"Die gebrochenen Menschen"

Kampf um Menschenrechte – die Dalits in Indien

Brigitte Voykowitsch

Die Dalits fordern mit einer Kampagne ihre Rechte ein. Offiziell gibt es die Millionen Unberührbaren in Indien gar nicht – in der Verfassung waren sie für abgeschafft erklärt worden. Die Vereinten Nationen sind nun am Zug.

Der 30-jährigen Dalit-Frau Anita aus dem Dorf Randevi wurden die Kleider vom Leib gerissen, vor dem versammelten Gemeinderat wurde ihr das Gesicht schwarz angemalt und sie dann mit Schuhen geschlagen, weil sie zwei ihrer Nachbarn, die zur hohen Kaste der Jats gehörten, in Zusammenhang mit einem Diebstahl in ihrem Haus genannt hatte. Ein Polizeiinspektor aus der nordindischen Stadt Lucknow brachte eine Dalit-Frau gewaltsam in ein privates Gästehaus, um dort seine Gäste zu unterhalten. Die Frau wurde dann – vor den Augen eines Wachbeamten – mehrfach vergewaltigt. 61 Menschen, die meisten von ihnen Dalits, wurden im nordindischen Bundesstaat Bihar von der von hohen Kasten gegründeten Ranvir-Sena-Miliz im Schlaf ermordet.

Diese drei Fälle aus den letzten Jahren werden im Manifest der Nationalen Kampagne für die Menschenrechte der Dalits genannt, stellvertretend für tausende und abertausende Fälle von Gewalt und Repression gegen jene Menschen, die unter- und außerhalb des indischen Kastensystems mit seinen vier Haupt- und zahllosen Unterkasten leben: die Unberührbaren oder Dalits – gebrochene Menschen –, wie sie sich selbst nennen. 170 Millionen Dalits leben auf dem Subkontinent, rechnet man die christlichen und muslimischen Unberührbaren hinzu, steigt ihre Zahl auf 240 Millionen, also knapp ein Viertel der eine Milliarde Inder und Inderinnen, die zu den ärmsten, am meisten ausgebeuteten und marginalisierten Bürgern des Landes gehören.

Der neue Staat Indien sollte seinen Einwohnern bessere Lebensbedingungen bieten als der zuvor von den britischen Kolonialherren beherrschte Subkontinent – und nach dem Willen der Führer der Unabhängigkeitsbewegung und der Autoren der Verfassung allen Menschen ökonomische und soziale Gerechtigkeit gewähren. Doch zum 50-Jahre-Jubiläum der Unabhängigkeit im August 1997 hatten die Dalits wenig zu feiern, ihre Geschichte war selbst im neuen, freien Staat eine "von gebrochenen Versprechen und eines gewaltigen Betruges", wie es die Kampagne formuliert. Der damalige Jahrestag und das 50-Jahre-Jubiläum der Verabschiedung der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" knappe 16 Monate später, am 10. Dezember 1998, gab dann auch den Anstoß für die Kampagne. Zunächst für nur ein Jahr angesetzt, ist sie inzwischen verlängert worden und will ihre Anliegen nun vor die von den Vereinten Nationen für 2001 angesetzte Internationale Rassismus-Konferenz tragen.

Offiziell, auf dem Papier, gibt es die Unberührbarkeit gar nicht mehr. Artikel 17 der indischen Bundesverfassung erklärt sie für abgeschafft und untersagt ihre Ausübung in jeglicher Form. Die im Grundgesetz niedergelegten Prinzipien und Leitlinien sollten es den Dalits ermöglichen, sich aus ihrer, so die Kampagne, "jahrhundertealten Sklaverei, wie sie durch das Kastensystem perpetuiert wird, zu emanzipieren". Weitere Gesetze wie das zum Schutz der Bürgerrechte aus dem Jahre 1955 und das zur Prävention von Gewaltakten gegen Dalits und Adivasis (die Ureinwohner des Subkontinents) aus dem Jahre 1989 sollten weiteren Schutz vor Verfolgung bieten. Doch am politischen Willen, die Buchstaben des Gesetzes Wirklichkeit werden zu lassen, ermangelt es bis heute. Gerade der Staat und seine Organe machen sich nach den Worten der Leiter der Kampagne weiterhin schlimmster Repression sowie der Kollaboration mit den dominanten Kasten schuldig.

