedruckten Text des Testimony plädierte Magnes ausdrücklich für ein politisches Konzept jüdisch-arabischer Kooperation. Ökonomisch und sozial günstige Bedingungen müssten „geschaffen“ werden, wobei das Wichtigste die volle, sichtbare, gemeinsame Teilnahme an der Regierung sei. Würde Juden und Arabern nicht geholfen, als politisch Erwachsene zu handeln, dann hätte das den katastrophalen Anstieg von Gewalttätigkeiten zur Folge, und zwar auf beiden Seiten. Im Juli 1946 hatte Magnes seine Zuhörer in New York vor dem wachsenden jüdischen Terrorismus gewarnt und ihnen erklärt, dass für die Araber ein jüdischer Staat jüdische Herrschaft über die ganze Bevölkerung dieses Staates bedeutete. Wie immer bestand er darauf, Araber als Erwachsene zu sehen, nämlich sie an der politischen Regelung des Palästinaproblems zu beteiligen („A Solution through Force?“).

Seine Argumente fielen auf taube Ohren. Auf ihrem jährlichen Zusammentreffen in Atlantic City im Oktober 1944 hatten amerikanische Zionisten trotz politischer Differenzen einstimmig auf der Gründung eines freien und demokratischen „Jewish commonwealth“ bestanden, das Palästina als Ganzes umfassen sollte: „Which shall embrace the whole of Palestine, undivided and undiminished.“ Das schien Arendt ein Wendepunkt in der Geschichte des Zionismus. Ihre Kritik der zionistischen Politik in dem Aufsatz „Zionism Reconsidered“ war zu scharf für die Zeitschrift Commentary, der sie den Aufsatz Ende 1944 anbot (er erschien ein Jahr später im Menorah Journal). Er enthalte, wurde ihr gesagt, zu viele antisemitische Andeutungen – nicht etwa von ihr intendiert, aber von einem feindlichen Leser so zu verstehen. Arendts Verweis auf eine enge Zusammenarbeit zwischen „Revisionists“ und „General Zionists“ in dieser Krisen-Situation bedeutete für Commentary ein Argument, das ‚jüdischen Selbst-Hass‘ suggerieren und ‚vom Feind‘ dementsprechend ausgenützt werden könnte.

 

Arendt wusste natürlich, dass die zionistische Führung zu diesem Zeitpunkt unter ungeheurem Druck arbeitete. Trotzdem war jüdischer Nationalismus keine Antwort, vor allem nicht in seiner Abhängigkeit von einer so viel mächtigeren Nation, die jüdischer Kompromissbereitschaft kaum förderlich sein würde. Wie Magnes bestand sie auf der praktischen Notwendigkeit jüdischer Koexistenz zusammen mit Arabern und anderen Mittelmeervölkern. Darüber hinaus verwies sie auch auf den historischen Mechanismus des Antisemitismus in einer Situation verständlicher Ressentiments gegen Eingriffe der Großmächte, von deren Anwesenheit Juden dem Anschein nach profitierten und für deren Konsequenzen sie dann verantwortlich gemacht werden könnten. Dieses Argument war Commentary wahrscheinlich besonders unangenehm, weil es die jüdische Erfahrung im Bereich der mit anderen geteilten realen Geschichte und nicht einer besonderen Heilsgeschichte ansiedelte. Wie andere Völker auch, hatten Juden aktiv und passiv an den Geschicken anderer Gruppen teilgehabt, bestand ihre Geschichte aus Zufällen und (im Rückblick) richtigen und falschen Entscheidungen und konnte deshalb als Lernprozess einer besonneneren Reaktion auf die Situation in Palästina dienen.

In der zionistischen Politik dieser unruhigen Jahre vermisste Arendt vor allem eine nüchterne, detaillierte Analyse der Palästina-Frage, die über die jüdische Frage hinausging. Der in ihren Augen gefährlich apolitische Charakter des politischen Zionismus reichte zurück auf seine Quellen im 19. Jahrhundert: Sozialismus und Nationalismus. Sie hatten sich nie in der zionistischen Bewegung vereinigt, da diese gespalten war in die sozial-revolutionären Energien der osteuropäischen Massen und die national-emanzipatorischen Bestrebungen Herzls und seiner Anhänger. Ob nun Arendts erstmalige Unterscheidung hier zwischen sozialem und politischem Antisemitismus für ein Verständnis der Situation der ostjüdischen Massen nützlich war oder nicht: Sie war nützlich für ihren Versuch, die Entwicklung des weitgehend unrealistischen “politischen Glaubens” zionistischer Intellektueller zu analysieren. Da sie ihre nationalen Bestrebungen durch die Ansiedlung im verheißenen Land Palästina erfüllt sahen, war es sozialistischen Zionisten unmöglich, die Möglichkeit nationaler Konflikte mit anderen bereits hier angesiedelten Gruppen vorauszusehen; sie mussten hier einfach willkommen sein.

