Arbeitsgesellschaft und Republik: Eine Verbindung, die schwächer wird

Das Gemeinweisen braucht Bürgerinitiativen

Willfried Maier

Um unter den gegebenen Verhältnissen auf einen bedeutenden Rückgang der Arbeitslosigkeit zu setzen, muß man von Wachstumsraten träumen, mit denen niemand rechnen kann. In den 80er Jahren wurde davon geredet, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe und darauf gehofft, daß damit auch der Arbeitsgesellschaft die Legitimation entzogen werde. Jetzt geht zwar die bezahlte Arbeit aus, die Arbeitsgesellschaft aber verschärft ihre Ansprüche und grenzt die Arbeitslosen verstärkt auch als Bürger aus. Wo niemand eine Systemalternative zur Hand hat, wird die Verteidigung der Bürgergesellschaft gegen die verheerenden Auswirkungen eines sich befreienden Kapitalismus umso dringlicher. So unscheinbar Reformvorschläge erscheinen, so schwer sind sie zu verwirklichen. Willfried Maier und Hendrik Auhagen versuchen bei ihren Vorschlägen, diese Kluft zu überbrücken, indem sie nach einem neuen Verhältnis von Selbsttätigkeit und allgemeinem Interesse suchen. Es geht ihnen um gesellschaftliche Mobilisierung in Zeiten politischer Lähmung und damit auch um die Existenzberechtigung der grünen Partei.

Die moderne Gesellschaft ist Arbeitsgesellschaft. Damit ist gemeint, daß im Prinzip alle Mitglieder der Gesellschaft in den arbeitsteiligen Zusammenhang einbezogen sind, der die Gesellschaft bildet und der über Marktbeziehungen vermittelt ist. Das waren zunächst nur die Männer. Da hinein drängen aber immer ausnahmsloser auch die Frauen. Der Grund dafür: Durch die aktive Teilnahme am arbeitsteiligen Prozeß wurde und wird nicht nur Einkommen und Selbstbewußtsein erworben. Dadurch nehmen die Arbeitsbürger auch teil an der "organischen Solidarität", wie sie von Durkheim als moralische Grundlage industrieller Gesellschaften Anfang dieses Jahrhunderts beschrieben wurde.

Langanhaltende und sich ausweitende Arbeitslosigkeit wirft deshalb nicht nur Armutsprobleme auf. Sie führt bei den von ihr Betroffenen der Tendenz nach auch zu einem Ausschluß aus dem Bürgerstatus. Die Leute verlieren nicht nur Job und Einkommen, sondern auch den öffentlichen Raum, der für das Normalmitglied in der Arbeitsgesellschaft zählt. Häufig genug ist die bei vielen Langzeit-Arbeitslosen zu beobachtende Scham beschrieben worden: Sie verbergen sich, werden unsicher, verlassen ungern die Wohnung, wagen sich nicht mehr unter die Menschen. Ein Mensch, der in diese Lage gerät, stirbt eine Art gesellschaftlichen Tod, wenn man davon ausgeht, daß Leben soviel bedeutet wie "Inter homines esse" - Unter Menschen sein.

Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, daß es von allen Lebewesen nur den Menschen eigen ist, sich selbst von anderen zu unterscheiden und eventuell vor ihnen auszuzeichnen, indem sie sprechen und handeln und in diesem Sprechen und Handeln zugleich ihre Einzigartigkeit enthüllen. Dazu bedarf es immer eines aktiven In-Erscheinung-Tretens, einer Initiative. In der Arbeitsgesellschaft ist die Legitimationsgrundlage für solches Sprechen und Handeln vor und mit anderen wesentlich die Teilnahme am Arbeitsprozeß. Wer sie verliert, dem ist die Chance und der Mut zu aktivem In-Erscheinung-Treten stark beschnitten. Er nimmt an einem entscheidenden Modus des Mensch-Seins nur unter massiv erschwerten Bedingungen teil.

Die Folgen dieses Ausschlusses bleiben den aktiven Mitgliedern der Arbeitsgesellschaft überwiegend verborgen. Sie nagen an den Ausgeschlossenen ja meist in ihrer Zurückgezogenheit, zerstören dort bei vielen Selbstachtung und Willen. Die arbeitende Gesellschaft wird mit Folgen nur konfrontiert, wenn diese als Störung der öffentlichen Ordnung in Erscheinung treten. Sei es durch Bettler in den Innenstädten, durch öffentlich wahrnehmbare Sucht- und Drogenprobleme, durch Jugendgangs mit Neigung zur Randale, durch Kriminalität. Die spontane Reaktion ist dann häufig der Ruf nach Beseitigung dieser Störung.

Wenig Aussichten auf Vollbeschäftigung

Die überlegtere Reaktion lautet regelmäßig: Nicht die Erscheinungen, sondern die Ursachen bekämpfen! Wobei als Ursache für viele dieser Erscheinungen eben Arbeitslosigkeit und Armut genannt werden. Aber auch damit ist man noch nicht viel weiter. Denn so wenig die einen mit Hilfe der Polizei die "Erscheinungen" aus der Welt schaffen können, so wenig sind die anderen in der Lage, die Ursachen, also die Arbeitslosigkeit, zu beseitigen. Beide Antworten bleiben zudem ganz innerhalb des Horizonts der Arbeitsgesellschaft: Die eine will die Folgeprobleme von Funktionsstörungen der Arbeitsgesellschaft gewaltsam beseitigen. Die andere beschwört die Wiederherstellung ihres normalen Funktionierens.

Die klassische Wachstumspolitik erscheint aussichtslos, weil nicht nur die Arbeitsproduktivität langfristig rascher wächst als das Sozialprodukt, sondern weil zudem der Kapitalaufwand pro Arbeitsplatz ebenfalls schneller zunimmt als das Sozialprodukt. Soll unter den Bedingungen die Zahl der Arbeitsplätze auch nur gleichbleiben, so müßte die gesellschaftliche Investitionsquote ständig zunehmen, was aber typischerweise in reifen Volkswirtschaften nicht der Fall ist. Das Arbeitsplatzversprechen der Wachstumspolitiker hängt also in der Luft.