Bhimrao Ambedkar, jener Mann, der als Architekt der Verfassung gilt und selbst Dalit war, hatte von Anfang an auf die gefährlichen Ungereimtheiten im System des unabhängigen Indien hingewiesen: "Am 26. Januar 1950 (dem Tag, an dem das Grundgesetz in Kraft trat, Anm.<D>) beginnen wir ein Leben der Widersprüche. In der Politik werden wir Gleichheit haben und im sozialen und ökonomischen Leben Ungleichheit. In der Politik werden wir das Prinzip eine Person eine Stimme und eine Stimme ein Wert anerkennen. In unserem sozialen und ökonomischen Leben werden wir aufgrund unserer ökonomischen und sozialen Struktur weiterhin das Prinzip eine Person ein Wert verwehren ... Wenn wir es lange verwehren, werden wir damit unsere politische Demokratie in Gefahr bringen."

Die indische Demokratie hat vorerst überlebt, auch wenn ihr gerade westliche Kommentatoren von Beginn an eine nur kurze Existenz prophezeiten. Indien, lautete eine beliebte These, sei eine britische Kreation und werde in Bälde zerfallen. Indische Experten hielten und halten dem entgegen, dass Indien eine uralte Zivilisation sei und sich nun eben als demokratischer Staat konsolidiere. Der am Londoner Birbeck College lehrende Politiloge Sunil Khilnani erklärte anlässlich des 50. Jahrestags der Unabhängigkeit, dass man die Geschichte des freien Staates am besten als "das Abenteuer einer politischen Idee – der Demokratie" beschreiben könne. 350 Millionen Einwohner hatte das Land bei der Erlangung der Unabhängigkeit, eine Milliarde Menschen zählt es heute, die mehr als ein Dutzend offizielle Sprachen sprechen und allen großen Weltreligionen angehören. Neben der großen Mehrheit der Hindus (82 Prozent) leben Muslims (12 Prozent), Christen (etwa 2,5 Prozent), Buddhisten, Sikhs und Parsen im Land. Wenn hier Wahlen für das Bundesparlament stattfinden, so hat das eine Dimension, als würden ganz Europa und die Vereinigten Staaten zugleich eine einzige Volksvertretung bestimmen. Trotz des Elends und der geringen formalen Bildung – rund 40 Prozent der Inder leben in absoluter Armut, etwa die Hälfte sind noch heute Analphabeten (gegenüber 85 Prozent im Jahre 1947) – hat, so Khilnani, die demokratische Idee fest Fuß gefasst. Eine Studie Mitte der Neunzigerjahre habe ergeben, dass die Mehrheit der Menschen die Demokratie als das beste System für das Land betrachte, wobei gerade unter den besonders Marginalisierten und Benachteiligten, jenen also, denen der freie Staat am meisten schuldig geblieben ist, die Zustimmung am höchsten sei. Zumal in linken Kreisen in Indien wurde bisweilen durchaus die These vertreten, wonach das Land entweder Demokratie oder wirtschaftliche Entwicklung haben könne, letztere also nur unter einem autoritären Regime zu erreichen sei. Doch gerade die Aussetzung der demokratischen Institutionen zwischen 1975 und 1977 durch die damalige Premierministerin Indira Gandhi habe den Glauben an die Demokratie gefestigt, betont Khilnani. Es war das bisher einzige Mal, dass der Notstand über das Land verhängt wurde.

Das Vertrauen in ein freies und pluralistisches System begründet sich auf einer Reihe von Fakten. Waren im ersten Bundesparlament noch die meisten Abgeordneten Angehörige der höchsten Kasten, so sind es mittlerweile weniger als ein Drittel.  Mit R. K. Narayanan hat Indien heute erstmals einen Unberührbaren als Staatspräsidenten. Und im nördlichen, mit mehr als 150 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh (wäre es ein unabhängiges Land, es wäre nach China, Indien, den USA und Indonesien das fünftbevölkerungsreichste der Welt) war 1995 und 1997 die Dalitfrau Mayawati Chefministerin (was einer Landeshauptfrau in Österreich oder einer Ministerpräsidentin eines deutschen Bundeslandes entspricht). In den letzten Jahren ist darüber hinaus eine Vielzahl von neuen Regional- und kastenorientierten politischen Parteien entstanden. Sie sprechen für Bevölkerungsgruppen, die ihrer Ansicht nach bislang von den etablierten Großparteien zu wenig beachtet wurden, allen voran der Kongresspartei, die das Land in die Unabhängigkeit führte und mehr als 40 der bisher 53 Jahre Freiheit Indien regierte – aber auch von linken Gruppierungen und der hinduchauvinistischen Indischen Volkspartei (BJP), die seit 1998 zusammen mit mehr als einem Dutzend Koalitionspartnern an der Macht ist. Einige dieser neuen Gruppierungen sind in ihren Bundesstaaten heute an der Regierung oder an einer amtierenden Koalition beteiligt.

