Zwischen "Farm der Tiere" und "Neunzehnhundertvierundachtzig"

George Orwell als literarischer Totalitarismustheoretiker

Armin Pfahl-Traughber

Der Spanische Bürgerkrieg und andere Ereignisse in den Jahren 1936-37 bewirkten den Umschwung. Ich wußte nun, wo ich stand. Jede Zeile der wesentlichen Arbeiten, die ich seit 1936 geschrieben habe, ist direkt oder indirekt gegen den Totalitarismus und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn auffasse. George Orwell (1975c, S. 14)

In Herrschaftsanspruch und -praxis des nationalsozialistischen Deutschlands und der stalinistischen Sowjetunion erblickten bereits zeitgenössische Philosophen und Politologen zahlreiche Gemeinsamkeiten, welche sie veranlassten, in beiden politischen Systemen ein neues, fortan "Totalitarismus" genanntes Phänomen zu sehen. Zu den mittlerweile als "klassisch" geltenden diesbezüglichen Theorien gehören geistesgeschichtliche Ansätze, wie Eric Voegelins Ansicht, Totalitarismus als politische Religion zu deuten (1938), historische Beschreibungen wie Hannah Arendts Auffassung, Totalitarismus als Herrschaft von Ideologie und Terror zu interpretieren (1951), oder herrschaftsstrukturelle Konzepte wie Carl J. Friedrichs Auffassung, Totalitarismus als monolithisch geschlossenes Einparteiregime mit staatlichem Nachrichten- und Waffenmonopol und terroristischer Herrschaftspraxis zu definieren (1956) (vgl. Jesse 1998). Neben diesen wissenschaftlichen entstanden aber auch literarische Totalitarismustheorien, wofür an erster Stelle die Fabel "Farm der Tiere" (1945) und der Roman "Neunzehnhundertvierundachtzig" (1949) des britischen Schriftstellers George Orwell stehen.

An solche Werke können verständlicherweise nicht die gleichen Kriterien wie an sich wissenschaftlich verstehende Veröffentlichungen angelegt werden, gleichwohl vermitteln sie in Gestalt von rein fiktiven oder realitätsnahen Schilderungen einen Eindruck von den konkreten Auswirkungen totalitärer Herrschaftspraktiken. Ein literarischer Autor muss sich dabei nicht um argumentative Stringenz, empirische Absicherungen und analytische Reichweiten des Beschriebenen bemühen. Indessen liefert er indirekt aber durchaus Aussagen und Material, welches über eine abstrahierende Interpretation im Sinne einer allgemeinen Erkenntnis zu ethischen, politischen oder sozialen Fragen gedeutet werden kann.

Biographisch-politische Entwicklung eines antitotalitären Sozialisten

Geboren wurde Orwell (vgl. Crick 1984, Howald 1997) – der Name ist ein Pseudonym – als Eric Arthur Blair 1903 als Sohn einer Familie des "unteren oberen Mittelstandes", wuchs entsprechend gut situiert auf, erlebte gleichwohl aber schon seine Schulzeit vor dem Hintergrund eigener sozialer Benachteiligung gegenüber den Söhnen aus reicherem Elternhaus. Nach Abschluss der schulischen Ausbildung bewarb Orwell sich um eine Stelle im Kolonialdienst, die er mit wenig Begeisterung und Engagement 1922 in Burma antrat. Dort wurde Orwell an verschiedenen Orten als Militärpolizist eingesetzt und machte dabei Erfahrungen, die ihn allmählich zu einem überzeugten Antiimperialisten werden ließen. Allerdings erwuchs diese erste dezidiert politische Einstellung nicht primär aus einer Solidarität mit den unterdrückten Kolonialisierten, sondern aus der Empörung über die moralischen Deformationen der Kolonialisierer. Orwell selbst sah sich durch die ihm aufgenötigte Rolle als Polizist gegenüber den Eingeborenen zu Handlungsweisen veranlasst, welche seinem inneren Wesen fremd waren und von ihm abgelehnt wurden. Indessen ging Orwells innere Ablehnung des Imperialismus nicht mit einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Thema einher, sondern war stark subjektiv bedingt und primär moralisch begründet.