Besser könnte es aussehen, wenn es der Arbeitsmarktpolitik gelingen würde, die Arbeitszeit in großen Schritten zu verkürzen und damit zusätzliche Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt auszulösen. Da das aber nicht mit vollem Lohnausgleich einhergehen kann, bleibt die politische Kraft hinter einer solchen Politik vorläufig zu gering.

Damit bleibt also vorläufig nicht viel Hoffnung, daß es gelingen wird, die Arbeitsgesellschaft für alle entweder auf Basis der vollen oder einer verringerten Arbeitszeit wiederherzustellen.

Der überforderte Staat

Zudem ist der Staat, der diese Normalität wiederherstellen soll, davon in doppelter Weise überfordert: Als Nationalstaat schwinden seine Handlungsmöglichkeiten gegenüber internationalen Unternehmen, dem internationalen Kapitalmarkt und sich internationalisierenden Arbeitsmärkten. Seine Versuche, wirtschaftspolitisch auf Vollbeschäftigung zu steuern, greifen ins Leere.

Und zugleich sind die politischen Formen der Arbeitsgesellschaft in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger von einem Bedeutungs- und Identifikationsverlust betroffen, der ebenfalls die Handlungsmöglichkeiten des Staates verringert.

Die politischen Formen der parlamentarischen Parteiendemokratie sind darauf berechnet, daß die Mehrheit der Bevölkerung eine wenigstens schwache Identifikation mit einer der Parteien oder Parteiengruppen eingeht, die sich im Parlament gegenüberstehen. Im Unterschied zur bürgerlichen Demokratie des 19. Jahrhunderts, die den besitzlosen Teil der Bevölkerung vom Wahlrecht ausschloß, ist die moderne Massendemokratie auf politischen Einschluß der Gesamtbevölkerung angewiesen.

Aber dieser Einschluß hat nie bedeutet, daß diesen Massen außerhalb der Wahlen nennenswerte Felder für politische Tätigkeiten eingeräumt wurden. Das Tätigkeitsbedürfnis (soweit vorhanden) und das Identifikationsbedürfnis mit den Akteuren auf der nationalen Bühne wurden vielmehr über die politischen Parteien oder über die Gewerkschaften gleichsam vorstaatlich kanalisiert. Für die meisten aber bestand die Teilnahme an der Arbeitsbürgerschaft vor allem darin, daß man arbeitete und konsumierte. Und die Legitimation des Staates und der ihn abwechselnd regierenden Parteien bestand darin, daß sie beides immer besser möglich machten.

Dieses klassische Repräsentationsmuster der europäischen Massendemokratien zerbröselt gegenwärtig. Die wachsenden konsumtiven Möglichkeiten haben breiten Schichten der Bevölkerung Wahlchancen hinsichtlich verschiedener Lebensstile eröffnet, geschlossene Milieus zersetzt und tradierte Identifikationen mit Parteien untergraben: "Politikverdrossenheit" grassiert. Für viele Bürgerinnen und Bürger findet Politik kaum mehr statt. Sie leben ganz und gar als Privatleute und urteilen auch als Privatleute, etwa über Politik und Politiker nach ihrem Unterhaltungswert. Soziologen beschreiben den ganzen Vorgang gerne als wachsende Individualisierung.

Diese Individualisierung enthält auf der einen Seite ein Element der Befreiung von vorgegebenen Mustern und alten Autoritäten. Sie bringt aber zugleich auch einen Verlust an gemeinsamer Handlungsfähigkeit. Das ist eine gefährliche Situation. Denn eigentlich wäre ja eine größere politische Handlungsfähigkeit gefordert als sie die klassischen europäischen Nationalstaaten und ihre Parteien und Gewerkschaften hatten. Denn trotz aller subjektiv erfahrenen Individualisierungsschübe besagt ja der Fortschritt in der Globalisierung der Ökonomie, daß sich tatsächlich die gegenseitige Abhängigkeit der Individuen voneinander ausgeweitet und intensiviert hat.

Die Krise des Sozialstaats

Insbesondere nimmt die Fähigkeit der europäischen Nationalstaaten ab, ihre sozialstaatlichen Einrichtungen und Standards zu verteidigen. Die aber sind zumindest in der Sicht der Westeuropäer nicht irgendein beliebiger Teil des Staates, sondern machen für die meisten Bürgerinnen und Bürger der Arbeitsgesellschaft die Substanz des Staates überhaupt aus.

Das war im vergangenen Jahrhundert bei einer mehr bäuerlichen Bevölkerung noch anders. Marx beschrieb etwa für den nachrevolutionären französischen Nationalstaat, daß dessen Substanz in den Augen der Mehrheitsbevölkerung in der Garantie des kleinen Landbesitzes und in der Armee der allgemeinen Dienstpflicht lag.

Der moderne Sozialstaat ist Ausfluß der organischen Solidarität wie sie Durkheim als moralische Grundlage von arbeitsteiligen Industriegesellschaften beschrieben hatte. Schon häufig ist gezeigt worden, wie insbesondere die Sozialversicherungssysteme bis heute am Lohnverhältnis anknüpfen: Die Ansprüche an den Sozialstaat sind weitgehend gebunden an aktive Teilnahme an der Arbeitsgesellschaft. Und nur soweit das der Fall ist, erscheinen die Leistungen des Sozialstaats vom Standpunkt der Arbeitsgesellschaft aus als legitim.

