Europäisierung des Holocaust – eine neue Zivilreligion für Europa?

 

Lothar Probst

 

Es gibt seit einigen Jahren eine untergründige Tendenz, alles aus einer globalen Perspektive zu sehen beziehungsweise gesellschaftspolitische Entwicklungen in eine globale Perspektive einzuordnen. Dieser Trend ist auch an der Geschichtspolitik nicht vorbeigegangen. Einen besonderen Status nimmt aus nachvollziehbaren Gründen in diesem Kontext der Holocaust ein. Aber eignet sich der Holocaust wirklich für positive moralische Imperative in Europa?

 

Der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Yehuda Bauer schrieb vor einigen Monaten im Spiegel: „Der Stellenwert des Holocaust in der heutigen Welt ist überaus bemerkenswert. Mittlerweile gibt es zwei Holocaust-Gedächtnisstätten in Japan, eine in Fukuyama bei Hiroshima und eine in Tokio. Über den Genozid an den Juden wird zudem an einer Universität in Shanghai gelehrt. Er ist nicht nur eine rein ‚westliche‘ Angelegenheit, er verwandelt sich stattdessen mehr und mehr in ein globales Thema.“(1)

Der deutsch-jüdische Sozialwissenschaftler Natan Sznaider hat versucht, diese These in eine Theorie globalisierter Erinnerung einzubauen und dies am Beispiel des Holocaust zu exemplifizieren. „Derzeit“, so Sznaider, „ist die Entstehung eines bestimmten Typus von kollektiver Erinnerung zu beobachten, der über die Grenzen des Nationalstaats hinausgeht, ohne dabei zwangsläufig nationale Erinnerungen zu ersetzen. Die Art von Erinnerung lässt sich als ‚global‘ oder sogar ‚kosmopolitisch‘ bezeichnen. Es handelt sich dabei um Erinnerungen, die von einer bestimmten Gruppe von Leuten geteilt und verbreitet werden, deren Forderungen nach kollektiven Identitäten sich nicht mehr in spezifisch nationalen, sondern in universalistischen Begriffen ausdrücken.“

Und in Bezug auf den Holocaust heißt es bei ihm weiter: „Die geteilten Erinnerungen an den Holocaust … schaffen die Grundlage für eine kosmopolitische Erinnerung: eine Erinnerung, die über ethnische und nationale Grenzen hinausgeht. … Die Erinnerungen an den Holocaust ermöglichen zu Beginn des dritten Jahrtausends die Entstehung von transnationalen Erinnerungskulturen, die wiederum das Potenzial besitzen, die kulturelle Grundlage für eine globale Menschenrechtspolitik zu werden. Menschenrechte bedeuten, dass der Völkermord einen weiteren Grad an Universalität erhält. Denn die Idee des Völkermords enthält die Ermahnung, dass eine moralische Welt nicht untätig zusehen kann.“

Insbesondere der letzte Punkt enthält die Hoffnung, dass sich eine um den Holocaust zentrierte globale Erinnerungspolitik positiv auf die moralischen Imperative gegenwärtiger und zukünftiger Politik auswirken würde. In den folgenden Ausführungen sollen diese Thesen – vorrangig mit Blick auf Europa – auf ihre empirische Evidenz überprüft und dann einer kritischen Würdigung unterzogen werden.

 