Zurück in England, versuchte er den zwischenzeitlich aufgekommenen Berufswunsch nach einer schriftstellerischen Tätigkeit umzusetzen, recherchierte verkleidet in London und Paris unter Armen, Aussteigern und Obdachlosen und veröffentlichte seine Erfahrungen 1933 in Form der Sozialreportage Erledigt in Paris und London. So sehr sich hier bereits Orwells spätere sozialistische Orientierung andeutet, so kann sie noch nicht für dieses Werk behauptet werden. Die Kritik blieb weiterhin stark moralisch ausgerichtet, die so genannte "Klassenfrage" und ökonomische Ursachen thematisierte Orwell nur am Rande. Ein direktes und öffentliches Bekenntnis zum Sozialismus fand sich erst in dem vier Jahre später, 1937, erschienenen Buch Der Weg nach Wigan Pier, worin im ersten Teil ebenfalls in Form einer Sozialreportage die Lebenssituation der Industriearbeiter im Norden Englands anhand von persönlichen Eindrücken geschildert wurde. Im zweiten Teil vermischte der Autor biographisch-politische Reflexionen mit Kommentaren zum Sozialismus und der sozialistischen Bewegung, welche veranschaulichten, dass Orwell im Laufe der Niederschrift seiner Erlebnisse zum Sozialisten geworden war.

Es gebe, so der Autor, keine Möglichkeit, die geschilderten Lebensbedingungen grundlegend zu verbessern oder England vor dem Faschismus zu bewahren, wenn man nicht eine wirkungsvolle sozialistische Partei ins Leben rufen könne. Es müsse eine Partei mit wirklich revolutionären Absichten sein, welche dem öffentlichen Bewusstsein zweierlei einhämmern sollte: dass die Interessen aller ausgebeuteten Leute die gleichen seien und dass sich Sozialismus mit menschlichem Anstand vertrage (vgl. Orwell 1975a, 223 f.). Ziele des Sozialismus waren für Orwell Gerechtigkeit und Freiheit, womit er aber weder eine entwickelte politische Theorie noch eine konkrete Programmatik verband. Allenfalls kann hinsichtlich seiner Auffassung von Sozialismus festgestellt werden, dass es sich um eine nichtmarxistische Variante handelte. Im Buch finden sich eine Reihe von kritischen bis hämischen Bemerkungen über das kommunistische Verständnis und die marxistische Theorie, aber auch über andere Protagonisten des Sozialismus aus der Labour-Partei oder den Gewerkschaften. Orwell gehörte demnach nicht zu den dogmatischen Sozialisten, sondern vertrat eher eine ethische, individualistische und voluntaristische Auffassung.

Angesichts seiner politischen Auffassungen verwundert es nicht, dass Orwell nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, wie viele andere Linksintellektuelle aus anderen Ländern, der spanischen Republik gegen die putschenden Militärs zu Hilfe eilen und auf deren Seite als Brigadist kämpfen wollte. Der Zufall führte ihn nach Katalonien, wo insbesondere die Anhänger der Anarchisten und der nicht-kommunistischen POUM stark waren. Orwell erlebte dort mit, wie diese von den kommunistisch geführten Regierungstruppen der Republik verfolgt wurden. Der moskauhörigen spanischen Kommunistischen Partei ging es dabei darum, innerhalb der Linken eine absolute Vorherrschaft zu erlangen. Zunächst verleumdete man die Anarchisten und POUM-Anhänger als "Konterrevolutionäre", "Trotzkisten" und "Verräter" und begann danach vehement mit Gewalt und Unterdrückung gegen sie vorzugehen. Spätestens diese Erlebnisse ließen Orwell zu einem überzeugten Gegner des Kommunismus und des Totalitarismus werden. Er selbst entkam schwer verwundet nur knapp der Verhaftung durch die kommunistische Geheimpolizei. Orwell berichtete später in dem Buch Mein Katalonien (vgl. Orwell 1975b) über diese Erlebnisse und deutete das Vorgehen der Kommunisten als Verrat an der spanischen Revolution.