Heute, wo immer mehr Menschen aus der Integration in die Arbeitsgesellschaft herausfallen, besteht die eine Seite des Problems darin, daß sie Gefahr laufen, vom verbleibenden Rest nur noch als Parasiten am Sozialstaat betrachtet zu werden. Es wächst die Neigung, die vom Arbeitsprozeß Ausgeschlossenen und aus der Öffentlichkeit herausgedrängten Arbeitslosen auch noch aus der gesellschaftlichen Alimentation herauszuwerfen. In den USA ist diese Tendenz schon Gesetz geworden: Unter Berufung auf Stärkung der Arbeitsmotivation bei den vom Arbeitsprozeß Ausgeschlossenen ist die Sozialhilfegarantie des Bundes gestrichen worden.

In Deutschland ist ins Bundessozialhilfegesetz die Bestimmung eingebracht worden, daß Sozialhilfeempfängern, die sich "zumutbarer Arbeit" verweigern, ihr Einkommen um 25 Prozent gekürzt wird. Diese Regelung, die im Bundestag eine Mehrheit fand, dürfte auch im arbeitenden und steuerzahlenden Teil der deutschen Gesellschaft mehrheitsfähig sein. Noch wird ihre Umsetzung glücklicherweise blockiert, weil viele Kommunen sich weigern oder auch gar nicht in der Lage sind, solche "zumutbaren Arbeiten" anzubieten. - Die eine Seite des Problems besteht also in der wachsenden Neigung zum Ausschluß der Ausgeschlossenen auch von sozialen Leistungen.

Die Krise des Steuerstaats

Die andere Seite besteht darin, daß es immer schlechter gelingt, den Sozialstaat zu finanzieren. Das liegt einmal daran, daß er teurer wird, je mehr Menschen vom Arbeitsprozeß ausgeschlossen sind und alimentiert werden müssen. Es liegt aber vor allem daran, daß es immer schwieriger wird, die Steuerbasis für den Sozialstaat zu sichern.

Die Zahlung von Steuern und Beiträgen ist bekanntlich die einzige Solidarbeziehung, die zwischen den aktiven Teilhabern an der Arbeitsgesellschaft und dem aussortierten Rest besteht. Und dieses Band ist locker und sehr dehnbar.

Bei den Beiträgen zur Sozialversicherung sind die Unternehmen dabei, ihre hälftige Beteiligung als unerträgliche Belastung in der internationalen Konkurrenz abzuschaffen. Das ging bei der Pflegeversicherung los und kostete den Buß- und Bettag. Heute geht es bei der Krankenversicherung weiter. Um so deutlicher landen die Lasten der Arbeitslosigkeit wie auch die Lasten der Wiedervereinigung bei den Lohnempfängern. Deren Bereitschaft zur Solidarität mit den vom Arbeitsprozeß Ausgeschlossenen wird damit extrem auf die Probe gestellt.

Noch schwieriger entwickelt sich dieses Problem bei den Steuern. Hier ist eine Situation geschaffen worden, wo der zahlungsfähigste Teil der Nation, die Unternehmen und die wohlhabenden und reichen Schichten, die diese Unternehmen besitzen, sich von den Steuerzahlungen immer mehr freistellen können. Von 1985 bis 1995 sind die Unternehmensteuern von 15,3 Prozent auf nur noch 8,4 Prozent des gesamten Steueraufkommens zurückgegangen (Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Vermögensteuer). In Hamburg, einer der reichsten Städte Europas, ist die Zahl der steuerlich deklarierten Einkommensmillionäre zwischen 1989 und 1992 von 878 auf 1140 Personen angestiegen. Die von ihnen insgesamt gezahlten Einkommensteuern aber sind von 1,862 Milliarden Mark auf 1,369 Milliarden DM zurückgegangen (Statistisches Landesamt).

Dazu hat maßgeblich die Steuerpolitik der gegenwärtigen Bundesregierung beigetragen. Aber die findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern in einer Situation, in der sich die Nationalstaaten gegenüber dem international hoch beweglich gewordenen Kapital einen Steuersenkungswettbewerb liefern. Das bietet insbesondere den sehr großen Vermögen und Einkommen die Möglichkeit, den nationalen Steuern auszuweichen und niedrige Sätze zu erzwingen.

Im Resultat ist die Steuerlast für die Bezieher normaler Arbeitseinkommen deutlich gestiegen. Obwohl die Arbeitslosigkeit zunahm, ist der Anteil der Lohnsteuer am gesamten Steueraufkommen von 1984 bis 1995 von 32,8 Prozent auf 34,7 Prozent gestiegen. Das Aufkommen der den Konsum belastenden Mehrwertsteuer verdoppelte sich seit 1985 von 11,8 auf 24,4 Prozent des steuerlichen Gesamtaufkommens. Hier hat es den stärksten Zuwachs bei der Belastung der Masseneinkommen gegeben. Und die Beiträge zu den Sozialversicherungen stiegen in diesen zehn Jahren von 14,4 auf 16,3 Prozent der Bruttolohn- und -gehaltssumme (alle Angaben aus Statistischen Jahrbüchern von 1986 bis 1996).

All diese wachsenden Lasten tragen inzwischen nahezu ausschließlich die Normalverdiener in der Republik, Leute mit eher knappem bis allenfalls gehobenem Einkommen. Es liegt auf der Hand, daß die über diese Lasten stöhnen und der aus den Oberschichten inszenierte Steuersenkungsdiskurs bei ihnen auf wachsende Sympathie stößt. Damit verschlechtern sich aber die Chancen, für eine Steuerpolitik, die den Sozialstaat in seinen bisherigen Standards sichert, gesellschaftlich eine Mehrheit zu finden. Denn dazu müßten nicht nur die Steuern gerechter verteilt, sie müßten auch insgesamt erhöht werden.

Die Identität von Arbeitsgesellschaft und Republik löst sich auf

Wenn man all diese schlechten Botschaften zusammennimmt:

-- sich verfestigende und langfristig zunehmende Arbeitslosigkeit,

-- Verlust an Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber sich globalisierendem Kapital,

-- Verlust an politischer Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft wegen wachsender Individualisierung und Privatisierung und damit Legitimationseinbußen bei Staat, Parteien und Gewerkschaften,

-- Verlust an Mehrheitsfähigkeit für eine Umverteilungspolitik zugunsten des Sozialstaats,

dann ist eine bestimmte Gestalt der Organisation des Sozialen und der Politik offenbar ans Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gekommen. Die nationale Arbeitsgesellschaft als Basis des Sozialen und der Massendemokratie ist nicht mehr genügend tragfähig.

