Lothar Probst
Es gibt seit einigen Jahren eine untergründige Tendenz, alles aus einer
globalen Perspektive zu sehen beziehungsweise gesellschaftspolitische
Entwicklungen in eine globale Perspektive einzuordnen. Dieser Trend ist auch an
der Geschichtspolitik nicht vorbeigegangen. Einen besonderen Status nimmt aus
nachvollziehbaren Gründen in diesem Kontext der Holocaust ein. Aber eignet sich
der Holocaust wirklich für positive moralische Imperative in Europa?
Der
israelische Historiker und Antisemitismusforscher Yehuda Bauer schrieb vor
einigen Monaten im Spiegel: „Der Stellenwert des Holocaust in der
heutigen Welt ist überaus bemerkenswert. Mittlerweile gibt es zwei
Holocaust-Gedächtnisstätten in Japan, eine in Fukuyama bei Hiroshima und eine
in Tokio. Über den Genozid an den Juden wird zudem an einer Universität in
Shanghai gelehrt. Er ist nicht nur eine rein ‚westliche‘ Angelegenheit, er
verwandelt sich stattdessen mehr und mehr in ein globales Thema.“(1)
Der
deutsch-jüdische Sozialwissenschaftler Natan Sznaider hat versucht, diese These
in eine Theorie globalisierter Erinnerung einzubauen und dies am Beispiel des
Holocaust zu exemplifizieren. „Derzeit“, so Sznaider, „ist die Entstehung eines
bestimmten Typus von kollektiver Erinnerung zu beobachten, der über die Grenzen
des Nationalstaats hinausgeht, ohne dabei zwangsläufig nationale Erinnerungen
zu ersetzen. Die Art von Erinnerung lässt sich als ‚global‘ oder sogar
‚kosmopolitisch‘ bezeichnen. Es handelt sich dabei um Erinnerungen, die von
einer bestimmten Gruppe von Leuten geteilt und verbreitet werden, deren
Forderungen nach kollektiven Identitäten sich nicht mehr in spezifisch
nationalen, sondern in universalistischen Begriffen ausdrücken.“
Und
in Bezug auf den Holocaust heißt es bei ihm weiter: „Die geteilten Erinnerungen
an den Holocaust … schaffen die Grundlage für eine kosmopolitische Erinnerung:
eine Erinnerung, die über ethnische und nationale Grenzen hinausgeht. … Die
Erinnerungen an den Holocaust ermöglichen zu Beginn des dritten Jahrtausends
die Entstehung von transnationalen Erinnerungskulturen, die wiederum das
Potenzial besitzen, die kulturelle Grundlage für eine globale
Menschenrechtspolitik zu werden. Menschenrechte bedeuten, dass der Völkermord
einen weiteren Grad an Universalität erhält. Denn die Idee des Völkermords
enthält die Ermahnung, dass eine moralische Welt nicht untätig zusehen kann.“
Insbesondere
der letzte Punkt enthält die Hoffnung, dass sich eine um den Holocaust
zentrierte globale Erinnerungspolitik positiv auf die moralischen Imperative
gegenwärtiger und zukünftiger Politik auswirken würde. In den folgenden
Ausführungen sollen diese Thesen – vorrangig mit Blick auf Europa – auf ihre
empirische Evidenz überprüft und dann einer kritischen Würdigung unterzogen
werden.
Bis
weit in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts eigneten sich die Deutschen
als Tätergeneration gewissermaßen als Gesamtprojektionsfläche für den Genozid
an den europäischen Juden und für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Die
Verantwortung für den Holocaust war unter den europäischen Völkern vor allem
eine deutsche Angelegenheit. Schon während der Zeit der Teilung standen beide
deutsche Staaten gewissermaßen unter Dauerbeobachtung der europäischen
Nachbarvölker, und beide versuchten im Rahmen unterschiedlicher
Legitimationsstrategien, wie sie das Konzept des Antifaschismus und des
Antitotalitarismus darstellten, dem Erwartungsdruck nach außen gerecht zu werden
und sich als das jeweils „bessere Deutschland“ in Szene zu setzen. Für die alte
Bundesrepublik gilt darüber hinaus, dass die Haltung zum Holocaust und zu den
deutschen Verbrechen auch nach innen politische Lager strukturierte und zum
Zeichen für die erreichte Zivilität der Demokratie wurde. Insofern war der
Umgang mit der deutschen Vergangenheit und dem Holocaust einerseits ein
Kriterium für die Situierung Deutschlands innerhalb der europäischen
Völkerfamilie, andererseits für die politische Selbstverständigung nach innen.
