Sport & Körper

Mit wem, bitte, spreche ich?

Thomas Gehrmann

Welches ist der eigentliche Zeitpunkt des Todes? Da kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob man auf die Aktivität (beziehungsweise den Stillstand) des Herzens oder des Gehirns achtet. Man kann nun darüber zu streiten beginnen, welcher von beiden Parametern maßgeblich sei, was bisweilen auch gern getan wird. Klüger ist es, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, der Mensch sei eine Gesamteinheit. Er ist es nicht, nicht mal auf der Ebene des Körpers und seiner Funktionen. Die einzelnen Organe verabschieden sich auch einzeln aus dem Leben, und das in einer Reihenfolge, die eine gewisse Hierarchie aufweist.

Gerade jenes Organ, welches uns Menschen mit seiner Funktion vom Rest der Tierwelt so abhebt, das Gehirn, ist als erstes unwiderruflich dahin. Nicht nur im Stoffwechsel der Gesellschaft verbrauchen die Apparate der Kommunikation (Kraftfahrzeuge mitgerechnet) den Löwenanteil an Energie; auch im einzelnen menschlichen Körper verhält es sich so. Welche Leistungssportler haben den höchsten Gewichtsverlust pro Wettkampf? Schachspieler! Das Gehirn umfaßt durchschnittlich ein oder zwei Prozent des Körpergewichts, doch verbraucht es zwanzig Prozent des Sauerstoffs. Sieben oder acht Minuten ohne, und der Zerfall beginnt.

Und welches Organ ist das zählebigste, wäre bereit, seine Funktion und Bestimmung zu erfüllen, wenn der Rest des Körpers bereits im irreversiblen Verfall begriffen ist? Das kleine Spermium. Wollte man der Natur so etwas wie eine bewußte Absicht unterstellen, müßte man annehmen, daß sie das menschliche Denkvermögen für am ehesten verzichtbar hält, die Reproduktionsfähigkeit hingegen äußerst hoch schätzt.

Nun ist es nicht ganz korrekt zu sagen, das Gehirn beginne nach acht Minuten ohne Sauerstoff zu zerfallen. Es ist zunächst nur sein äußerster Teil, der Neocortex. Bekommt das Gehirn nach der bewußten Frist erneut den nötigen Stoff, beginnt es in weiten Teilen auch wieder zu funktionieren. Die Grundfunktionen des Menschen sind gesichert; nur das, was seine Persönlichkeit ausmacht, ist gelöscht und bleibt es auch, weil das dazu gehörende Organ materiell zerstört ist. Auch innerhalb des Gehirnes selbst gibt es also diese doppelgesichtige Hierarchie, daß das, was uns gerade als das spezifisch Menschliche erscheint, am flüchtigsten ist, die rohesten Funktionen, lebenserhaltende Instinkte und Reflexe, in kritischen Situationen am stabilsten sind.

Dreierlei Hirn Dieser Teil des - na, sagen wir mal großzügig: Verstandes, der mit reflexhaftem Verhalten, Sicherung eines Territoriums und Erfüllung primitiver Routinen befaßt ist, dieser Teil zieht es übrigens vor, selbst zu entscheiden, welche Situationen als kritisch einzuschätzen sind und welches Verhalten entsprechend angemessen sei - unabhängig davon, was der (im Zweifelsfall flüchtige) bewußte Verstand dazu für eine Meinung hat. Und damit komme ich nun zu Vroons Buch Drei Hirne im Kopf: "Niedere Strukturen im Gehirn scheinen hinreichend dafür sorgen zu können, daß der Organismus sich an eine relativ stabile Umgebung anpassen kann. Die Konditionierung bietet in ausreichendem Maß Überlebensmöglichkeiten."

Die drei Gehirne, das sind erstens Stamm- und Kleinhirn, zweitens das limbische System und drittens der Cortex. Sie werden entwicklungsgeschichtlich unterschiedlichen Stadien der Evolution zugeordnet und dementsprechend auch als Reptiliengehirn, Säugetiergehirn und menschliches Gehirn bezeichnet. Das erste birgt die erwähnten primitiven Funktionen, das zweite Emotionen und eine gewisse Lernfähigkeit, das dritte insbesondere die Fähigkeit "der Phantasie oder des Bildens ,interner Modelle` einer Situation".

Diese drei verschieden organisierten Gehirne haben nicht etwa im Lauf der Evolution eines das andere abgelöst, sondern sich ergänzt. Sie sind gestapelt, und das ganz bildlich: Das Reptilien- oder Stammhirn ist beim Säuger überwölbt vom limbischen System, und das wieder (im hominiden Schädel) vom Cortex. Sie existieren mit ihren jeweiligen Funktionsweisen parallel, nämlich weitgehend unabhängig, nebeneinander. Eher weiß die linke Hand, was die rechte tut, als daß das obere Gehirn wüßte, wie das mittlere empfindet und vor allem, was das unterste treibt.

Das Individuum ist teilbar Die Tatsache der phylogenetisch verschieden alten Gehirne ist nicht neu. Sie ist aber spektakulär, wenn sie auf ihre Konsequenzen hin durchgedacht wird, was Piet Vroon tut. "Unser Gehirn bildet keine Einheit. In unserem Kopf hat nicht ein Präsident seinen Sitz, sondern ein Parlament, dessen Vertreter die unterschiedlichsten Interessen verfolgen. Das Gehirn besteht aus unterschiedlichen Systemen von unterschiedlichem Alter, die unterschiedliche Interessen verfolgen, unterschiedlichen Gesetzen gehorchen und die nicht gut miteinander zusammenarbeiten."

Und das ist eben nicht nur für den fachlichen Diskurs von Anthropologen oder Verhaltensforschern von Belang.Vroon: "Wir sind zu großartigen Werken auf den Gebieten von Handwerk, Wissenschaft und Kunst in der Lage, aber es bereitet uns auch keine Schwierigkeit, Millionen Wehrloser abzuschlachten, die uns nichts getan haben. Man kann derartige Gegensätze nicht wegargumentieren, indem man sagt, es gebe nun einmal gute und schlechte Menschen. Ein und dieselbe Person ist zu guten Taten wie zu Untaten imstande." Weil, so Vroon, ihre Attitüden oder Überzeugungen für ihr wirkliches Handeln nicht unbedingt maßgeblich sind. Das kann gegen vernünftige Argumente immun sein, denn die sprechen nur eins von drei Gehirnen an.

Als im Sommer vergangenen Jahres deutsche Hooligans einem französischen Polizisten den Schädel einschlugen, wurde allgemein, vom Bundesinnenminister bis zum Bild-Leser, nach harten Strafen und Schnellgerichten gerufen. Die relativ wenigen kritischen Antworten beschränkten sich auf die Hinweise, daß im Schnellverfahren rechtsstaatliche Grundsätze wie eine angemessene Verteidigung über Bord gingen. Weder wurde kritisiert, daß hier das Kanthersche Reptiliengehirn sprach - nicht nachdenken, gleich draufhauen! - noch wurde umgekehrt erwogen, was an der Forderung richtig sein könnte. Piet Vroon hätte eine Antwort darauf: "Strafen funktionieren ausgezeichnet, wenn sie nur schnell verabreicht werden. Das kurzsichtige operante System (des limbischen Gehirns, T. G.) ist dadurch stark zu beeindrucken."

Piet Vroon, Drei Hirne im Kopf. Warum wir nicht können, wie wir wollen, Zürich (Kreuz-Verlag) 1993 (426 S., 49,80 DM)