Das heißt nicht, daß der Sozialstaat und die parlamentarische Massendemokratie verzichtbar wären und vernachlässigt werden dürften. Ganz im Gegenteil: Sie müssen verteidigt, sie müssen aber auch ergänzt werden, weil absehbar ist, daß sie trotz aller Verteidigungsanstrengungen erodieren.

Es geht darum, über den Horizont der Arbeitsgesellschaft hinaus zu denken. Deren moralische Gefühle konnten als solche der organischen Solidarität beschrieben werden, die auf der Arbeitsteilung beruht. Ihren Ausfluß fand sie vor allem in der wachsenden Bedeutung kooperativer Rechtsformen, also insbesondere in der Ausdehnung des Vertragsrechts. Aus der Perspektive des Jahrhundertendes können wir ergänzen, daß es vor allem die Ausdehnung von kollektiven Vertragsformen und sozialen Anspruchsrechten war, in denen sich die organische Solidarität der Industriegesellschaften materialisiert hat.

Wenn heute die Einbeziehung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung für die einen gar nicht mehr stattfindet, für die anderen gegenüber den privaten Tätigkeiten in der Freizeit an Bedeutung verliert, dann wird auch die organische Solidarität als moralische Grundlage des Sozialen weniger erfahrbar und belastbar. Dann muß für das Soziale wenigstens teilweise eine neue Basis gefunden werden. Es kann dann nicht mehr nur begründet sein in der Teilnahme an der Arbeitsgesellschaft. Es muß zusätzlich gesucht werden in der Fähigkeit von Bürgerinnen und Bürgern zur freien Assoziation für gemeinsame Angelegenheiten.

In der grünen Parteidebatte hat der Gedanke von einer Neubegründung des Sozialen jenseits der Arbeitsgesellschaft bisher eine Rolle gespielt in der Idee einer bedarfsorientierten Grundsicherung. Diese sollte urspünglich mit erworbenen Ansprüchen aus dem Arbeitsleben gar nicht mehr in Verbindung stehen, sondern rein steuerfinanziert sein. So schön die Idee ist: Sie hat einen Haken! Es wird nicht mitgedacht, aus welcher Quelle eigentlich die soziale Verpflichtung entstehen soll, die mit der Grundsicherung dann in Anspruch genommen wird. Das Soziale ist nicht einfach da. Es muß als allgemein geteiltes moralisches Gefühl und als gesellschaftliche Selbstverständlichkeit geschaffen werden. Und das geschieht nicht durch einen einmaligen Akt, sondern kann nur durch eine kontinuierliche gesellschaftliche Praxis geschehen.

Subsidiarität erschließt keine neuen sozialen Bezüge

Wenn die Arbeitswelt als Praxisfeld für die Entstehung des Sozialen nicht mehr genügend tragfähig ist, dann muß der Versuch gemacht werden, es zugleich aus einer anderen sozialen Praxis zu begründen. Konservative Sozialpolitiker gehen bei dieser Suche gerne hinter die arbeitsteilige Gesellschaft zurück auf ältere Formen des Sozialen, insbesondere die Familie. Das nennt sich dann Subsidiaritätsprinzip und ist der Schrecken insbesondere für viele Frauen.

Tatsächlich erodieren diese älteren sozialen Formen aber nicht weniger als die arbeitsgesellschaftlichen selber. Eher im Gegenteil: Gerade in den großen Städten verlieren die Familien an Stabilität und sozialer Tragfähigkeit, wenngleich auch sie - ebenso wie der Sozialstaat - nach wie vor unverzichtbar sind. Man kann in ihnen aber keine neuen, zusätzlichen Quellen des Sozialen finden.

Neue, zusätzliche Quellen des Sozialen können nur jenseits der Arbeitsgesellschaft liegen, in Formen der Vergesellschaftung, die weder traditional sind wie die Familie noch funktional und quasi-sachgesetzlich wie Arbeitsteilung und Marktvergesellschaftung. Es müssen Formen sein, welche die Individuen frei eingehen und in denen sie sich als Personen aktiv entfalten können. Indem Menschen das tun, etwa indem sie Bürgerinitiativen bilden, bringen sie aber zugleich neue politische Bezüge untereinander hervor.

Bürgerinitiativen als freie Assoziationen

Meine These lautet also: Der Sozialstaat, der sich auf die Arbeitsgesellschaft gründet, muß ergänzt werden durch soziale Initiativen, die aus freier Assoziation, das heißt aus unmittelbar politischen Bezügen hervorgehen. Damit könnten diese Initiativen zwei Dinge gleichzeitig erreichen: Sie verstärkten die gegenseitigen sozialen Verpflichtungen in der Gesellschaft, und sie erweiterten den politischen Raum, weil sie zusätzliche Handlungsbezüge zwischen den Bürgerinnen und Bürgern herstellten.

Was sie allerdings nicht erreichen können, das ist die Wiedereinbeziehung der Arbeitslosen in die Arbeitsgesellschaft. Bürgerinitiativen sind keine Arbeitsmarkt- und keine Wirtschaftspolitik. Ob diese allerdings in der Lage sind, das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, ist ja aber ebenfalls zweifelhaft.

Das muß aber kein Grund sein, deswegen in eine bloß deklamatorische Politik bei praktischer Passivität zu versinken. Damit wäre den aus der Arbeitsgesellschaft Ausgeschlossenen nicht geholfen, und die Erosion der Solidarbeziehungen würde ebensowenig gestoppt wie der politische Muskelschwund der Gesellschaft.

