Zur Zeit


Ende der friedenspolitischen Unschuld

Ralf Fücks

Nach dem Bremer Parteitag und der darauf folgenden Abstimmung über den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr im Bundestag sind die Bündnisgrünen nicht mehr dieselbe Partei wie zuvor. Sie haben ihre friedenspolitische Unschuld verloren. Das geht ans Nervenzentrum der Partei, und es geht nicht ohne Risiken, Kämpfe und Schmerzen.

Dabei wurde in Bremen sichtbar, daß der ritualisierte Streit zwischen "Realos" und mittlerweile mindestens ebenso regierungsambitionierten "Linken" nur notdürftig dazu taugt, diesen Konflikt zu bewältigen. Jürgen Trittin, Ludger Volmer oder Kerstin Müller traten zwar als rhetorische Speerspitze der antiinterventionistischen Mehrheit auf, aber sie konnten das pazifistische Grundmotiv vieler Delegierter nur taktisch bedienen, weil sie selbst nie Pazifisten waren und es auch heute nicht sind.

Tatsächlich teilte sich der Parteitag in drei annähernd gleichgroße Lager: erstens diejenigen, die aus grundsätzlichen Erwägungen jedwede Beteiligung der Bundesrepublik an militärischen Einsätzen in Bosnien oder anderswo ablehnen; zweitens diejenigen, die mit Blick auf die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bündnisgrünen die Tür zu Blauhelmeinsätzen (mit leichter Bewaffnung und dem Recht zur Selbstverteidigung) öffnen wollten - auch wenn Ludger Volmer im Verlauf der Debatte den Begriff "Blauhelme" wieder zurücknahm, um die Distanz zur Bundeswehr zu unterstreichen; drittens diejenigen, die militärische Interventionen unter der Regie der Vereinten Nationen zur Beendigung von Völkermord-Kriegen für legitim halten, wenn die zivilen Mittel der Konfliktvermeidung und Aggressionsabwehr nicht greifen.

Daß diese Auffassung in der ersten Abstimmungsrunde 37 Prozent der Delegiertenstimmen auf sich vereinigte, war gegenüber ihrer verschwindenden Minderheitsposition auf dem Bonner Sonderparteitag zu Bosnien vor gut zwei Jahren fast eine innerparteiliche Revolution. Aber gleichzeitig waren die emotionalen und politischen Widerstände bei der Mehrheit der Delegierten so heftig wie bei keiner anderen Frage grüner Politik.

Dabei ist diese Mehrheit alles andere als homogen. So verbünden sich überzeugte PazifistInnen, die mit ethischen Argumenten gegen jedwede militärische Politik streiten, mit Traditionslinken, die nie pazifistisch waren, für die aber der "Antiimperialismus" zum Kernbestand ihrer politischen Identität gehört. Es ist immer wieder verblüffend, wie ehemalige Landesminister, die sich anheischig machen, Seite an Seite mit Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder die Macht in Bonn zu übernehmen, die Dämonen des deutschen Militarismus beschwören, der unter der Obhut von Kohl und Rühe mit großen Zapfenstreichen wiederaufersteht.

Ludger Volmer ging gar so weit, im Zusammenhang mit NATO- und Bundeswehr-Einsätzen in Bosnien Parallelen zu Sarajevo 1914 zu ziehen. Für die republikanischen Bosnier drängten sich in den letzten Jahren allerdings ganz andere historische Reminiszenzen auf - zum Beispiel an die verzweifelte Selbstverteidigung der spanischen Republik gegen den Franco-Faschismus mitsamt der Gleichgültigkeit der bürgerlichen Demokratien Europas gegenüber ihrem Schicksal. Und es waren Überlebende des Holocaust, die sich angesichts der zusammengeschossenen und ausgehungerten republikanischen Enklaven, angesichts der Massaker an der muslimischen Bevölkerung an das Warschauer Ghetto erinnert fühlten und zur Intervention aufriefen, um den Genozid zu stoppen - längst vor Srebrenica.

Daß man seiner Grundeinstellung als Pazifist treu bleiben und dennoch in Ausnahmesituationen bewaffnete Interventionen der Staatengemeinschaft zur Beendigung völkermörderischer Kriege akzeptieren kann - diese Botschaft kam bei der Mehrheit von Bremen genausowenig an wie der empirische Hinweis, daß erst die NATO-Luftangriffe nach dem Massenmord von Srebrenica und die damit einhergehende Offensive der bosnischen und kroatischen Armee die serbischen Extremisten an den Verhandlungstisch zwangen und das Tor für eine politische Lösung aufstießen. Zu groß war die Befürchtung, daß die "Interventionisten" am Ende nur die moralische Legitimation für weltweite Interventionen der NATO oder der WEU liefern könnten: wer dem Militär auch nur den kleinen Finger reicht, gerät unweigerlich in den Sog der "militärischen Logik" und landet bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten wie weiland 1914 die Sozialdemokraten ...

Wenn es eine Kontinuität zwischen der Bewegung gegen Wiederaufrüstung und Atomtod in den fünfziger Jahren und der Friedensbewegung der achtziger Jahre gibt, dann in der "ohne uns"-Haltung und der Identifikation mit dem legendären "Sag Nein", wenn in Deutschland erneut zum Krieg getrommelt wird. Daß dieses "Sag Nein" fragwürdig wird (um es vorsichtig auszudrücken), wenn es nicht um einen Eroberungskrieg geht, sondern um eine Aktion der Vereinten Nationen zur Beendigung eines völkermörderischen Krieges, geht für viele schon an die Substanz ihrer Überzeugungen.