Indessen wandte er sich keineswegs von seinen politischen Auffassungen und seinem Selbstverständnis als Linker ab. Ganz im Gegenteil organisierte sich Orwell im Juni 1938 erstmals parteipolitisch in der "Independent Labour Party", einer sich sozialistisch verstehenden "Linksabspaltung" der Labour-Partei. Gleichzeitig kritisierte er aber auch vehement das Vorgehen der Kommunisten, sei es im Spanischen Bürgerkrieg, sei es bei den stalinistischen "Säuberungen". Indessen stießen diesbezügliche Aufrufe und Warnungen in den britischen Medien auf wenig Resonanz, und zwar nicht nur nicht bei linken, sondern auch bei liberalen und konservativen Journalisten. Deren kritiklose Übernahme der manipulierten Darstellungen über den Verlauf des Spanischen Bürgerkrieges und die Ignoranz gegenüber den Menschenjagden der dortigen Kommunisten verbitterten Orwell so sehr, dass er sich zu einer im Ansatz sicherlich berechtigten, aber auch pauschalisierenden und übertriebenen Kritik am Opportunismus vieler Intellektueller und Journalisten gegenüber der Sowjetunion hinreißen ließ. Gerade in Orwells Wahrnehmung einer solchen manipulativen Berichterstattung in den Medien begründet lagen denn auch seine späteren Warnungen vor der totalitären Propaganda in Farm der Tiere und Neunzehnhundertvierundachtzig.

Dabei sprach Orwell für das Großbritannien der ersten Hälfte der Vierzigerjahre indessen nicht von offizieller staatlicher Zensur durch Zwangsmaßnahmen, sondern von einer freiwilligen Anpassung an ein bestimmtes Meinungsbild. In einem ursprünglich als Vorwort für Farm der Tiere konzipierten, aber erst 1972 veröffentlichten Aufsatz "Die Meinungsfreiheit" konstatierte er etwa für jene Zeit eine unkritische Bewunderung der Sowjetunion, die es nicht erlaubte, eine kritische Darstellung zur politischen Entwicklung unter Stalin zu veröffentlichen. Stattdessen habe man dessen propagandistisches Selbstbild weiter vermittelt und gegenteilige Informationen unterdrückt. Für Orwell ließen es viele liberale Autoren und Journalisten – ohne direktem Druck ausgesetzt zu sein – an schlichter Ehrlichkeit und intellektueller Distanz gegenüber dem Stalin-Staat fehlen, wodurch sich auch die "Kritik am Sowjet-Regime von der Linken nur schwer Gehör verschaffen" (Orwell 1982a, S. 126) konnte.

Auch er sah sich seinerzeit von entsprechenden politischen Stimmungen im Medienbereich betroffen: Orwells Buch "Mein Katalonien" wurde schon nicht mehr von seinem eigentlichen Verleger Victor Gollancz gedruckt, Gleiches galt für seinen kritischen Kommentar Der Löwe und das Einhorn (1941; Orwell 1970) und die Fabel Farm der Tiere (1945; Orwell 1982). Das letztgenannte Werk hatte Orwell bereits im Februar 1944 beendet, er fand dafür zunächst aber keinen Verlag. Die im Text enthaltene scharfe Kritik an der Sowjetunion, dem seinerzeitigen militärischen Verbündeten Großbritanniens im Krieg gegen Hitler-Deutschland, schien nicht opportun zu sein. Erst Frederic Warburg, der auch schon Mein Katalonien und Der Löwe und das Einhorn verlegt hatte, druckte das Manuskript als Buch im August 1945.