Die in vielem bewundernswerten Chaluz- und Kibbuzbewegungen hatten denn auch wenig politischen Einfluss, weil sie so einseitig auf das bereits existierende und das zukünftige Yishuv, das „Einsammeln“ des Verstreuten, orientiert waren. Da sie nicht versucht hatten, sich kritisch mit dem politischen Antisemitismus auseinander zu setzen, hatten sie trotz ihrer revolutionären Ideologie keine neuen Ideen zum arabisch-jüdischen Konflikt eingebracht. Aktuelle Probleme in Palästina wurden im Licht der Doktrin eines schicksalhaften Antisemitismus gesehen, der zu allen Zeiten und überall die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden kontrolliert habe. So gesehen erklärte dieser Antisemitismus geschichtliche und aktuelle Ereignisse, die gar nicht erklärt werden konnten (oder brauchten), da sie ja angeblich vorherbestimmt waren. Und gleichzeitig verhinderte er die Versuche, Phänomene zu verstehen, die auf Grund ihrer historisch-politischen Natur eigentlich einer rationalen, nämlich mehrstimmigen, vorläufigen, teilweisen Erklärung zugänglich hätten sein sollen. Arendt analysierte später dasselbe Problem in ihrer Argumentation gegen das metahistorische Konzept eines dämonisch Bösen und der absoluten Singularität der deutsch-jüdischen Katastrophe – eine Argumentation, die sie gleich nach dem Krieg in ihrer Korrespondenz mit Jaspers zu entwickeln begonnen hatte. In beiden Fällen verwies sie auf den politischen Schaden, den ein solches Transzendieren historisch-politischer Realität angerichtet hatte. Es war nicht ein vorgegebenes jüdisches Schicksal, sondern die akkultierte scharfe Scheidung zwischen Juden und Nichtjuden, die das tief verwurzelte jüdische Misstrauen gegenüber allen anderen gefährlich verstärkte. Die Vision eines ungeteilten und ungeschmälerten, ganz Palästina umfassenden Staates Israel als die Antwort auf Antisemitismus setzte die Einstimmigkeit und Solidarität aller jüdischen Siedler voraus, von denen dann keine kritische Analyse ihrer Situation zu erwarten war. Damit verbunden war auch die Illusion, dass für eine etablierte jüdische Nation Antisemitismus in seiner Verbindung mit Nationalismus kein Problem mehr sein würde. In diesem Szenario erschien dann Palästina als der einzige Ort, wo Juden auf Dauer vor den Angriffen auch ihrer schlimmsten Feinde sicher sein könnten, weil diese sich mirakulös in ihre besten Freunde verwandelt haben würden.

 

Arendts Gegenstand in „Zionism Reconsidered“ war die politische, also gegenseitige Abhängigkeit aller Gruppen. Die Zerstörung des europäischen Judentums verlangte ein schärferes jüdisches Bewusstsein solcher Abhängigkeiten eher denn größeren Isolationismus. Die zionistisch-nationalistische Lösung eines Pansemitismus für Juden in der Galut (Diaspora), vor allem in Amerika, schien ihr die schädlichste Reaktion auf den Antisemitismus. Das Ziel eines jüdischen Staates, im Gegensatz zu einer arabisch-jüdischen Konföderation, war für sie auch deshalb so problematisch, weil es bedeutete, dass Juden sich von Anfang an zu leicht über die wirklichen Machtverhältnisse hinwegsetzten – und dabei auch, obwohl sie es nicht explizit sagte, über die Verantwortlichkeit der Macht. Yishuv war nicht nur Asyl für verfolgte Juden aus den Diasporaländern, sondern würde auch immer die Unterstützung der Diaspora benötigen, vor allem der amerikanischen Juden. Und hier sagte Arendt vor mehr als einem halben Jahrhundert genau das voraus, was sich ereignen sollte: Die schwierige Zukunft eines jüdischen Staates, gegründet auf dem Erinnerungsdiskurs des Holocaust, mit Hilfe des politischen und ökonomischen Einflusses amerikanischer Juden, gegen den Willen der Araber und ohne die Unterstützung der benachbarten Mittelmeerländer.