Dies zu erreichen ist aber durch soziale Bürgerinitiativen möglich. In Hamburg hat eine Bürgerinitiative das Projekt der Obdachlosenzeitschrift Hinz und Kunzt gestartet. Die Obdachlosen verwandeln damit ihre Existenz auf dem Pflaster der Straßen und Plätze durch Verkauf der Zeitschrift in einen öffentlichen Auftritt in eigener Sache. Viele Bürgerinnen und Bürger haben darüber erstmals Kontakt mit diesen Obdachlosen aufgenommen und größere oder kleinere Hilfen geleistet. Die Verkäufer verdienen sich einige Mark zur Sozialhilfe dazu. Und sie gewinnen nicht nur individuell an Selbstvertrauen, sondern haben auch als Gruppe mehr Gewicht als vorher. Als Einzelhandelsverband, Innensenator und Bürgermeister kürzlich den Versuch starteten, die Bettler aus der Hamburger Innenstadt zu vertreiben, mußten sie sich vor der unvermutet solidarischen Reaktion der meisten Bürgerinnen und Bürger mit den Armen zurückziehen. Dazu hat nicht unwesentlich die Initiative Hinz und Kunzt beigetragen, die den Straßenbewohnern eine öffentliche Existenz verschafft hat.

Ansätze für freie Bürgerzusammenschlüsse gibt es zahlreiche. Von Bürgerinitiativen über Selbsthilfegruppen bis zu Tauschbörsen oder Vereinen. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß Bürgerinnen und Bürger sich um Angelegenheiten zusammentun, die ihnen gemeinsam sind. Das kann eine politische Forderung sein an eine staatliche Instanz (Stillegung der AKWs). Häufig ist es die Abwehr einer von Staats wegen geplanten Maßnahme (Volkszählungsboykott). Es kann sich darum handeln, eine Einrichtung zu schaffen und gemeinsam zu betreiben (Kinderläden, Jugendzentren). Es kann ein Verein sein, der Spenden sammelt und Hilfe organisiert, wo staatliche Hilfe nicht gewährt wird oder nicht ausreicht (Flüchtlingshilfen). Es kann eine Gruppe von Leuten sein, die sich in Selbsthilfe Wohnraum schafft und vielleicht noch ein Angebot an den Stadtteil.

Solche Politikpotentiale unterhalb des Staates und jenseits der bloß individuellen privaten Handlungsspielräume werden als Feld der "Bürgergesellschaft" beschrieben. Pate gestanden hat dafür Tocquevilles Entdeckung der amerikanischen Fähigkeit und Bereitschaft zu kommunalen Gemeinschaftsbildungen und Vereinigungen im vergangenen Jahrhundert. Oder es wird angeknüpft an die europäische Tradition des subsidiären Handelns durch Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Vereine oder Genossenschaftsbewegungen.

Die gemeinsamen Dinge müssen nicht nur besprochen, sie müssen auch gemeinsam hergestellt werden

Tocquevilles Beobachtungen in den Vereinigten Staaten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts bezogen sich auf eine Situation, die von der europäischen in einem wesentlichen Punkt unterschieden war. Die europäischen demokratischen Revolutionen fanden den zentralisierten bürokratischen Staat schon vor und nahmen ihn in Besitz. Sie funktionalisierten dieses vom Absolutismus geschaffene Werkzeug für ihre Zwecke und erweiterten diesen Apparat zu Anfang dieses Jahrhunderts um Sozialversicherungssysteme und Sozialverwaltungen, denen gegenüber die Bürgerinnen und Bürger als einzelne Rechte haben und Leistungen beanspruchen können.

Dieser Apparat fehlte im nachkolonialen Amerika weitgehend. Statt dessen beobachtete Tocqueville bei den Amerikanern eine bemerkenswerte Fähigkeit , sich zu Vereinigungen und sozialen Initiativen zusammenzuschließen. Diese Vereinigungen und Gemeinschaftsbildungen übernahmen auf der lokalen Ebene Aufgaben, die in Europa vom bürokratischen Staatsapparat organisiert wurden, zum Beispiel das Schulwesen, den Ortssheriff, aber auch Anlage von Wegen, Erstellung öffentlicher Gebäude et cetera. Das heißt, die nachkolonialen Amerikaner stellten nicht nur soziale Kommunikationsbezüge, sondern ganz handgreiflich auch einen großen Teil der ihnen gemeinsamen Dinge gemeinsam her. Sie bauten sich gewissermaßen ständig ihre öffentliche Sphäre, nicht als ein bloß intellektuelles, sondern als ein praktisches Thema.

Eine solche gemeinsam hergestellte öffentliche Sphäre besteht in modernen Gesellschaften bis auf Ausnahmefälle nicht mehr. Wo sie früher bestand, ist sie verdrängt worden durch die produktivere Lohnarbeit und die für gezielte Aufgabenerledigung effizientere Bürokratie.

Bürgerinitiativen zur sozialen und ökologischen Selbsthilfe werden notwendiger

Durch die Ausweitung von Lohnarbeit und von Bürokratie konnte lange Zeit auch der Verlust an sozialer Integration und Gemeinschaftsbildung überspielt werden. Solange die Konsumtionsmöglichkeiten und damit die individuellen Verhaltensfreiheiten ständig wuchsen, wurde der Verlust an unmittelbarer sozialer Handlungsfähigkeit kaum gespürt, zumeist sogar als Erleichterung und Befreiung von lästigen Verpflichtungen empfunden. Mit der Krise der Lohnarbeit und der darauf zurückgehenden Krise des Sozialstaates könnte sich aber das Bild ändern.

Gemeinsame Selbsthilfe wird zu einem immer wichtigeren Weg werden, um die Folgen von Sozialstaatsverlusten abzufangen und zugleich die Fähigkeit zu neuer politischer Initiative zu gewinnen.