"Farm der Tiere" – verratene Revolution und totalitäre Herrschaft

In diesem Sinne beschreibt Orwell die Geschichte der russischen Revolution bis zu Stalins totalitärer Herrschaft in einer Fabel, worin nicht Menschen, sondern Tiere die handelnden Figuren darstellten. Der Inhalt in Kurzform: Unmittelbar vor seinem Tod ruft der alte Eber Old Major die Tiere einer Farm zur Vertreibung der ausbeuterischen Menschen und zur Errichtung einer Herrschaft der Tiere auf Basis von deren Gleichheit auf. Kurze Zeit danach gelingt der Umsturz und der menschliche Besitzer Mr. Jones wird vertrieben. Anschließend errichten die Tiere auf der Basis einer von drei Schweinen entwickelten Lehre des "Animalismus" und dessen Egalitätsforderungen eine eigene Herrschaft mit Mitbestimmungsrechten für alle. Binnen kurzer Zeit setzen sich indessen die Schweine als dominierende Gruppe der Tiere auf Grund ihrer Intelligenz durch und eignen sich exklusive Machtmittel und Ressourcen an. Zwischen ihren beiden Führern, Napoleon und Schneeball, kommt es indessen zum Streit um das weitere Vorgehen, den Ersterer dank des Einsatzes von brutaler Gewalt und der Vertreibung von Zweiterem für sich entscheiden kann. Fortan baut Napoleon systematisch seine Machtstellung aus, wobei er sich einerseits der repressiven Herrschaft und andererseits der manipulativen Propaganda bedient. Er entwickelt einen systematischen Herrschaftsapparat, zieht sich Hunde als treue Vasallen und gewalttätige Repressionsinstrumente heran. Mit ihrer Hilfe geht er terroristisch gegen Kritiker vor. Gleichzeitig setzt Napoleon das Schwein Schwatzwutz als geschickten Propagandisten ein, welcher bei den anderen Tieren durch Manipulation von Meinungen Akzeptanz für das Vorgehen ihres Anführers bewirkt. Dazu gehört der Aufbau eines systematischen Kultes um die Figur des Napoleon ebenso wie die Rechtfertigung von all seinen Maßnahmen. Mit der Anmaßung von immer mehr Macht für die Schweine geht der Verrat an den ursprünglichen Idealen der Tierrevolution einher, welcher ebenfalls ständige manipulative Korrekturen an diesen nötig werden lässt. Die Fabel endet mit der Beschreibung der Zusammenarbeit von Menschen und Schweinen, welche die anderen Tiere mit Erschrecken zur Kenntnis nehmen, können sie nun doch nicht mehr zwischen ihren alten und neuen Unterdrückern unterscheiden.

Die einzelnen Figuren der Fabel stehen stellvertretend für bestimmte historische Personen, politische Akteure oder soziale Gruppen. Old Major verkörpert etwa Marx und Lenin, Napoleon Stalin und Schneeball Trotzki. Mr. Jones steht sowohl für den repressiven wie unfähigen Zarismus als auch allgemein für ausbeuterische kapitalistische Herrschaft. Das Schwein Schwatzwutz enthält Züge von Karl Radek, steht aber insgesamt eher für manipulative Propagandaapparate. Die Schweine verkörpern die neue Schicht der Herrschenden, die sich immer mehr Privilegien der früher Herrschenden aneignet. Und die Schafe erscheinen als blökende Menge, die ständig die Parolen des Regimes nachbetet und dabei jede kritische Reflexion bereits im Keim erstickt. Aber nicht nur bei dieser Figurenkonstellation hat sich Orwell um historische Anspielungen bemüht, auch viele geschilderte Einzelheiten stellen nur leicht entfremdete Hinweise auf tatsächliche Vorkommnisse in der Sowjetunion dar.

Inhaltlich bezweckte Orwell mit der Einkleidung der Geschichte der Sowjetunion in eine Tierfabel neben der Entzauberung von deren historischem Mythos zweierlei: das Aufzeigen von totalitären Herrschafts- und Manipulationspraktiken und die Anklage eines Verrates an der Revolution. Letzteres wurde während der einsetzenden Rezeption in der Zeit des Kalten Krieges häufig genug verkannt, ging es doch Orwell mit der Farm der Tiere keineswegs um die generelle Ablehnung einer Revolution oder der politischen Linken. Er beschrieb im Roman die erhoffte "Republik der Tiere" als anzustrebendes Idealbild (vgl. Orwell 1982, S. 110), bekannte sich selbst nach wie vor zur Linken und publizierte denn auch parallel zur Niederschrift des Manuskripts regelmäßig in sozialistischen Organen wie der Partisan Review oder der Tribune. Orwell gehörte somit weiterhin zu den entschiedenen linken Gegnern der Sowjetunion und warf ihr Verrat an den eigenen Idealen vor. Nicht umsonst veranschaulichte er denn auch in Farm der Tiere immer wieder die Abkehr der Schweine von den ursprünglichen Geboten der Tierrevolution bis hin zur Umformulierung des einstigen Gleichheitspostulats in: "Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher" (Orwell 1982, S. 113).