Die Europäisierung des Holocaust

Bis weit in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts eigneten sich die Deutschen als Tätergeneration gewissermaßen als Gesamtprojektionsfläche für den Genozid an den europäischen Juden und für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Die Verantwortung für den Holocaust war unter den europäischen Völkern vor allem eine deutsche Angelegenheit. Schon während der Zeit der Teilung standen beide deutsche Staaten gewissermaßen unter Dauerbeobachtung der europäischen Nachbarvölker, und beide versuchten im Rahmen unterschiedlicher Legitimationsstrategien, wie sie das Konzept des Antifaschismus und des Antitotalitarismus darstellten, dem Erwartungsdruck nach außen gerecht zu werden und sich als das jeweils „bessere Deutschland“ in Szene zu setzen. Für die alte Bundesrepublik gilt darüber hinaus, dass die Haltung zum Holocaust und zu den deutschen Verbrechen auch nach innen politische Lager strukturierte und zum Zeichen für die erreichte Zivilität der Demokratie wurde. Insofern war der Umgang mit der deutschen Vergangenheit und dem Holocaust einerseits ein Kriterium für die Situierung Deutschlands innerhalb der europäischen Völkerfamilie, andererseits für die politische Selbstverständigung nach innen. Die deutsche Einheit steigerte in gewisser Weise den Erwartungsdruck in beide Richtungen. Innerhalb der Öffentlichkeiten einer Reihe von europäischen Ländern fürchtete man, dass der nun wieder erstandene deutsche Nationalstaat in der Mitte Europas zu den Dämonen der Vergangenheit zurückkehren könnte, und auch in Deutschland selbst wuchsen die mahnenden Stimmen derer, die die Erinnerung an den Holocaust und an die deutsche Vergangenheit bereits aus den öffentlichen Diskursen verschwinden sahen. Tatsächlich trat jedoch das Gegenteil ein: Die Erinnerung an den Holocaust als archimedischer Punkt jüngster deutscher Geschichte hat sowohl in der öffentlichen Selbstrepräsentation der Bundesrepublik als auch in den öffentlichen Diskursen nach der deutschen Vereinigung stärker denn je die Rolle von politischer Sinnstiftung übernommen.

Vorangetrieben durch zwei sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärkende Faktoren lässt sich seit Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts nun eine gewisse Tendenz zur Europäisierung des Holocaust beobachten. Dadurch, dass in den vergangenen Jahren Stück für Stück aufgedeckt wurde, dass hinter der deutschen Vernichtungsmaschinerie ein Kranz von europäischen Staaten gewissermaßen arbeitsteilig an der Diskriminierung, Ausplünderung und Ermordung der europäischen Juden beteiligt war, dient Deutschland nicht länger als ausschließliche Projektionsfläche für die Verantwortung für den Holocaust. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion um die Rolle der Schweizer Banken, um die seit Anfang der Neunzigerjahre in Frankreich an Intensität zugenommene Debatte um die Kollaborationspolitik des französischen Vichy-Regimes, an die Schadensersatzforderungen gegenüber verschiedenen Unternehmen und Banken in Europa, die direkt oder indirekt von der Zwangsarbeit oder aber der Enteignung des Eigentums jüdischer Bürger profitiert hatten, an die lange Zeit verdrängten Fakten über die zeitweilige Unterstützung der deutschen Pogrom- und Mordpolitik in verschiedenen europäischen Ländern wie in Schweden, in den Niederlanden oder in Teilen von Belgien oder aber an die erst jüngst bekannt gewordenen Informationen über die eigenständige Organisierung von antisemitischen Pogromen und Morden in einigen polnischen Gegenden. Auch die Tatsache, dass viele europäische Länder sich zunächst weigerten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, dass antisemitische Parteien und Stimmungen auch außerhalb des deutschen Reichs zum Teil einen breiten Widerhall in den Bevölkerungen anderer Länder fanden, wird erst seit wenigen Jahren richtig wahrgenommen und öffentlich diskutiert. Insofern hat sich erst in den Neunzigerjahren ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Antisemitismus und Holocaust von Beginn an auch eine europäische Dimension hatten, ohne dass dadurch die besondere Rolle und Verantwortung Deutschlands für den Genozid an den europäischen Juden in Frage gestellt wird.