Die deutsche Einheit steigerte in gewisser Weise den Erwartungsdruck in beide
Richtungen. Innerhalb der Öffentlichkeiten einer Reihe von europäischen Ländern
fürchtete man, dass der nun wieder erstandene deutsche Nationalstaat in der
Mitte Europas zu den Dämonen der Vergangenheit zurückkehren könnte, und auch in
Deutschland selbst wuchsen die mahnenden Stimmen derer, die die Erinnerung an
den Holocaust und an die deutsche Vergangenheit bereits aus den öffentlichen
Diskursen verschwinden sahen. Tatsächlich trat jedoch das Gegenteil ein: Die
Erinnerung an den Holocaust als archimedischer Punkt jüngster deutscher
Geschichte hat sowohl in der öffentlichen Selbstrepräsentation der
Bundesrepublik als auch in den öffentlichen Diskursen nach der deutschen
Vereinigung stärker denn je die Rolle von politischer Sinnstiftung übernommen.
Vorangetrieben
durch zwei sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärkende Faktoren lässt sich
seit Mitte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts nun eine gewisse Tendenz
zur Europäisierung des Holocaust beobachten. Dadurch, dass in den vergangenen
Jahren Stück für Stück aufgedeckt wurde, dass hinter der deutschen
Vernichtungsmaschinerie ein Kranz von europäischen Staaten gewissermaßen
arbeitsteilig an der Diskriminierung, Ausplünderung und Ermordung der
europäischen Juden beteiligt war, dient Deutschland nicht länger als
ausschließliche Projektionsfläche für die Verantwortung für den Holocaust.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion um die Rolle der
Schweizer Banken, um die seit Anfang der Neunzigerjahre in Frankreich an
Intensität zugenommene Debatte um die Kollaborationspolitik des französischen
Vichy-Regimes, an die Schadensersatzforderungen gegenüber verschiedenen
Unternehmen und Banken in Europa, die direkt oder indirekt von der Zwangsarbeit
oder aber der Enteignung des Eigentums jüdischer Bürger profitiert hatten, an
die lange Zeit verdrängten Fakten über die zeitweilige Unterstützung der
deutschen Pogrom- und Mordpolitik in verschiedenen europäischen Ländern wie in
Schweden, in den Niederlanden oder in Teilen von Belgien oder aber an die erst
jüngst bekannt gewordenen Informationen über die eigenständige Organisierung
von antisemitischen Pogromen und Morden in einigen polnischen Gegenden. Auch die
Tatsache, dass viele europäische Länder sich zunächst weigerten, jüdische
Flüchtlinge aufzunehmen, dass antisemitische Parteien und Stimmungen auch
außerhalb des deutschen Reichs zum Teil einen breiten Widerhall in den
Bevölkerungen anderer Länder fanden, wird erst seit wenigen Jahren richtig
wahrgenommen und öffentlich diskutiert. Insofern hat sich erst in den
Neunzigerjahren ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Antisemitismus und
Holocaust von Beginn an auch eine europäische Dimension hatten, ohne dass
dadurch die besondere Rolle und Verantwortung Deutschlands für den Genozid an
den europäischen Juden in Frage gestellt wird.