Bei der Schilderung der Herrschaftspraxis fällt auf, dass Orwell die neue Qualität des Totalitarismus in der Fabelhandlung deutlich herausarbeitet: Es geht nicht nur um schlichte Repression, auch nicht nur um ein besonders intensives Ausmaß von Repression, sondern auch um deren manipulative und propagandistische Abstützung durch Massenmobilisierung. Gerade darin unterschieden sich auch die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts von früheren. Orwell betonte denn auch insbesondere diesen Aspekt noch weitaus mehr als die eigentliche Unterdrückung durch den von den Schweinen entwickelten Machtapparat. Dieser wird primär in der Abrichtung von Hunden gesehen, welche Napoleon bei verschiedenen Gelegenheiten zur brutalen Repression einsetzt. Beim erstmaligen Auftauchen offenbart sich übrigens, dass Napoleon die jungen Welpen bereits im Anfangsstadium der Revolution den Müttern weggenommen und sie heimlich selbst abgerichtet hatte (vgl. Orwell 1982, S. 48 f.). Insofern deutet Orwell eine bereits von Anfang an bestehende Absicht zum Einsatz dieses Repressionsmittels und damit zur Errichtung der Diktatur an.

Für die propagandistische Absicherung der Herrschaft Napoleons spielt die zentrale Rolle das Wirken des bereits erwähnten Schweins Schwatzwutz, das "aus Schwarz Weiß machen" (Orwell 1982, S. 18) könnte. In der Tat erweist sich diese Figur der Fabel als fähig, sowohl jeglichen Verrat an den ursprünglichen Idealen der Revolution zu rechtfertigen als auch die ständigen Wechsel in der politischen Linie von Napoleons Handlungen zu begründen. Letzteres wird als Ausdruck der besonderen strategischen und taktischen Schläue der Führungsfigur, ersteres als unbedingte Notwendigkeit für die Überlebensfähigkeit der Tierfarm dargestellt. So begründet Schwatzwutz bereits zu Beginn der Handlung die besondere Zuweisung von Äpfeln und Milch für die Schweine damit, dass sie für deren Wohlbefinden als Kopfarbeiter und so auch zur Leitung und Organisation der Farm absolut nötig sei. Nur dadurch könne die Wohlfahrt aller Tiere gesichert und die Rückkehr von Mr. Jones verhindert werden (vgl. Orwell 1982, S. 33f.). In ähnlicher Weise wie hier werden über den Verlauf der Handlung auch alle anderen Ausdrucksformen der Bevorzugung der Schweine und deren Entwicklung zur neuen Herrenkaste gerechtfertigt, geht doch mit diesem Prozess die Preisgabe der Revolutionsgrundsätze einher.

Darüber hinaus hebt Orwell aber noch eine Reihe anderer Aspekte zur Absicherung der totalitären Herrschaft hervor: Hierzu gehört etwa der Personenkult um Napoleon, der im formellen Stil als "unser Führer, Genosse Napoleon" angeredet werden musste und auch andere huldigende Bezeichnungen wie "Vater aller Tiere" erhielt (vgl. Orwell 1982, S. 79). Orwell erwähnt in diesem Kontext sogar ein eigenes lobhudlerisches Gedicht auf Napoleons Person (vgl. Orwell 1982, S. 80), womit er die "großen Gesänge" (Gerd Koenen) (1991) vieler damaliger Intellektueller auf Stalin karikiert. Als eine Art Schattenbild zu diesem positiven besteht darüber hinaus ein negativer Personenkult, der propagandistisch auf Schneeball übertragen wird. Er verkörpert fortan eine imaginäre und verschwörerische Macht, welche angeblich hinter allen Schicksalsschlägen und Widrigkeiten als eigentliche Verursacherin steht. Und schließlich wird es im Laufe der Herrschaftsabsicherung der Schweine auch nötig, nicht nur die Gebote, sondern auch die Geschichte der Tierrevolution systematisch zu verfälschen.