Der Hinweis, daß eine "ohne uns"-Haltung das Gegenteil von Internationalismus darstellt und in eine beunruhigende Nähe zu nationalem Egoismus gerät, wird erst recht als Provokation empfunden. Diese Nähe blitzt noch auf, wenn Jürgen Trittin sich die Bundesrepublik als eine große Schweiz wünscht - laß doch die anderen Kriege führen, Du, friedliches Deutschland, bleibe neutral und treibe Handel mit allen. Kein Zufall, daß ihm nicht die skandinavischen Staaten in den Sinn kamen, die trotz (oder wegen!) ihrer demokratischen und zivilen Verfassung seit Jahrzehnten eine aktive Rolle bei humanitären Missionen der Vereinten Nationen spielen - auch mit Soldaten. Die "deutsche Geschichte" jedenfalls mag als Begründung für alles mögliche dienen - aber schwerlich für eine "ohne uns"-Politik, wenn es um Nothilfe gegen Völkermord geht.

Geradezu makaber wird diese Haltung jetzt im Konflikt um die bundesdeutsche Beteiligung an der internationalen Friedensmission in Bosnien. Man kann mit Fug und Recht den Friedensschluß von Dayton kritisieren, der in Wahrheit nur ein erzwungener Waffenstillstand ist. Vor allem ist dieser Friedensschluß bitter, weil er die Weichen für eine faktische Zweiteilung der bosnischen Republik zwischen Serbien und Kroatien stellt. Das alles sind aber keine Argumente, die Beteiligung an der NATO-Mission im Rahmen des UN-Mandats zu verweigern. Gerade weil das Kriegsende erzwungen wurde, muß der Frieden durch internationale Truppenpräsenz abgesichert werden. Dabei wird ein Jahr nicht reichen, neues Vertrauen zu bilden, demokratisch legitimierte Institutionen zu schaffen, die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau über die neu gezogenen Grenzen hinweg so weit in Gang zu bringen, daß der Friedensprozeß eine unumkehrbare Eigendynamik bekommt.

Vollends absurd wird es, wenn dieser klassische Auftrag zur Friedenssicherung im Einverständnis aller beteiligten Staaten jetzt mit einer Rhetorik gegeißelt wird, als ob es sich um eine "Militärintervention" handele. In Bosnien geht es jetzt gerade nicht um den Streitfall, der auf dem Bremer Parteitag verhandelt wurde - eine militärische Intervention, um die Beendigung eines Auslöschungs-Kriegs zu erzwingen. Wer diesen Einsatz kritisiert, kann dafür kaum außen- und sicherheitspolitische Argumente (und schon gar keine Alternativen) benennen, sondern beschwört fatalistische Ängste nach dem Muster: wer dem Einsatz von Bundeswehr-Einheiten für friedenserhaltende Missionen zustimmt, legitimiert damit den ganzen Rattenschwanz von Rüstung und globaler Interventionspolitik ...

Außen- und Sicherheitspolitik ist bei den Bündnisgrünen das letzte Feld, in dem Politik von einer Mehrheit der Partei nicht als offenes Kräftespiel verstanden wird; als ein Konflikt der Interessen und Meinungen, dessen Ausgang nicht von vornherein feststeht. Weil die USA, die NATO, die Bundesrepublik in dieser Sicht "wesenhaft" imperialistisch, militaristisch et cetera sind, darf man sich erst gar nicht auf die konkrete Auseinandersetzung um Militärpolitik, Sicherheitssysteme, UN-Kontingente und Out-of-area-Einsätze der NATO/Bundeswehr einlassen, sondern muß auf einem prinzipiellen Nein beharren. Nur auf diesem Feld setzt eine grüne Parteitagsmehrheit noch Utopie und Politik in eins.

Bei Licht besehen, sind die Grünen noch ganz am Anfang, eine eigene Außenpolitik zu entwickeln, die sich auf staatliches Handeln und internationale Institutionen bezieht. Wir müssen hier noch einen Prozeß nachholen, den wir in der Innen- und Gesellschaftspolitik längst vollzogen haben. Das ist allerdings dringend notwendig, wenn die rot-grüne Perspektive für 1998 ernst gemeint sein soll. Ohne außen- und sicherheitspolitisches Vertrauen keine Mehrheit. Und wer glaubt, bei der Bundestagswahl 1998 Helmut Kohl mit der Programmatik von 1990 doch noch besiegen zu können, wird erneut Schiffbruch erleiden. Hoffen wir, daß Lafontaine und die Grünen dieser Versuchung zur politischen Regression nicht erliegen.

Wer sich in die Außenpolitik der "Berliner Republik" einmischen will, muß auch die Frage beantworten, in welchen Situationen und unter welchen Bedigungen die Bundesrepublik sich an Out-of-area-Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Wer sich dieser Frage verweigert, überläßt ihre Antwort den Konservativen und der Bundeswehr-Generalität.

Dabei eignet sich Außen- und Sicherheitspolitik am allerwenigsten für Modellschreinerei nach dem Muster "die Welt als Wille und Vorstellung". Sie muß sich nämlich auf die Interessen und die Politik anderer Staaten (innerhalb und außerhalb der NATO und der Europäischen Union) beziehen und sie ernst nehmen, statt die eigenen Wünsche zum Maßstab aller Dinge zu machen. Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn wir uns mehr für die außenpolitischen Positionen der europäischen Grün-Alternativen interessieren würden - dann hätte der grüne Bundesvorstand vielleicht gemerkt, daß er sich mit seiner Mehrheitsposition in der Bosnien-Frage ziemlich allein auf weiter Flur befindet. Es geht eben doch um ein sehr deutsches Phänomen.

Siehe auch die Dokumentation auf S. 39