Diese verspätete Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Kollaboration und Unterstützung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat dazu beigetragen, dass auch in anderen europäischen Ländern der Holocaust zum Bezugspunkt öffentlicher Gedächtnispolitik wurde. Als Verstärker und Katalysator dieser Tendenz kann das von der schwedischen Regierung organisierte Stockholm International Forum on the Holocaust angesehen werden, welches am 27. Januar 2000 stattfand. 47 Staaten, nicht nur europäische, schickten Delegationen, 25 Länder waren durch ihre Staatsoberhäupter oder Regierungschefs vertreten. Wissenschaftler, Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und jüdischer Organisationen nahmen an den verschiedenen Foren und Diskussionsrunden teil, die sich drei Tage lang mit Hintergründen und neuen Erkenntnissen zum Holocaust in Europa sowie mit pädagogischen Konzepten zur Vermittlung der Lehren aus dem Holocaust beschäftigten. Nach diesem Ereignis begannen verschiedene europäische Länder den 27. Januar zum nationalen Gedenktag zu erklären und mit eigenen Veranstaltungen zu begehen (in Deutschland wird seit 1996 an diesem Tag offiziell der Opfer des Nationalsozialismus gedacht). Bereits am 27. Januar 2001 wurden in Großbritannien, in Frankreich und in Italien nationale Holocaust Gedenktage veranstaltet. In Italien etwa organisierten die Gewerkschaften eine Zeremonie in Mailand, und während der abendlichen Fußballspiele wurden Schweigeminuten eingelegt. Aber nicht nur in den drei – neben Deutschland – größten europäischen Staaten fanden Gedenkfeiern statt, sondern auch in zahlreichen kleineren Ländern wie Polen, Belgien, den Niederlanden oder Schweden. Am 27. Januar dieses Jahres hat sich sowohl die Zahl der Länder als auch die Zahl der zentralen und dezentralen Veranstaltungen, mit denen des Holocaust gedacht wird, noch erhöht. So fanden in England in vielen Schulen, Gemeinden, Kommunikationszentren Veranstaltungen mit Lesungen, Schweigeminuten, Vorträgen und Filmvorführungen statt.

Soweit es sich bei dieser auf den Holocaust fokussierten öffentlichen Gedächtnispolitik in verschiedenen Ländern Europas um genuine und von unten gewachsene Formen der Vergegenwärtigung des Grauens der Vernichtung der Juden in Europa, um die Mitverantwortung an der nationalsozialistischen Auslöschungspolitik und um die Frage handelt, welche – möglicherweise universellen – Lehren man aus diesem Ereignis ziehen kann, scheint die These von Sznaider, dass sich um die Erinnerung an den Holocaust herum eine Art transnationale Erinnerungskultur mit Vermächtnischarakter entwickelt, durchaus eine gewisse Plausibilität zu gewinnen. Dennoch sollen im Folgenden drei Einwände gegen diese Sichtweise formuliert werden.

 

Differenz der Erinnerung, normative Geschichtsdidaktik und Gefahren einer instrumentalisierbaren Gedächtnispolitik

Die Tatsache, dass der Holocaust zum Fokus einer expansiven Gedächtnispolitik in verschiedenen europäischen Ländern geworden ist, führt nicht automatisch zur Entstehung von transnationalen Erinnerungskulturen. Die Erinnerung an den Holocaust ist auf je eigene Art und Weise in das jeweilige kollektive Gedächtnis verschiedener europäischer Nationen eingebettet. Selbst eine „wissenschaftlich fundierte, bewusst auf Vermittlung ausgerichtete Form der Erinnerung“(2) setzt die Wirkungsmechanismen anderer Formen der Erinnerung oder auch die gleichzeitige und zum Teil neutralisierende Wirkung anderer, tief in der politischen Kultur einer Nation oder eines Kollektivs eingelagerter Mythen und Legenden nicht außer Kraft. In Frankreich wird die Französische Revolution, auch der Mythos der Résistance, für absehbare Zeit die Erinnerung an den Holocaust und die französische Kollaboration überlagern, selbst wenn in Zukunft jedes Jahr ein Holocaust-Gedenktag stattfindet. Ereignisse und Erfahrungen der Vergangenheit mit gesamteuropäischer Dimension werden auch in Zukunft in Europa im Rahmen verschiedener Nationalgeschichten reflektiert und in nationale, regionale oder lokale Kontexte eingeordnet werden. Angesichts der heterogenen Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist ohnehin kaum davon auszugehen, dass der Holocaust dort jemals eine ähnlich identitätsstützende sowie die eigene Nationalgeschichte einengende Funktion wie in der Bundesrepublik bekommen wird, selbst wenn öffentliche Gedenktage an den Holocaust weiter expandieren werden. Schließlich ist Differenz ein konstitutives Merkmal von Erinnerung, und die Erinnerung an das gleiche Ereignis, an den gleichen Ort, an die gleiche Erfahrung differiert „nach Epochen und Nationen, oft auch sozialen Gruppen“.(3) Vor diesem Hintergrund sind auch die nationalen Gedenktage an den Holocaust sehr unterschiedlich strukturiert. Der erste nationale Holocaust Memorial Day am 27. Januar 2001 in England bezog auch Themen wie Kambodscha, Vietnam, Bosnien, Kosovo und Ruanda mit ein. Das Programm lässt vermuten, dass hier der Holocaust bewusst nicht in seiner Singularität, sondern in seiner Beziehung zu anderen Genoziden und Massakern angesprochen wurde. Es ist kaum vorstellbar, dass des 27. Januars in Deutschland in Zukunft auf ähnliche Weise gedacht wird.