"Neunzehnhundertvierundachtzig" – totalitärer Überwachungsstaat

Ähnliche Themen in einem anderen inhaltlichen Kontext behandelte auch der 1949 erschienene Roman Neunzehnhundertvierundachtzig, der das Leben in einer totalitären Zukunftsgesellschaft beschreibt. Der Inhalt in Kurzform: In eben jenem Jahr besteht in dem nun "Ozeanien" genannten Großbritannien eine totalitäre Ein-Parteien-Herrschaft des "Engsoz" (= englischer Sozialismus), die die Menschen hierarchisch einordnet: zwei Prozent in eine "Innere Partei", 13 Prozent in eine "Äußere Partei" und 85 Prozent in die "Prols". Die von einem über Plakate ständig präsenten "Großen Bruder" geleitete herrschende Partei kontrolliert die Gesellschaft über einen systematischen Überwachungsapparat, der sich neben der Repressionsmacht der "Gedankenpolizei" auch der permanenten Überwachung durch "Teleschirme" und einer ständigen Indoktrination der Bevölkerung durch Manipulation und Mobilisation bedient. Das Land selbst befindet sich angeblich in einem ständigen Krieg mit zwei anderen Ländern und muss sich gegen das behauptete konspirative Wirken eines Erzfeindes namens Emanuel Goldstein schützen.

Hauptfigur der Handlung ist ein Winston Smith, der im Zeitungsarchiv des "Ministeriums für Wahrheit" arbeitet und dort manipulierende Anpassungen von Texten früherer Medienberichte an die neue politische Wirklichkeit vornimmt. Nachdem mit der Zeit in ihm der Unmut gegen das Regime immer stärker anwächst, beschließt Smith mit seiner Freundin Julia, einer scheinbar bestehenden Oppositionsgruppe mit der Bezeichnung "Die Bruderschaft" beizutreten. Sein Kontaktmann O’Brien, ein Mitglied der "Inneren Partei", täuscht ihm gegenüber aber nur eine oppositionelle Neigung vor und verfolgt Smiths Wirken gegen das Regime bereits längere Zeit heimlich in dessen Auftrag. Nach der unweigerlich folgenden Verhaftung der Hauptfigur wird diese gefoltert, nicht nur um der reinen Unterdrückung, sondern um einer Art "Gehirnwäsche" willen. Vor der Tötung muss Smith zunächst aber die eigenen Ideale und persönlichen Bindungen verraten und sich zur Liebe zum "Großen Bruder" bekennen.

Auch in diesem literarischen Text findet sich die Schilderung zahlreicher Handlungsweisen und Strukturmerkmale von totalitärer Herrschaft, und zwar auf den unterschiedlichsten Ebenen: Zum reinen Repressionsapparat gehört die erwähnte "Gedankenpolizei", die bereits nach den kleinsten Abweichungen von den bestehenden Normen und Regelungen durch Verhaftungen einschreitet und die Betroffenen grausamer Folterungen unterzieht. Angeleitet wird jene repressive Praxis von einer totalitären Partei, die in einer gesetzlosen Gesellschaft ihren jeweiligen Kurs auch und gerade gegenüber Mitgliedern erbarmungslos durchsetzt. An ihrer Spitze steht als Führerfigur – zumindest in Form von ständiger Präsenz auf Plakaten mit der Aufschrift "Der große Bruder sieht Dich" – jene Figur, die als alles beherrschend und überwachend gilt. Insgesamt beschreibt Orwell indessen die direkte Repression keineswegs als die alleinige Form totalitärer Herrschaft.

Hinzu kommt zunächst der Zustand ständiger Überwachung in allen Lebensbereichen, wozu die offen erkennbaren und nicht ausschaltbaren "Teleschirme" dienen. Aber auch außerhalb von Häusern und Straßen sind Mikrofone versteckt, welche eine Aufnahme und Identifizierung von Stimmen erlauben. Gerade dieses Gefühl ständiger Beobachtung, auch dann, wenn sie nicht erfolgt, erscheint in "Neunzehnhundertvierundachtzig" als ein wichtiges Merkmal von Herrschaftsabsicherung.

Dazu dient auch die ständige Manipulation der Massen, die über die regelmäßige Anpassung der Informationen über die Vergangenheit an die gerade der Partei politisch angemessen erscheinende Gegenwart erfolgt. Entsprechend ist auch Smith hauptberuflich eben mit jenen Arbeiten betraut. ",Wer die Vergangenheit kontrolliert‘, lautete die Parteiparole, ,kontrolliert die Zukunft, wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit‘" (Orwell 1999, S. 45). Orwell sieht gerade im manipulativen Auslöschen von Informationen über die Vergangenheit ein wichtiges Merkmal totalitärer Herrschaft und lässt seinen Winston Smith bei der Artikulation seiner oppositionellen Tätigkeit nicht zufällig als Erstes nicht auf den Niedergang des Systems, sondern auf die Vergangenheit anstoßen (vgl. Orwell 1999, S. 214). Zur Manipulation gehört auch die Einführung einer eigenen Sprache unter der Bezeichnung "Neusprech", welche "nicht nur ein Ausdrucksmittel für die den Anhängern des Engsoz gemäße Weltanschauung und Geisteshaltung bereitstellen, sondern auch alle anderen Denkweisen unmöglich machen" (Orwell 1999, S. 361) sollte.