Der in einem Think Tank in der indischen Hauptstadt Neu Delhi tätige Politologe B. J. Verghese spricht von einem "Gärungsprozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist". Nach außen, gesteht Verghese, mag, was in Indien passiert, häufig sehr chaotisch wirken, "aber das ist es nicht. Es ist, wie gesagt, eine fundamentale Transformation im Gange. Immer neue unterprivilegierte Gruppen betreten die politische Bühne, versuchen sich zu behaupten und über den demokratischen Prozess ihre Rechte durchzusetzen", seien es bürgerliche oder ökonomische. Wie eben auch die Unberührbaren unter anderem mit ihrer Nationalen Kampagne für die Anerkennung und Verwirklichung der Menschenrechte der Dalits. Es geht – über den bereits erwähnten Aufstieg einzelner Unberührbarer – etwas weiter, sagt Ruth Manorama, Mitglied der Kampagne und Leiterin der Frauenkoalition Voice of Women in der südindischen Stadt Bangalore, die hierzulande zuletzt durch ihre Unternehmen im Bereich der Informationstechnologie bekannt geworden ist. Doch mit dem Tempo der Entwicklung ist Manorama noch keineswegs zufrieden. Wenn sich die Dalits und insbesondere auch die Dalitfrauen Gehör für ihre Anliegen verschaffen wollen, dann dürfen sie nicht flüstern und vorsichtig die Hand erheben, nein, sie müssen laut reden, sie müssen sich noch mehr und noch besser organisieren und für ihre Rechte kämpfen.

Wie weit der Weg ist, lässt sich aus den von der Kampagne zusammengestellten Unterlagen erkennen. Wegen der erschreckenden Bilanz nennen es die Autoren ein "Schwarzbuch" und fordern von der indischen Regierung die Erarbeitung eines "Weißbuches" mit allen konkreten Maßnahmen, die sie zur Befreiung der Unberührbaren zu ergreifen gedenke. Laut dem Buch schneiden die Dalits bei allen Indikatoren, ob beim Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen, zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie zu regulärer Beschäftigung am schlechtesten ab. Die Unberührbaren, von denen 85 Prozent auf dem Lande leben, haben über die Jahre zudem noch einiges von dem ohnedies nur wenigen Boden, den sie einst ihr Eigen nennen konnten, verloren. Immer mehr von denen, die früher zumindest als Kleinstbauern überleben konnten, wurden gezwungen, in den informalen Arbeitssektor abzuwandern. Dazu kommt die alltägliche Missachtung selbst der elementarsten Menschenrechte. Während in den Städten die Segregation im öffentlichen Raum oft gar nicht möglich ist – wer, wie zahllose Angehörige hoher Kasten, einen Bus oder die Lokalbahn benützen muss, kann einem Dalit nicht die Fahrt im gleichen Gefährt verwehren, wüsste ja zumeist auch gar nicht, wer von den anderen Passagieren welcher Kaste angehört –, so wird die Apartheid in vielen der insgesamt 60<P9.5%20>0<P255%0>000 Dörfern des Subkontinents unvermindert praktiziert:

– Dalits dürfen nicht auf einer Ebene sitzen mit Mitgliedern der dominanten Kasten (der Begriff dominant wird gegenüber dem Wort "hoch" oft bevorzugt, da die regional vorherrschenden Kasten im gesamten Hierarchiesystem gesehen oft niedrig sein können, aufgrund der geringen Präsenz, der Abwanderung oder auch politischen Schwäche der hohen Kasten in ihrem Gebiet aber die Macht innehaben können).