 

2. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Gefahr, aus der Erinnerung an den Holocaust im Rahmen öffentlich inszenierter Gedächtnispolitik eine gesamteuropäische normative Geschichtsdidaktik zu machen. Bereits das Stockholmer Holocaust-Forum hielt eine Reihe von problematischen Beispielen dafür bereit, wie im Rahmen der Pädagogisierung des Holocaust eine Tendenz zur Gedächtnispflicht, zum „affirmativen Gedenken“, wie es Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, bezeichnet hat, stattfindet. Das intentionale Vergessen der Vergangenheit wird gewissermaßen durch ein intentionales Erinnern für die Gegenwart und Zukunft ersetzt und mit der Aufgabe politischer Sinnstiftung befrachtet. Man gewinnt in diesem Zusammenhang zuweilen den Eindruck, dass die Europäisierung des Holocaust weniger ein evolutionärer Prozess ist als vielmehr das Produkt der Anstrengungen aus dem Umfeld politisch-kultureller Eliten innerhalb der EU, den Holocaust zur Formbildung des kollektiven Gedächtnisses innerhalb der EU zu nutzen. Michael Jeismann hat in diesem Zusammenhang in der FAZ festgestellt:

„Es gibt ... eine mittlerweile globalisierte Arbeit an der Form kollektiver Gedächtnisse, und in diesem Prozess entstehen politische Lobbys, die um Einfluss ringen. In der Europäischen Union werden die Geisteswissenschaften seit einer Reihe von Jahren ermuntert, die Europäisierung im Sinn der positiven Identitätsstiftung voranzutreiben. Dabei geht es [soweit es den Holocaust betrifft] nicht mehr speziell um die Deutschen und ihre Befindlichkeiten, ihre möglichen An- und Rückfälligkeiten für allerlei Verführungen. Es geht vielmehr um die ideologische Begründung übernationaler politischer Handlungseinheiten, um Intervention, um universale moralische Schlüsselworte und ihre Bedeutungsaufladung mit Geschichte, um Staatsideologie. Diese damit verbundene Pädagogisierung und politische Instrumentalisierung ist es, die brisant ist.“(4)