Diese
verspätete Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Kollaboration
und Unterstützung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat dazu
beigetragen, dass auch in anderen europäischen Ländern der Holocaust zum
Bezugspunkt öffentlicher Gedächtnispolitik wurde. Als Verstärker und
Katalysator dieser Tendenz kann das von der schwedischen Regierung organisierte
Stockholm International Forum on the Holocaust angesehen werden, welches
am 27. Januar 2000 stattfand. 47 Staaten, nicht nur europäische, schickten
Delegationen, 25 Länder waren durch ihre Staatsoberhäupter oder Regierungschefs
vertreten. Wissenschaftler, Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und jüdischer
Organisationen nahmen an den verschiedenen Foren und Diskussionsrunden teil,
die sich drei Tage lang mit Hintergründen und neuen Erkenntnissen zum Holocaust
in Europa sowie mit pädagogischen Konzepten zur Vermittlung der Lehren aus dem
Holocaust beschäftigten. Nach diesem Ereignis begannen verschiedene europäische
Länder den 27. Januar zum nationalen Gedenktag zu erklären und mit eigenen
Veranstaltungen zu begehen (in Deutschland wird seit 1996 an diesem Tag offiziell
der Opfer des Nationalsozialismus gedacht). Bereits am 27. Januar 2001 wurden
in Großbritannien, in Frankreich und in Italien nationale Holocaust
Gedenktage veranstaltet. In Italien etwa organisierten die Gewerkschaften
eine Zeremonie in Mailand, und während der abendlichen Fußballspiele wurden
Schweigeminuten eingelegt. Aber nicht nur in den drei – neben Deutschland –
größten europäischen Staaten fanden Gedenkfeiern statt, sondern auch in
zahlreichen kleineren Ländern wie Polen, Belgien, den Niederlanden oder
Schweden. Am 27. Januar dieses Jahres hat sich sowohl die Zahl der Länder als
auch die Zahl der zentralen und dezentralen Veranstaltungen, mit denen des
Holocaust gedacht wird, noch erhöht. So fanden in England in vielen Schulen,
Gemeinden, Kommunikationszentren Veranstaltungen mit Lesungen, Schweigeminuten,
Vorträgen und Filmvorführungen statt.
Soweit
es sich bei dieser auf den Holocaust fokussierten öffentlichen
Gedächtnispolitik in verschiedenen Ländern Europas um genuine und von unten
gewachsene Formen der Vergegenwärtigung des Grauens der Vernichtung der Juden
in Europa, um die Mitverantwortung an der nationalsozialistischen
Auslöschungspolitik und um die Frage handelt, welche – möglicherweise
universellen – Lehren man aus diesem Ereignis ziehen kann, scheint die These
von Sznaider, dass sich um die Erinnerung an den Holocaust herum eine Art
transnationale Erinnerungskultur mit Vermächtnischarakter entwickelt, durchaus
eine gewisse Plausibilität zu gewinnen. Dennoch sollen im Folgenden drei
Einwände gegen diese Sichtweise formuliert werden.
Differenz der Erinnerung, normative Geschichtsdidaktik und Gefahren einer instrumentalisierbaren Gedächtnispolitik
Die
Tatsache, dass der Holocaust zum Fokus einer expansiven Gedächtnispolitik in
verschiedenen europäischen Ländern geworden ist, führt nicht automatisch zur
Entstehung von transnationalen Erinnerungskulturen. Die Erinnerung an den
Holocaust ist auf je eigene Art und Weise in das jeweilige kollektive
Gedächtnis verschiedener europäischer Nationen eingebettet. Selbst eine
„wissenschaftlich fundierte, bewusst auf Vermittlung ausgerichtete Form der
Erinnerung“(2) setzt die Wirkungsmechanismen anderer Formen der Erinnerung oder
auch die gleichzeitige und zum Teil neutralisierende Wirkung anderer, tief in
der politischen Kultur einer Nation oder eines Kollektivs eingelagerter Mythen
und Legenden nicht außer Kraft. In Frankreich wird die Französische Revolution,
auch der Mythos der Résistance, für absehbare Zeit die Erinnerung an den
Holocaust und die französische Kollaboration überlagern, selbst wenn in Zukunft
jedes Jahr ein Holocaust-Gedenktag stattfindet. Ereignisse und Erfahrungen der
Vergangenheit mit gesamteuropäischer Dimension werden auch in Zukunft in Europa
im Rahmen verschiedener Nationalgeschichten reflektiert und in nationale,
regionale oder lokale Kontexte eingeordnet werden. Angesichts der heterogenen
Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist ohnehin kaum davon auszugehen,
dass der Holocaust dort jemals eine ähnlich identitätsstützende sowie die
eigene Nationalgeschichte einengende Funktion wie in der Bundesrepublik
bekommen wird, selbst wenn öffentliche Gedenktage an den Holocaust weiter
expandieren werden. Schließlich ist Differenz ein konstitutives Merkmal von
Erinnerung, und die Erinnerung an das gleiche Ereignis, an den gleichen Ort, an
die gleiche Erfahrung differiert „nach Epochen und Nationen, oft auch sozialen
Gruppen“.(3) Vor diesem Hintergrund sind auch die nationalen Gedenktage an den
Holocaust sehr unterschiedlich strukturiert. Der erste nationale Holocaust
Memorial Day am 27. Januar 2001 in England bezog auch Themen wie
Kambodscha, Vietnam, Bosnien, Kosovo und Ruanda mit ein. Das Programm lässt
vermuten, dass hier der Holocaust bewusst nicht in seiner Singularität, sondern
in seiner Beziehung zu anderen Genoziden und Massakern angesprochen wurde. Es
ist kaum vorstellbar, dass des 27. Januars in Deutschland in Zukunft auf
ähnliche Weise gedacht wird.
2. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Gefahr, aus der Erinnerung an den
Holocaust im Rahmen öffentlich inszenierter Gedächtnispolitik eine
gesamteuropäische normative Geschichtsdidaktik zu machen. Bereits das
Stockholmer Holocaust-Forum hielt eine Reihe von problematischen Beispielen
dafür bereit, wie im Rahmen der Pädagogisierung des Holocaust eine Tendenz zur
Gedächtnispflicht, zum „affirmativen Gedenken“, wie es Volkhard Knigge, der
Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, bezeichnet hat, stattfindet. Das
intentionale Vergessen der Vergangenheit wird gewissermaßen durch ein
intentionales Erinnern für die Gegenwart und Zukunft ersetzt und mit der
Aufgabe politischer Sinnstiftung befrachtet. Man gewinnt in diesem Zusammenhang
zuweilen den Eindruck, dass die Europäisierung des Holocaust weniger ein
evolutionärer Prozess ist als vielmehr das Produkt der Anstrengungen aus dem
Umfeld politisch-kultureller Eliten innerhalb der EU, den Holocaust zur
Formbildung des kollektiven Gedächtnisses innerhalb der EU zu nutzen. Michael
Jeismann hat in diesem Zusammenhang in der FAZ festgestellt:
„Es
gibt ... eine mittlerweile globalisierte Arbeit an der Form kollektiver
Gedächtnisse, und in diesem Prozess entstehen politische Lobbys, die um
Einfluss ringen. In der Europäischen Union werden die Geisteswissenschaften
seit einer Reihe von Jahren ermuntert, die Europäisierung im Sinn der positiven
Identitätsstiftung voranzutreiben. Dabei geht es [soweit es den Holocaust
betrifft] nicht mehr speziell um die Deutschen und ihre Befindlichkeiten, ihre
möglichen An- und Rückfälligkeiten für allerlei Verführungen. Es geht vielmehr
um die ideologische Begründung übernationaler politischer Handlungseinheiten,
um Intervention, um universale moralische Schlüsselworte und ihre
Bedeutungsaufladung mit Geschichte, um Staatsideologie. Diese damit verbundene
Pädagogisierung und politische Instrumentalisierung ist es, die brisant
ist.“(4)
Jeismann
weist hier zu Recht darauf hin, dass der Holocaust in dieser Konzeption nicht
länger als Mittel der Disziplinierung der Deutschen dient, sondern dass im
Gegenteil das deutsche Beispiel, wo der Holocaust bereits seit längerem zum
identitätskonstituierenden Gegen- und Gründungsereignis der Geschichte geworden
ist, gewissermaßen transformiert wird, um dem europäischen Integrationsprozess
eine neue politisch sinngebende Komponente einzuhauchen. Tatsächlich gewinnt
der Holocaust in dem Maße als zivile Ersatzreligion innerhalb der EU an
Gewicht, in dem die Schwierigkeiten, eine gemeinsame politische Identität zu
schaffen, offensichtlicher werden. Der europäische Integrationsprozess ist
trotz jahrzehntelanger Bemühungen immer noch arm an politisch legitimierenden
und kollektive Identität vermittelnden gemeinsamen Bezugspunkten und
Narrationen; vielmehr haben sich im Laufe der Zeit alte Gründungslegenden
zerrieben und aufgelöst. Vor allem die Aufhebung der Teilung Europas, die lange
Zeit eine der politischen Erfolgsbedingungen der westeuropäischen Integration
war, weil sie einerseits einen gewissen Zwang zur Integration ausübte,
andererseits übergreifende ideologische Gemeinsamkeiten stiftete, hat eine neue
Situation geschaffen. Auch der idealistische, antipartikulare, zum Teil
paneuropäische Impuls der Gründung der EU, hervorgegangen aus den traumatischen