Das eigentliche und neue Merkmal totalitärer Herrschaft in der Gesellschaft von "Neunzehnhundertvierundachtzig" erblickt Orwell aber weder in der Repression noch in der Manipulation. Er lässt es den Folterer O’Brien definieren: "Das Gebot der alten Despotien lautet ,Du sollst nicht.‘ Das Gebot der totalitären Regime lautete: ,Du sollst.‘ Unser Gebot lautet: ,Du hast zu sein.‘ Keiner, den wir hierher bringen, widersteht uns. Jeder wird reingewaschen" (Orwell 1999, S. 307). Nicht die repressive Mobilisierung oder Unterwerfung, sondern die geistige Manipulation soll das Ziel sein. Die Partei interessiere sich nicht für die offene Tat: ihr komme es ausschließlich auf den Gedanken an. Sie wolle ihre Feinde nicht bloß vernichten, sondern sie verändern (vgl. Orwell 1999, S. 304). Und: Die Reintegration umfasse drei Stufen: "’Lernen, Verstehen und Akzeptieren. ...’" (Orwell 1999, S. 313). Erst wenn sich der verhaftete Smith selbst überwindet, seine Freundin Julia verrät, sich dem Willen der Partei freiwillig unterwirft und die Liebe zum "Großen Bruder" erklärt, gilt er als geheilt und kann getötet werden.

Ebenso wie "Farm der Tiere" vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges – entgegen der eigentlichen Absicht des Autors – einseitig als antilinkes und antirevolutionäres Werk rezipiert wurde, interpretierte man auch "Neunzehnhundertvierundachtzig" als antisozialistisches und antiutopisches Werk. Anlass dazu gab Orwell teilweise selbst, beschrieb er doch leicht erkennbar erneut primär Vorkommnisse des Kommunismus und Stalinismus und weniger des Faschismus und Nationalsozialismus. Die Bezeichnung der Herrschaftsideologie als "englischer Sozialismus" schien sogar eine versteckte Kritik an der Labour-Partei anzudeuten, wie insbesondere konservative Rezensenten meinten. All dies widersprach Orwells eigentlicher Absicht, die zwar durchaus antikommunistisch, aber primär antitotalitär ausgerichtet war. Der sich selbst auch in dieser Zeit als politischer Linker verstehende Autor richtete mit dem Roman seine Kritik denn auch gegen ihm bedenklich erscheinende Entwicklungstendenzen in den westlichen Industriegesellschaften, woraus sich sogar bislang noch kaum berücksichtigte inhaltliche Parallelen zur Gesellschaftskritik der "Frankfurter Schule" und ihres geistigen Umfeldes ergeben.

Orwell als literarischer Totalitarismustheoretiker

Farm der Tiere und Neunzehnhundertvierundachtzig sind mittlerweile zu Klassikern der Weltliteratur geworden, was allerdings nicht über ihre Schwächen hinwegtäuschen sollte. Sie bestehen – vor dem Hintergrund der Betrachtung politischer Prozesse – etwa in handlungsimmanenten Brüchen und Fixierungen: So erklärt sich Orwell etwa die Unterwürfigkeit vieler Tiere im ersten und der "Prols" im zweiten Werk einfach durch deren geistige Beschränktheit. Die Herausbildung totalitärer Herrschaftsstrukturen scheint darüber hinaus in beiden Texten lediglich Ausdruck des reinen Machthungers einer bestimmten Gruppe, seien es die Schweine, sei es die Partei, zu sein. Und das oppositionelle Handeln von Smith in Neunzehnhundertvierundachtzig erfolgt ohne Erklärung für seine eigentlichen Motive, sondern scheint vielmehr Ausdruck eines automatischen Prozesses zu sein. Andere Ursachen für die erwähnten Entwicklungen benennt Orwell entweder nur marginal oder gar nicht. Diese kritischen Anmerkungen wollen indessen nicht die erhellenden Einsichten beider Werke als Beiträge zur Totalitarismustheorie ignorieren.