Jeismann weist hier zu Recht darauf hin, dass der Holocaust in dieser Konzeption nicht länger als Mittel der Disziplinierung der Deutschen dient, sondern dass im Gegenteil das deutsche Beispiel, wo der Holocaust bereits seit längerem zum identitätskonstituierenden Gegen- und Gründungsereignis der Geschichte geworden ist, gewissermaßen transformiert wird, um dem europäischen Integrationsprozess eine neue politisch sinngebende Komponente einzuhauchen. Tatsächlich gewinnt der Holocaust in dem Maße als zivile Ersatzreligion innerhalb der EU an Gewicht, in dem die Schwierigkeiten, eine gemeinsame politische Identität zu schaffen, offensichtlicher werden. Der europäische Integrationsprozess ist trotz jahrzehntelanger Bemühungen immer noch arm an politisch legitimierenden und kollektive Identität vermittelnden gemeinsamen Bezugspunkten und Narrationen; vielmehr haben sich im Laufe der Zeit alte Gründungslegenden zerrieben und aufgelöst. Vor allem die Aufhebung der Teilung Europas, die lange Zeit eine der politischen Erfolgsbedingungen der westeuropäischen Integration war, weil sie einerseits einen gewissen Zwang zur Integration ausübte, andererseits übergreifende ideologische Gemeinsamkeiten stiftete, hat eine neue Situation geschaffen. Auch der idealistische, antipartikulare, zum Teil paneuropäische Impuls der Gründung der EU, hervorgegangen aus den traumatischen Erfahrungen zweier Weltkriege, hat vielfach Schiffbruch erlitten, ist gestrandet im Alltag einer wenig Vertrauen einflössenden EU-Bürokratie, wird aufgezehrt im Zuge fauler Kompromisse nach wie vor egoistischer Nationalstaaten und muss sich heute, angesichts vielfältiger Herausforderungen, neue Nahrung suchen, um die politische Einheit Europas voranzubringen. Die EU verfügt immer noch, das zeigen die Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament, verschiedene Referenden in europäischen Mitgliedsstaaten und auch die Umfragen des EU-Barometers, über eine schwache demokratische Legitimität; die politische Identifikation mit ihren Institutionen ist unter den europäischen Völkern nach wie vor wenig entwickelt.

 

3. Vor diesem Hintergrund scheint sich der Rückbezug auf den Holocaust und seine Interpretation als Gründungsereignis der EU sowie als politischer Identitätsgenerator geradezu anzubieten. Einen anspruchsvollen Versuch, diese Position zu unterlegen, hat Dan Diner im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gegen die vor gut zwei Jahren neu gebildete österreichische Regierung unternommen. Diner spricht von einem gemeinsamen Wertekatalog, der diesen Maßnahmen angeblich zu Grunde lag, und schreibt: „Seinen Ursprung findet ein solcher politischer Wertekatalog in einem zunehmend sich vereinheitlichenden europäischen Gedächtnis. Sein Zentrum wird von der Erinnerung an den Holocaust eingenommen. Dessen Wirkung in Gegenwart und Zukunft weist jener negativen Apotheose europäischer Geschichte zunehmend die Bedeutung eines eminenten Gründungsereignisses zu. Von den ethischen Imperativen dieses Ereignisses leitet sich ein Katalog von Werten ab, die dem politischen Europa normativ zu Grunde gelegt werden. ... Damit sind die Linien einer Präambel zu einer europäischen Verfassung vorgezeichnet.“(5)

Bemerkenswert an Diners Position ist der Versuch, den innenpolitischen Raum Europas auf ein Ereignis zu gründen, dem ein suprahistorischer Geltungsanspruch verliehen wird. Dabei verweist die von Diner vorgenommene Qualifizierung des Holocaust als „negative Apotheose europäischer Geschichte“ darauf, dass hier dem Holocaust die Funktion einer quasireligiösen Verankerung des Politischen zukommt. Der Holocaust, als negatives Ereignis, wird gewissermaßen zu einer sinnstiftenden Metaerzählung und über dem Politischen stehenden Legitimationsinstanz für das politische Handeln.

Diese Position lässt sich mit einem dritten Einwand gegen die „Globalisierung“ einer auf den Holocaust zentrierten Gedächtnispolitik verknüpfen. Eine moralische Aufladung des Politischen, wie bei Diner, aber auch bei Sznaider, ist problematisch, weil sie die Gefahr birgt, dass dem Holocaust eine nicht mehr hinterfragbare Signifikanz für das politische Handeln der Gegenwart und Zukunft verliehen wird. Politischer Instrumentalisierbarkeit wird dadurch Tür und Tor geöffnet. Es gibt eine Reihe von Beispielen aus den letzten Jahren, die die ganze Ambivalenz, um nicht zu sagen Fragwürdigkeit, einer derartigen Position verdeutlichen. So wurde das Diktum: „Nie wieder Auschwitz“ von Intellektuellen und Politikern zum Teil ganz unterschiedlich benutzt, um ihre jeweilige Position zu politischen Entwicklungen der Gegenwart zu legitimieren. Günter Grass und andere deutsche Intellektuelle begründeten zum Beispiel ihre Zurückweisung der deutschen Einheit mit Verweis auf gerade dieses Diktum.

