Brief aus Österreich:

Du sollst Dir kein Ortsbild machen

Gerhard Fritz

Es herrscht Grabenkampf in der Stadt zwischen Ortsbildschutz und Gegenwartsarchitektur. Die Fronten zwischen Behörden, Politik, Medien und ArchitektInnen sind meist unübersichtlich und oft verwirrend.

Ortsbildschutzparagraphen stehen in allen Landes-Bauordnungen. Meist gibt es auch noch eigene Ortsbildschutzgesetze, hinter denen sich die Museumswächter der Städte verschanzen. In der Tiroler Landeshauptstadt ist der Kleinkrieg zum offenen Konflikt eskaliert: Einerseits, weil ein besonders konservativer Ortsbildschutzbeirat mit seinen Gutachten sogar die (relativ liberale) Baubehörde des Magistrats nervt - andererseits, weil die 68er Generation bei den ArchitektInnen (verstärkt um einige schon ältere Rebellen, die durchaus überregionale Bekanntheit genießen) seit den letzten Kammerwahlen die Führung in der Standesvertretung übernommen hat und die Konfrontation nicht mehr scheut. Gleichzeitig steht das Landes-Stadtkern- und Ortsbildschutzgesetz (SOG) kurz vor einer Novellierung.

Am Beginn des Abschnitts "Allgemeine bautechnische Erfordernisse" (als da sind: Brandschutz, Standfestigkeit, Hygiene, Wärmedämmung...) statuiert die Tiroler Bauordnung 1998 (§ 16 Abs. 3) auch: "Das Äußere von baulichen Anlagen ist weiters so zu gestalten, daß im Hinblick auf deren Einbindung in die Umgebung das Orts-, Straßen- und Landschaftsbild nicht erheblich beeinträchtigt wird." Über den feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen Veränderung - jeder Bau ist ein Eingriff in den öffentlichen Raum - und negativer Beeinträchtigung wird dann im Bauverfahren gestritten. Meist zum Nachteil der Baukultur.

Gut, daß Derartiges im 15. oder 18. Jahrhundert noch nicht Gesetz war. Als etwa ein Renaissance-Erker in die gotische Altstadt gebaut wurde (Maximilians berühmtes "Goldenes Dachl", ohne das der Tourismus-Verband glatt zusperren könnte), oder als dem später ein Rokoko-Haus vor den Latz geknallt wurde (auch dieses eiserner Bestandteil aller Prospekte). Die Leute hatten noch Selbstbewußtsein und bauten Qualität so, wie sie es für richtig und angemessen hielten; sie ließen sich nicht von der Behauptung einschüchtern, daß Altes a priori mehr Qualität als Neues habe (wie schon Max Frisch in einer legendären Polemik gegen die Kleingeistigkeit der Ortsbild-Zensoren donnerte). Auch Prandtauer - so ein sprichwörtlicher Einwurf - hätte sein Stift Melk nicht auf eine landschaftsbildprägende Hangkante hinknallen und diese damit "erheblich beeinträchtigen" dürfen. Natürlich Herrschaftsarchitektur, triumphale Inszenierung der Gegenreformation - aber genau das war ja die "Aussage", die mit einer ungeheuren Informationsdichte, also Qualität, in die Landschaft gestellt wurde. Warum hätte der Bauherr oder sein Architekt sich dessen schämen sollen?

Oho. Da könnte ja jeder kommen. Das SOG 1976 schreibt daher vor, daß in (durch Verordnung der Landesregierung festzulegenden) "erhaltenswerten Stadtkernen" das "allgemein wahrnehmbare, vorwiegend durch Gebäude und sonstige bauliche Anlagen geprägte erhaltenswerte Bild... vor nachteiligen Veränderungen zu schützen" ist. (§ 1 Abs. 2). Worüber der schon genannte Sachverständigenbeirat zu gutachten hat. Wenn der nun jede Veränderung für "nachteilig" hält, darf natürlich außer belangloser, daher nicht störender, die vorgefundene Formensprache blöd reproduzierender Architektur nichts mehr passieren.

Friedrich Achleitner, Doyen der österreichischen Architekturkritik, hat den Museumswächtern 1992 seinen kategorischen Imperativ zum "Neuen Bauen in alter Umgebung" entgegengesetzt: "Du sollst Dir kein Ortsbild machen." Wohlgemerkt: Wir reden von Architektur. Die städtebauliche (Wieder-)Respektierung gewachsener städtischer Parzellenstruktur und der Grundcharakteristika der europäischen Stadt als gebautem Gesellschaftsvertrag, die etwa Hofmann-Axthelm oder Feldtkeller so massiv einfordern, ist eine ganz andere Geschichte.

"Das Stadtbild als tendenziöse, geschlossene Information ist eigentlich eine Erfindung der Romantik (und, übrigens, identitätsstiftender Bestandteil des Nationalismus). ... Der Begriff Ortsbild ist ein vom Leben einer Stadt, von ihrer tatsächlichen Struktur, von den Schichten der Lesbarkeit ihrer Geschichte (ihrer politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen Vergangenheit und Gegenwart) abgekoppeltes und nicht deklariertes ästhetisches System..., das seine Kriterien (falls es überhaupt zu solchen kommt) aus der verklärten Anschauung einer Oberfläche bezieht, die jedenfalls unter ganz anderen Bedingungen entstanden ist" (Achleitner). Die Formensprache, abgehoben von der "Botschaft", von dem, was sie einmal geleistet hat, als ästhetisches Gebot zu konservieren heißt "für das Neue genau jenen Lebensnerv durchzuschneiden, der das Alte zu der bewunderten Vielfalt geführt hat".

Der museale Ortsbildschutz verkündet das "Ende der Geschichte" und damit den Tod der Stadt, deren Lebensbedingung die Widersprüchlichkeit ist.

Grüne Stadtpolitik hat sich auf die urbanen Zumutungen einzulassen. Gerade auch, weil sich aus einzelnen der widersprüchlichen Traditionslinien, aus denen die Grünen hervorgegangen sind, durchaus die Neigung zu "Ortsbildsatzungen als Vehikel für Scheinharmonien" (Achleitner) aufdrängen könnte. Die dichte, nutzungsgemischte Stadt als ökologischste Siedlungsform war ja von vielen Grünen ebenso erst zu entdecken wie die Tradition des urbanen Liberalismus.

In der aktuellen städtischen Auseinandersetzung stehen die Grünen hier, ziemlich als einzige, für die Abschaffung der musealen "Geschmacksparagraphen" und gegen hoheitliche Reglementierung zeitgenössischer Architektur (was ja ganz und gar nicht den Verzicht auf öffentliche Diskussion über Architekturqualität bedeutet). Die Konservativen stehen, wenig überraschend, fest zum Ortsbildschutz in seiner unbeweglichsten Form - und die Sozialdemokratie hält sich, charakteristischerweise, an Achleitners Beschreibung: "Wir möchten nämlich einerseits die Veränderung, weil wir einsehen, daß dies oder jenes gebraucht wird, wir möchten aber nicht, daß sie als das, was sie ist, auch sichtbar wird."

Die Bundesregierung ist da allerdings schon weiter. In ihrem Weißbuch zur Reform der Kulturpolitik darf der Leiter des Wiener Architekturzentrums, Steiner, immerhin feststellen: "Alltägliche Baukultur wird geprägt von besinnungslosem Pragmatismus, von Tourismusgesinnung, Historizität und Antimodernismus." Und sogar fordern, die föderale Baugesetzgebung zwecks Zulassung moderner Qualität zu "entschlacken". Das kann noch spannend werden.