Dabei werden die Bürgerinitiativen allerdings ihren Charakter verändern. Vorherrschend sind meist noch Initiativen, die Forderungen an den Staat richten, entweder daß er eine bestimmte Maßnahme unterläßt oder sie einem Privaten verbietet, wie den Bau eines AKW oder einer Straße. Oder die Initiative fordert eine Leistung des Staates, etwa bessere Mittelausstattung an den Schulen, Bau eines Kindergartens, Förderung eines Beratungsprojekts für Frauen. Die Initiative mobilisiert die Öffentlichkeit und erzeugt darüber genügend Druck, damit der Staat als Bürokratie entweder in dem gewünschten Sinne handelt oder die Mittel bereit stellt, damit für die Initiative einige Professionelle die gewünschte Leistung erstellen können.

In beiden Fällen ist die Haupttätigkeit der Initiative auf Erzeugung der gewünschten öffentlichen Meinung gerichtet. Die Sache, um die es geht, und die getan oder gelassen werden soll, wird vom Staat oder vom Auftragnehmer des Staates geleistet.

Bei Selbsthilfeinitiativen ist das anders: Auch hier geht es zwar um Gewinnung der öffentlichen Meinung. Aber darüber hinaus tun sich Leute zusammen, um selbst Hand anzulegen, sich selbst den Wohnraum, den Kinderladen oder das Jugendzentrum zu schaffen. In dem Maße, in dem Leistungen des Sozialstaates schwächer werden, wird dieser Typus von Selbsthilfe notwendiger. Und zwar notwendig in einem doppelten Sinn: Einmal, um die benötigte Leistung schlimmstenfalls zu ersetzen. Zum anderen aber auch, weil die Einmischung in die Erledigung einer öffentlichen Angelegenheit durch Bürgerinnen und Bürger zugleich die wirksamste Möglichkeit ist, diese Leistung zu verteidigen.

Staatliche Unterstützung ist erforderlich

Auch Initiativen dieser Art kommen nicht ohne staatliche Hilfen aus. Zum einen sind soziale Bürgerinitiativen häufig darauf angewiesen, mit Professionellen, also beispielsweise mit Lehrerinnen, Kindergärtnern, Sozialarbeitern, Ärzten, Projektentwicklern zusammenzuarbeiten. Insofern besteht zu den publikumsbezogenen Teilen des öffentlichen Dienstes eher ein komplementäres als ein konkurrierendes Verhältnis.

Zum anderen werden sie häufig genug auf öffentliche Mittel angewiesen sein, um ihre Tätigkeit aufnehmen zu können. Das geht los bei Räumen, betrifft Werkzeuge, Materialien, in manchen Fällen auch Kleidung und geht weiter bis zu Aufwandsentschädigungen und Honorierungen.

Wiederum im Beispiel: In Hamburg hat die Schulsenatorin den Eltern die verläßliche Halbtagsgrundschule versprochen. Geld dafür hat sie nicht. Der Hamburger Haushalt ist in einem so katastrophalen Zustand, daß niemand weiß, wie zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer bezahlt werden sollen.

Die Kinder in der Grundschule sollen künftig nicht nur einige Stunden Unterricht am Vormittag haben, sondern der Unterricht soll durch Spiel- und Bewegungszeiten ergänzt werden, damit sie tatsächlich den ganzen Vormittag verläßlich betreut sind. Warum sollen nicht Eltern initiativ werden können, um diese Verbesserung der Grundschule tatsächlich zu erreichen? Das müssen keineswegs nur Hausfrauen sein, deren Männer das Geld verdienen.

Man könnte sich Maßnahmen ausdenken, damit auch Mütter und Väter, die arbeitslos sind, diese Tätigkeit interessant finden. Man könnte Leute gewinnen, die auch jetzt schon bereit sind, aus Interesse für die Entwicklung ihrer Kinder auf Teilzeit zu gehen. Dazu darf man sie nicht nur Milch verkaufen und Brote streichen lassen, sondern muß ihnen erlauben und nahelegen, mit den Kindern zu spielen, ihnen zu erzählen, vorzulesen, mit ihnen Ausflüge zu machen, mit ihnen zu sprechen. Dann wird man Großeltern gewinnen, die sich zu Hause langweilen. Vielleicht pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, denen es ähnlich geht. Es könnten sich regelrechte nachbarschaftliche Bürgerinitiativen an den einzelnen Schulen entwickeln.

Es geht nicht um selbstlose Hilfe, sondern um öffentliche Tätigkeit

Die erste Anforderung an solche soziale Tätigkeiten besteht darin, daß sie öffentlich erfolgen müssen. Sie müssen gewissermaßen politischen Charakter haben. In Hamburg ging kürzlich der folgende Fall durch die Presse: Im Stadtteil Eppendorf haben sich ein älterer Kaufmann und ein Wirt daran gemacht, auf eigene Faust einen kleinen Park zu reinigen. Das vollzog sich zwar im öffentlichen Raum, war aber noch eine ganz private Initiative. Sie haben dann einige Sozialhilfeempfänger um sich geschart, die sich bereit erklärten, zusammen mit ihnen zweimal in der Woche jeweils zwei Stunden im Park kostenlos Müll aufzusammeln.

Der entscheidende Schritt aber, der aus dieser privaten Initiative eine öffentliche machte, fand statt, als die "Saubermänner" an die Öffentlichkeit gingen und in der Presse die Gründung eines Vereins ankündigten. Der hat inzwischen mit einer Beteiligung von 50 Leuten sein erstes Treffen gehabt. Damit ist eine Bürgerinitiative entstanden, zugegeben von etwas anderem Charakter als im Grünen-Umfeld in Großstädten üblich. Aber zweifellos steht eine öffentliche Tätigkeit für eine öffentliche, den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsame Sache in ihrem Zentrum. Diese öffentliche Initiative richtet sich auf eine sozial eher niedrig eingeschätzte Tätigkeit. Indem diese Leute daraus aber eine Art Bürgeramt gemacht und sie an die Öffentlichkeit gehoben haben, haben sie diesen Charakter gerade umgedreht und erwerben sich mit der sonst verachteten Tätigkeit Bürgerehren.