Erfahrungen zweier Weltkriege, hat vielfach Schiffbruch erlitten, ist gestrandet
im Alltag einer wenig Vertrauen einflössenden EU-Bürokratie, wird aufgezehrt im
Zuge fauler Kompromisse nach wie vor egoistischer Nationalstaaten und muss sich
heute, angesichts vielfältiger Herausforderungen, neue Nahrung suchen, um die
politische Einheit Europas voranzubringen. Die EU verfügt immer noch, das
zeigen die Wahlergebnisse zum Europäischen Parlament, verschiedene Referenden
in europäischen Mitgliedsstaaten und auch die Umfragen des EU-Barometers, über
eine schwache demokratische Legitimität; die politische Identifikation mit
ihren Institutionen ist unter den europäischen Völkern nach wie vor wenig
entwickelt.
3. Vor diesem Hintergrund scheint sich der Rückbezug auf den Holocaust und
seine Interpretation als Gründungsereignis der EU sowie als politischer
Identitätsgenerator geradezu anzubieten. Einen anspruchsvollen Versuch, diese
Position zu unterlegen, hat Dan Diner im Zusammenhang mit den Maßnahmen der
Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gegen die vor gut zwei Jahren neu
gebildete österreichische Regierung unternommen. Diner spricht von einem
gemeinsamen Wertekatalog, der diesen Maßnahmen angeblich zu Grunde lag, und
schreibt: „Seinen Ursprung findet ein solcher politischer Wertekatalog in einem
zunehmend sich vereinheitlichenden europäischen Gedächtnis. Sein Zentrum wird
von der Erinnerung an den Holocaust eingenommen. Dessen Wirkung in Gegenwart
und Zukunft weist jener negativen Apotheose europäischer Geschichte zunehmend
die Bedeutung eines eminenten Gründungsereignisses zu. Von den ethischen
Imperativen dieses Ereignisses leitet sich ein Katalog von Werten ab, die dem
politischen Europa normativ zu Grunde gelegt werden. ... Damit sind die Linien
einer Präambel zu einer europäischen Verfassung vorgezeichnet.“(5)
Bemerkenswert
an Diners Position ist der Versuch, den innenpolitischen Raum Europas auf ein
Ereignis zu gründen, dem ein suprahistorischer Geltungsanspruch verliehen wird.
Dabei verweist die von Diner vorgenommene Qualifizierung des Holocaust als
„negative Apotheose europäischer Geschichte“ darauf, dass hier dem Holocaust
die Funktion einer quasireligiösen Verankerung des Politischen zukommt. Der
Holocaust, als negatives Ereignis, wird gewissermaßen zu einer sinnstiftenden
Metaerzählung und über dem Politischen stehenden Legitimationsinstanz für das
politische Handeln.
Diese
Position lässt sich mit einem dritten Einwand gegen die „Globalisierung“ einer
auf den Holocaust zentrierten Gedächtnispolitik verknüpfen. Eine moralische
Aufladung des Politischen, wie bei Diner, aber auch bei Sznaider, ist
problematisch, weil sie die Gefahr birgt, dass dem Holocaust eine nicht mehr
hinterfragbare Signifikanz für das politische Handeln der Gegenwart und Zukunft
verliehen wird. Politischer Instrumentalisierbarkeit wird dadurch Tür und Tor
geöffnet. Es gibt eine Reihe von Beispielen aus den letzten Jahren, die die
ganze Ambivalenz, um nicht zu sagen Fragwürdigkeit, einer derartigen Position
verdeutlichen. So wurde das Diktum: „Nie wieder Auschwitz“ von Intellektuellen
und Politikern zum Teil ganz unterschiedlich benutzt, um ihre jeweilige
Position zu politischen Entwicklungen der Gegenwart zu legitimieren. Günter
Grass und andere deutsche Intellektuelle begründeten zum Beispiel ihre
Zurückweisung der deutschen Einheit mit Verweis auf gerade dieses Diktum.