Ein anderes Beispiel hält die Auseinandersetzung um die Beteiligung Deutschlands an den NATO-Militäreinsätzen auf dem Balkan bereit. Für die eine Fraktion von Intellektuellen und Politikern war klar, dass sich auf Grund der deutschen Geschichte mit dem Holocaust als Chiffre für Völkermord und Verbrechen jeder Militäreinsatz außerhalb Deutschlands verbietet. Joschka Fischer und Rudolf Scharping wiederum bemühten, unter Aufbietung aller moralischen Register, die Erfahrung von Auschwitz, um unter Verweis auf schwerste Menschenrechtsverletzungen und auf die Existenz von Konzentrationslagern die deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz auf dem Balkan zu legitimieren. Noch problematischer war die Begründung für die von den EU-Mitgliedsstaaten beschlossenen Sanktionsmaßnahmen gegen die im Rahmen demokratisch legitimierter Wahlen und Verfahren an die Macht gekommene neue österreichische Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ. Ohne dass konkrete Menschenrechtsverletzungen vorgelegen hätten oder die gerade erst ins Amt gekommene Regierung gegen zentrale Prinzipien der EU verstoßen hätte, wurden der österreichischen Regierung, wie Dan Diner es freundlich umschreibt, „Kautelen angelegt“. Er interpretiert diese Kautelen als „Schutzreflex“, da man durch sie „Rassismus und idiosynkratische Fremdenfeindlichkeit, mit Antisemitismus und Holocaust zwar nicht identisch, aber doch irgendwie in der Nähe angesiedelt“ als fundamental antieuropäische Gefährdungen der Union inkriminieren wollte.(6) „Irgendwie in der Nähe angesiedelt“ – eine derart schwammige und weite Interpretation lädt natürlich geradezu zu politischer Instrumentalisierung ein. Gegen wen werden wann unter diesem Aspekt politische Strafmaßnahmen verhängt? Wie wenig glaubwürdig die Sanktionsmaßnahmen gegen Österreich in dieser Hinsicht wirklich waren, zeigt die Tatsache, dass zur gleichen Zeit in Südspanien – Spanien war eines der eifrigsten Verfechter der Sanktionen – Marokkaner von einem aufgebrachten Mob durch die Straßen gejagt wurden, während die Polizei in aller Seelenruhe zuschaute.

Eine politisch instrumentalisierbare Gedächtnispolitik mit dem Holocaust als Zentrum ist weder geeignet, die Legitimations- und Identitätsdefizite der Europäischen Union zu kompensieren, noch einer globalen Menschenrechtspolitik das nötige Fundament zu geben. Sie ist auch kein Bollwerk gegen totalitäre Strömungen und Tendenzen, die sich nicht mit moralischen Verdikten und der Erinnerung an die Vergangenheit bahnen lassen, sondern allenfalls durch die Fähigkeit, die Gefährdungen der Freiheit und der Menschenrechte jeweils neu zu denken. Der französische Philosoph Claude Lefort hat in diesem Zusammenhang gesagt: „Seit einiger Zeit spricht man viel von der ‚Pflicht, sich zu erinnern‘. Das ist erfreulich. Wenn man jedoch dazu ermahnt, die Verbrechen gegen die Menschheit nicht zu vergessen, hofft man, dass die Erinnerung daran uns davor bewahren wird, die Gräueltaten der Vergangenheit zu wiederholen. Aber ohne die Pflicht zu denken, läuft die Pflicht sich zu erinnern, Gefahr, wirkungslos zu sein.“(7)

 

1

Yehuda Bauer, “Mord als Ziel”, Spiegel, 22/01.

2

Horst Möller, ApuZ B 28/01, S. 10.

3

Ebd. S. 11.

4

Michael Jeismann, FAZ, 10.02.01.

5

Dan Diner, Welt, 26.02.00, S. 11

6

Ebd.

7

Claude Lefort, unveröffentlichter Vortrag.