Der Kaufmann, der den Anfang gemacht hatte, geht einen Schritt weiter. Zur Verbreiterung seiner Initiative wünscht er sich, daß es für die Arbeit ein kleines finanzielles Zubrot geben würde, das nicht auf die Sozialhilfe angerechnet würde. Er nennt damit die neben dem Reputationsgewinn wahrscheinlich wirkungsvollste Maßregel, um Leute für öffentliche Tätigkeiten zu gewinnen. Es sollte sich allerdings nicht um ein eher verschämtes Zubrot handeln, sondern um die Entschädigung für die Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes. Man könnte es so einrichten, daß allen, die freiwillig an einem Tag in der Woche an einer anerkannten öffentlichen Tätigkeit sich beteiligen, dafür eine Bürgerdiät gezahlt wird. Und zwar aus dem gleichen Grund und mit dem gleichen Charakter, wie man Abgeordneten für ihre öffentliche Tätigkeit ein Sitzungsgeld zahlt. Wer Lust hat, mehr zu machen, tut es unentgeltlich.

Es ließen sich Hunderte von Projekten denken, wo Leute eine gemeinsame Angelegenheit in ihrem Stadtviertel gerne getan sähen, ohne daß sie zustande kommt: Mag das nun an der Borniertheit der Behörden liegen oder am Geldmangel. Von der Kinderbetreuung über die Schulaufgabenhilfe bis zur Altenpflege gibt es viele offene Bedürfnisse. Es könnten öffentliche Anlagen gepflegt, Büchereien betrieben, Jugend- und Bürgerhäuser gebaut und unterhalten werden. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Die Kommunen könnten die Menschen ermuntern, diese liegengebliebenen Arbeiten an ihrem Gemeinwesen in freier Initiative anzupacken. Dreierlei müßte dabei von ihnen gewährleistet werden:

1. Die Leute, welche die Initiative ergreifen, müßten selber entscheiden können, was ihnen wichtig ist. So weit eine Auswahl zwischen verschiedenen Projekten nötig ist, müßte das Entscheidungsverfahren demokratisch sein, wobei die Entscheidungsinstanz nicht eine übergeordnete Stelle sein dürfte, sondern sich aus den Bürgerinnen und Bürgern des Viertels selbst zusammensetzen müßte. Die Verwaltungen können Koordinierungshilfe geben, aber sie sind in diesen Zusammenhängen keine Vorschriften gebende Instanz. Versuchen sie das, so bricht die Initiative zusammen. Konsequenz daraus: Die kommunale Demokratie müßte dezentralisiert werden und sie müßte auf dieser dezentralen Ebene über begrenzte eigene Mittel verfügen können. Das gleiche gilt für die kommunale Verwaltung, die auf Stadtviertelebene vertreten sein müßte mit Bürgerämtern.

2. Die Tätigkeit sollte ehrenamtlich, aber sie sollte auch möglich sein. Sie soll durch soziales Ansehen vergolten werden, aber solange es noch keine soziale Selbstverständlichkeit für alle geworden ist, sich an solchen Arbeiten zu beteiligen, müssen Mittel bereitgestellt werden für die Zahlung eines begrenzten Anerkennungsgeldes, einer Diät. Das kann zunächst geschehen, indem in vorhandene Programme die Bestimmung eingeführt wird, daß ein bestimmter Prozentsatz der Mittel für ehrenamtliche Tätigkeit entsprechend dem "Ein-Tag-pro-Woche" Modell verausgabt werden kann.

3. Es müssen Sachmittel und bei Bedarf Räume zur Verfügung gestellt werden, wo man sich treffen und die gemeinsamen Arbeiten ausführen kann.

Soziale Bürgerinitiativen schaffen Bürgermacht und wirken wohlfahrtssteigernd

Wo es gelingt, solche Initiativen zu wecken, darf man sich einen doppelten Effekt davon versprechen: Einmal den Ausbau von politischen Bezügen selber, auf die sich das Gemeinwesen stützt und aus denen die Bürgerrepublik letztlich besteht. Man kann es auch anders ausdrücken: Bürgerinnen und Bürger, die sich zu solchen sozialen oder auch ökologischen Initiativen zusammenschließen, gewinnen darüber Macht, die sie als einzelne nicht hätten. Sie rufen in gewisser Weise ein elementares Gemeinwesen selbst ins Leben und schaffen sich die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln.

Zum anderen wirken solche Initiativen solidaritätsstiftend und wohlfahrtssteigernd. Tätigkeiten, die sonst ungetan blieben, finden statt. Das mehrt zwar nicht das Sozialprodukt, weil die Resultate dieser Tätigkeiten keinen Preis haben, sondern kostenlos sind. Aber sie verbessern das Leben. Und sie helfen insbesondere denjenigen, die stärker auf öffentliche Güter angewiesen sind. Das sind vor allem Ärmere, Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehende, Behinderte. Begünstigt würden aber wohl auch Frauen insgesamt, weil ein Teil der jetzt individuell von ihnen geleisteten Reproduktionsarbeiten in diesem Bereich halböffentlicher Organisation geleistet werden könnte.

Nebenbei läßt sich noch anmerken, daß diese Wohlfahrtssteigerung durch soziale und ökologische Initiativen absolut globalisierungsresistent sind. Kein preisgünstigerer Anbieter auf dem Weltmarkt funkt dazwischen, wenn Menschen kostenlos gemeinsame Leistungen hervorbringen, die sie dann auch kostenlos genießen können.

Wo bleibt die Gleichheit?

Man kann nun die Befürchtung hegen, daß durch soziale und ökologische Selbsthilfeinitiativen diejenigen zu Vorreitern eines unbezahlten Gemeinsinns gemacht werden, die ohnehin schlecht oder gar nicht bezahlt werden. Oder daß soziale Bürgerinitiativen zur Lohndrückerei mißbraucht werden. Die Gefahr besteht, aber man kann ihr begegnen.