Ein
anderes Beispiel hält die Auseinandersetzung um die Beteiligung Deutschlands an
den NATO-Militäreinsätzen auf dem Balkan bereit. Für die eine Fraktion von
Intellektuellen und Politikern war klar, dass sich auf Grund der deutschen
Geschichte mit dem Holocaust als Chiffre für Völkermord und Verbrechen jeder
Militäreinsatz außerhalb Deutschlands verbietet. Joschka Fischer und Rudolf
Scharping wiederum bemühten, unter Aufbietung aller moralischen Register, die
Erfahrung von Auschwitz, um unter Verweis auf schwerste
Menschenrechtsverletzungen und auf die Existenz von Konzentrationslagern die
deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz auf dem Balkan zu legitimieren. Noch
problematischer war die Begründung für die von den EU-Mitgliedsstaaten
beschlossenen Sanktionsmaßnahmen gegen die im Rahmen demokratisch legitimierter
Wahlen und Verfahren an die Macht gekommene neue österreichische
Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ. Ohne dass konkrete
Menschenrechtsverletzungen vorgelegen hätten oder die gerade erst ins Amt
gekommene Regierung gegen zentrale Prinzipien der EU verstoßen hätte, wurden
der österreichischen Regierung, wie Dan Diner es freundlich umschreibt,
„Kautelen angelegt“. Er interpretiert diese Kautelen als „Schutzreflex“, da man
durch sie „Rassismus und idiosynkratische Fremdenfeindlichkeit, mit
Antisemitismus und Holocaust zwar nicht identisch, aber doch irgendwie in der
Nähe angesiedelt“ als fundamental antieuropäische Gefährdungen der Union
inkriminieren wollte.(6) „Irgendwie in der Nähe angesiedelt“ – eine derart
schwammige und weite Interpretation lädt natürlich geradezu zu politischer
Instrumentalisierung ein. Gegen wen werden wann unter diesem Aspekt politische
Strafmaßnahmen verhängt? Wie wenig glaubwürdig die Sanktionsmaßnahmen gegen
Österreich in dieser Hinsicht wirklich waren, zeigt die Tatsache, dass zur
gleichen Zeit in Südspanien – Spanien war eines der eifrigsten Verfechter der
Sanktionen – Marokkaner von einem aufgebrachten Mob durch die Straßen gejagt
wurden, während die Polizei in aller Seelenruhe zuschaute.
Eine
politisch instrumentalisierbare Gedächtnispolitik mit dem Holocaust als Zentrum
ist weder geeignet, die Legitimations- und Identitätsdefizite der Europäischen
Union zu kompensieren, noch einer globalen Menschenrechtspolitik das nötige
Fundament zu geben. Sie ist auch kein Bollwerk gegen totalitäre Strömungen und
Tendenzen, die sich nicht mit moralischen Verdikten und der Erinnerung an die
Vergangenheit bahnen lassen, sondern allenfalls durch die Fähigkeit, die
Gefährdungen der Freiheit und der Menschenrechte jeweils neu zu denken. Der
französische Philosoph Claude Lefort hat in diesem Zusammenhang gesagt: „Seit
einiger Zeit spricht man viel von der ‚Pflicht, sich zu erinnern‘. Das ist
erfreulich. Wenn man jedoch dazu ermahnt, die Verbrechen gegen die Menschheit
nicht zu vergessen, hofft man, dass die Erinnerung daran uns davor bewahren
wird, die Gräueltaten der Vergangenheit zu wiederholen. Aber ohne die Pflicht
zu denken, läuft die Pflicht sich zu erinnern, Gefahr, wirkungslos zu sein.“(7)
1
Yehuda
Bauer, “Mord als Ziel”, Spiegel, 22/01.
2
Horst
Möller, ApuZ B 28/01, S. 10.
3
Ebd. S.
11.
4
Michael
Jeismann, FAZ, 10.02.01.
5
Dan
Diner, Welt, 26.02.00, S. 11
6
Ebd.
7
Claude
Lefort, unveröffentlichter Vortrag.