Orwell lieferte in diesen Texten Aussagen zu den Strukturmerkmalen entsprechender Herrschaftsformen und bewegte sich damit durchaus auf der Höhe der seinerzeitigen wissenschaftlichen Diskussion (vgl. Huttner 1999, Söllner/Walkenhaus/Wieland 1997), die er allerdings offensichtlich nur bezogen auf Veröffentlichungen von Franz Borkenau zur Kenntnis genommen hatte. Gerade vor diesem Hintergrund müssen beide Werke in ihren analytischen Qualitäten auch und gerade aus Sicht der Totalitarismusforschung hoch eingeschätzt werden. Sie nahmen hinsichtlich der Benennung von Strukturmerkmalen sogar den erst Anfang der Fünfzigerjahre systematisch entwickelten, mittlerweile als klassisch geltenden Merkmalskatalog von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski vorweg, welche die entscheidenden Wesenszüge totalitärer Diktaturen wie folgt benannten: "Eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft" (Friedrich/Brzezinski 1957, S. 19).

In einem wichtigen Punkt ragen Orwells Werke über den Stand der Forschung hinaus: Durchaus zutreffend wird in der gegenwärtigen Diskussion gefordert, man solle die Totalitarismustheorie als Gesellschaftstheorie reformulieren. Dazu müsse gefragt werden, was den soziopsychologischen Kitt entsprechender Systeme ausmache. Anders formuliert: Totalitarismus sollte nicht mehr nur in erster Linie als eine Herrschaftstypologie aufgefasst werden, klärungsbedürftig sei auch stärker die soziopsychische Verankerung von Individuen in derartigen Systemen (vgl. Kraushaar 1996, S. 468). Orwells Werke liefern gerade dazu wertvolle Hinweise, was sich verständlicherweise auch dadurch erklärt, dass er als Literat näher am konkreten Individuum ist als der sich abstrakt mit Herrschaftsstrukturen beschäftigende Politologe. Hier verdienen insbesondere die Hinweise auf manipulative Techniken etwa beim Einsatz von Sprache und die Rezeption im Bewusstsein und bei den Handlungen von Individuen Beachtung. Insofern sollte die Forschung auch nicht die Beiträge der literarischen Totalitarismustheoretiker für die Erklärung des Funktionierens von Diktaturen unterschätzen.

LITERATUR

Crick, Bernard (1984): George Orwell. Ein Leben, Frankfurt/M.

Friedrich, Carl Joachim/Brzezinski, Zbigniew (1957): Totalitäre Diktatur, Stuttgart

Howald, Stefan (1997): George Orwell, Reinbek

Huttner, Markus (1999) Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs- und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn

Jesse, Eckhard (Hrsg.) (1996): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden

Jesse, Eckhard (1998): Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dieterich Bracher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte<D> B 20, 8.5., S. 3-18

Koenen, Gerd (1991): Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M.

Kraushaar, Wolfgang (1996): Sich aufs Eis wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, in: Jesse 1996, S. 453-470

Orwell, George (1970): The Lion and the Unicorn (1941), Harmondsworth

Orwell, George (1975): Erledigt in Paris und London (1933), Zürich

Orwell, George (1975a): Der Weg nach Wigan Pier (1937), Zürich

Orwell, George (1975b): Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg (1938), Zürich

Orwell , George (1975c): Warum ich schreibe, in: ders., Im Innern des Wals. Erzählungen und Essays, Zürich, S. 7-17

Orwell, George (1981): Vorwort zur ukrainischen Ausgabe von Farm der Tiere, in: Fritz Senn (Hrsg.), Das George-Orwell-Lesebuch. Essays, Reportagen, Betrachtungen, Zürich,  S. 9-14

Orwell, George (1982): Farm der Tiere (1945), Zürich

Orwell, George (1982a): Die Pressefreiheit (1945); in: Orwell 1982, S. 121-133

Orwell, George (1999): Neunzehnhundertvierundachtzig (1949), Berlin

Schröder, Hans-Christoph (1988): George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, München

Söllner, Alfons/Walkenhaus, Ralf/Wieland, Karin (Hrsg.) (1997): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Oktober 2000