Um noch einmal auf das Beispiel mit der verläßlichen Halbtagsgrundschule zurückzukommen: Vermutlich wird die Bereitschaft zur Mittätigkeit in den wohlhabenderen Bezirken der Stadt zunächst größer sein. Mann und Frau haben dort mehr Zeit, man ist stärker an Initiative gewöhnt und verfolgt mit den Kindern meist größere Pläne. Sicherung der Gleichheit bestünde dann darin, daß den Schulen in den benachteiligten Stadtteilen eine bessere Ausstattung mit professionellem Personal zugestanden werden muß. Die Aufforderung zur Gemeinwesentätigkeit würde dadurch in den reichen Stadtvierteln spürbarer sein.

Und was ist mit der Gefahr der Lohndrückerei oder gar dem Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst, weil soziale Bürgerinitiativen diese oder jene öffentliche Aufgabe übernehmen könnten? - In Wirklichkeit ist die Frage schräg gestellt. Sie unterstellt ja, daß die öffentlichen Dienste unter Einspardruck geraten, weil Bürgerinnen und Bürger scharf darauf sind, ihnen die Arbeit wegzunehmen. Das ist offenkundig nicht der Fall. Im Prinzip wären auch alle möglichen sozialen Bürgerinitiativen zusätzlich möglich und sinnvoll.

Aber wenn unter dem Druck leerer öffentlicher Kassen öffentliche Dienste gestrichen werden, so wäre es doch lächerlich, den Leuten zu verbieten, sich selbst zu helfen. Das liefe ja auf ein generelles bürgerschaftliches Aktivitätsverbot hinaus nach dem Motto: Wer sein Taschentuch aufhebt, der macht den Straßenkehrer arbeitslos.

Gemeinwesenarbeit: Kommunitäre Ergänzung des Sozialstaats

Soziale Bürgerinitiativen beruhen auf freier Assoziation. Sie verdanken sich damit einem Organisationsprinzip, das Marx für kommunistische Gesellschaften unterstellte. Dort war daran gedacht, daß alle gesellschaftlichen Beziehungen diesem Grundsatz folgen könnten. Das ist eine Illusion. Aber komplementär existierend neben der kapitalistischen Lohnarbeit und der freien Konsumgüterwahl auf den Märkten, könnte freie Assoziation den öffentlichen Raum erweitern, der den Menschen gemeinsam ist.

Zwar geht von einer Sphäre öffentlicher Tätigkeiten ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle aus. Gleichzeitig dürfte dadurch Angst erzeugende Anonymität und die Notwendigkeit polizeilicher Repression zurückgehen. Beides zusammen ist wünschenswert.

Man hat insbesondere die westeuropäischen Gesellschaften häufig als "gemischte" bezeichnet, weil sie nicht nur Marktintegration, sondern zugleich sozialstaatliche Integration kennen. Im vorgeschlagenen Fall der Gemeinwesenarbeit würde der Mix noch um ein Element erweitert, um die öffentlich angeregte und schließlich freie Assoziation der Bürgerinnen und Bürger in Hinblick auf gemeinsam bearbeitete Angelegenheiten.

Die alternativen politischen Bewegungen seit 1968 haben eine wesentliche Differenz gegenüber der klassischen Sozialdemokratie immer darin gehabt, daß sie der Lohnarbeit und dem nicht nur gewährenden, sondern auch bevormundenden Sozialstaat skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Heute sind wir in einer Situation, wo wir die Beschäftigungsmöglichkeiten in kapitalistischer Lohnarbeit und die Leistungen des Sozialstaates mit verteidigen müssen. Das ist der defensive Teil unserer Aufgaben. Und dieser defensive Teil rechtfertigt auf dem Feld der Sozialpolitik ein Rot-Grünes Bündnis.

Beschränken wir uns aber darauf, so dürften wir von der Krise der Lohnarbeit und der Krise des Sozialstaats voll mit erfaßt werden und mit der Sozialdemokratie abtrudeln. Kraft zur Offensive läßt sich nur gewinnen, wenn in der Gesellschaft eine andere, eine nichtkapitalistische Assoziationsform und Arbeitsorganisation Platz findet, die dem Selbstlauf der Marktprozesse Grenzen setzt und neue politische Machtbildung aus Potentialen der Selbsthilfe möglich macht. In meinem Verständnis wäre die Arbeit daran die genuine Aufgabe der Grünen und ihr unentbehrlicher Beitrag zur Lösung der Krise und zur Rekonstruktion des Gemeinwesens.

Literatur zum Thema:

Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München: Piper 1960

Arendt, Hannah: Über die Revolution, München: Piper 1963

Barber, Benjamin: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg: Rotbuch-Verlag, 1994

Beck, Ulrich: Kapitalismus ohne Arbeit, in: Spiegel 20/1996

Dettling. Warnfried: Politik und Lebenswelt, Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 1995

Durkheim, Émile: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977

Ewald, Francois: Der Vorsorgestaat, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 (edition suhrkamp 1676)

Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft, Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Berlin: Rotbuch 1989

Hondrich, Karl Otto/Koch-Arzberger, Claudia: Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Fischer 1992

Koch, Claus: Die Gier des Marktes. Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft, München, Wien: Hanser Verlag 1995

Maier, Willfried: Ökologie und Republik. Einige Überlegungen zum Grundgesetz, in: Kommune 7/1989, S. 58-63.

Maier, Willfried: Selbstwidersprüche. Zu André Gorz' "Kritik der ökonomischen Vernunft", in: Kommune 12/1989, S. 59-61

Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt/New York: Campus, 1996

Schulze, Gerhard: Die Wahrnehmungsblockade - Vom Verlust der Spürbarkeit der Demokratie, in: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Demokratie am Wendepunkt, Berlin: Siedler, 1996, S. 33-51

Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika, 2 Bde., Zürich: Manesse 1987

Wagner, Peter: Soziologie der Moderne, Freiheit und Disziplin, Frankfurt/Main: Campus 1995