Im Frühling und Sommer 1948 schrieb Arendt ihre beiden Aufsätze „To Save the Jewish Homeland“ und „Peace or Armistice in the Near East?“ Es war genau die Zeit, als Magnes, mit dem sie inzwischen zusammenarbeitete, in den USA geduldig um eine friedliche Lösung des Konflikts verhandelte. Auch ihr war eine solche Lösung über alles wichtig; aber Magnes’ Geduld war ihr nicht möglich. Die oft kritisierte “Kälte” ihres Diskurses, ihre scharfe Begrifflichkeit, die rapiden, zuweilen überklaren Unterscheidungen, ihre unsanfte Ironie entsprangen auch ihrer Ungeduld mit den für das jüdische Selbstverständnis so wichtigen Vorstellungen von Besonderheit und Solidarität. Aber sie verstand doch in etwa, dass diese Krisensituation, in der das Schicksal des Homeland in einer nicht mehr rational diskutierbaren Schwebe hing, eine Dämpfung ihrer Kritik der schieren politischen Unvernunft beider Seiten verlangte. Sie wiederholte also, der Friede zwischen Arabern und Juden könne nicht von außen aufgezwungen werden, sondern müsse sich in Verhandlungen und gegenseitigen Kompromissen entwickeln. Die Proklamation eines jüdischen Staates und jüdischer Siege über arabische Armeen hätten keinen Einfluss auf die arabische Politik gehabt. Es schien, dass Gewalt das einzige Argument war, das die Araber nicht verstanden.

 

Vor fünfzig Jahren konstatierte Arendt eine wachsende Belagerungsmentalität bei amerikanischen und palästinensischen Juden: Wir gegen die feindliche Welt. Sie fürchtete die Konsequenzen eines rassistischen jüdischen Chauvinismus im zeitgenössischen zionistischen Verständnis von „Israels Mission“: Der Soldat als der „neue Jude“. Diese Entwicklungen waren für sie nicht durch die deutsch-jüdische Katastrophe gerechtfertigt, die vielmehr nach einer neuen Perspektive auf alte Konflikte und Dilemmata verlangte. Nur durch Emanzipation von der Vergangenheit – was keinesfalls Vergessen bedeutet – könnten Juden lernen, als ein Volk unter anderen zu leben und damit eine Zukunft zu haben. Das Festhalten an einer einzigartigen und damit auf einzigartige Weise bedeutsamen jüdischen Geschichte, kulminierend im Erinnerungsdiskurs des Holocaust, würde diesem Lernprozess auf irreparable Weise schaden. Die von Arabern und Juden geteilte Weigerung, die Position des anderen ernst zu nehmen, bedeutete auch einen von beiden geteilten ideologisch verkürzten Geschichtsbegriff. Arendts Kritik unterliegt die Forderung, dass Geschichte die Verantwortung für die Zukunft tragen muss, gerade weil diese uns nicht bekannt ist. Sowohl teleologischer Messianismus als auch Fatalismus transzendieren – und verschließen damit – die historische Erfahrung als Symbiose von Zufällen und Entscheidungen. In der Verteidigung ihres Staates, der gegen die Wünsche einer arabischen Majorität in Palästina gegründet und damit der Grund eines sehr ernsten arabischen Flüchtlingsproblems geworden war, rationalisierten die Juden das den Arabern angetane Unrecht mit dem Erinnerungsdiskurs ihrer eigenen Verfolgung. Die Araber konnten diese Ideologisierung der jüdischen Geschichte weder als Ganzes abwehren, noch in den sie betreffenden Einzelheiten akzeptieren. In ihrer Argumentation gegen den jüdischen Staat konnten sie zwar auf das historische Faktum ihrer Anwesenheit in Palästina verweisen, das von den Juden nicht einfach geleugnet werden konnte. Aber diese Argumentation zog nicht in Betracht, dass die Araber sich von vornherein gegen die Etablierung eines jüdischen Homeland in Palästina gewehrt hatten, trotz der historischen Bedeutung dieses Unternehmens. In beiden Fällen fehlte es an politisch-historischer Einsicht, dass die Welt in Raum und Zeit größer war und sein würde als die konfliktbeladene Gegenwart in Palästina. Als einzige Hoffnung für Frieden im Nahen Osten sahen Arendt und Magnes 1948 deshalb die politische Lösung zweier souveräner, aber eng alliierter Staaten, die sowohl den aggressiven Nationalismus beider Seiten in Schach halten würde als auch das von der Politik der Erinnerung genährte religiöse jüdische Selbstverständnis als erwähltes Volk. Die Zukunft des nächsten halben Jahrhunderts sollte ihnen Recht geben.

 

1

Tony Judt: „The Road to Nowhere“, in: The New York Review of Books, May 9, 2002, p. 4-6, argumentiert vernünftigerweise für ein solches Vergessen und verweist auf die Beilegung oder zumindest politische Kontrollierung alter Konflikte wie in Irland, auf dem Balkan oder in Westeuropa, aber er nimmt Israels utopisches Selbstverständnis nicht genügend ernst: die Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte, inklusive Holocaust und göttlicher Regelung der Land- und Wasserverteilung im Heiligen Land zu Gunsten der Juden.

2

Zitiert in Jonathan Freedland: “Parallel universes”, in: Guardian Weekly, April 25-May 1, 2002.

3

Amos Elon: “The Politics of Memory”, in: The New York Review of Books, October 7, 1993.