– Dalits, die oft abgesondert am Dorfrand leben müssen, wird verwehrt, Wasser aus dem Dorfbrunnen zu entnehmen, womit sie sich entweder eigene Brunnen beschaffen müssen oder aber – und dafür gibt es zahllose Belege – auf Teiche und andere Quellen angewiesen sind, in denen sie zugleich ihr Vieh tränken. Selbst wo sie zum allgemeinen Brunnen zugelassen sind, müssen sie oft warten, bis alle Personen – zumeist Frauen, deren Aufgabe das Wasserholen ist – ihren Bedarf gedeckt haben. Dabei sind sie oft verbalen Schmähungen und Erniedrigungen ausgesetzt.

– Dalits dürfen keinerlei Schuhwerk tragen, wenn sie die Straßen oder Wege durch die Dorfbezirke der dominanten Kasten benützen.

– In Ess- und Trinklokalen wird den Dalits der Tee oder Kaffee in eigenen, nur für sie bestimmten Bechern serviert, die sie dann häufig noch selbst reinigen müssen, während die Tassen aller anderen Kunden selbstverständlich vom Personal des Lokals gewaschen werden.

– Dalits wird der Zugang zu Tempeln versagt. Im westlichen Bundesstaat Gujarat soll dies sogar in 75 Prozent aller Dörfer der Fall sein.

– Dalit-Bräutigamen wird es verwehrt, bei der Hochzeitsprozession auf einem Pferd zu reiten, wie das bei Hinduzeremonien üblich ist.

– Häufig wird versucht, Dalits bei Wahlen an der Stimmabgabe zu hindern. Unberührbare, die teils auch dank der vom Staat festgesetzten Quoten in ein politisches Amt gewählt wurden, werden an dessen Ausübung gehindert, bedroht und immer wieder auch ermordet.

– Dalits werden für ihre Arbeit als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder am Bau faire Löhne verweigert.

– Dalitfrauen werden von Angehörigen dominanter Kasten belästigt, missbraucht und entwürdigt.

– Dalits werden Opfer zahlreicher Grausamkeiten, die eine staatliche Kommission mit den Worten "pervertiertes soziales Verhalten" umschreibt: So werden sie in manchen Fällen gezwungen, ungenießbare Substanzen, ja selbst menschliche Exkremente zu essen. Tierleichname werden ihnen vor ihre Hütten geworfen oder ihr Wasser vergiftet.

– Dalits werden gewaltsam entkleidet und dann nackt oder mit beschmierten Gesichtern und Körpern durch Dörfer geführt.

– Dalits werden in Schuldknechtschaft gezwungen.

– Die Polizeikräfte machen sich schlimmster Gewalt gegen die Dalits schuldig.

– Dalits können auf keine fairen Prozesse setzen. In einem Fall in Uttar Pradesh wurde sogar ein Richter, der selbst einen Dalit ermordet hatte, im Amt belassen.

– Rund 800000 Unberührbare müssen landesweit weiterhin Latrinen mit bloßen Händen räumen. Als Verschärfung einer an sich schon unerträglichen Situation kommt hier noch hinzu, dass, wie es im Schwarzbuch heißt, andere Dalits, die sich über ihre eigene Diskriminierung empören, ihrerseits die Dalit-Latrinenräumer als besonders unberührbare Unberührbare ansehen. Auch unter den Dalits gibt es Subkasten und eine klare Vorstellung von deren hierarchischer Anordnung.

– Dalits werden Opfer von Verbrechen und Massakern, die oft auf das Konto der von Landbesitzern und dominanten Kasten gegründeten Milizen gehen, wie der eingangs erwähnten Ranvir Sena. Derartige Milizen sind auch eine Reaktion auf den Versuch von Unberührbaren, sich zu organisieren und gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Seit Beginn der Neunzigerjahre ist in Antwort auf die verstärkte Mobilisierung der Dalits im Kampf um ihre Rechte auch die Zahl der Gewalttaten gegen die Unberührbaren dramatisch angestiegen, stellte die in New York ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 1999 in einem knapp 300-seitigen Bericht über "Die gebrochenen Menschen" fest. Das Dokument wurde zum Geburtstag des bereits 1956 verstorbenen Dalitführers und Verfassungsautors Bhimrao Ambedkar veröffentlicht. Ambedkar bleibt für die Unberührbaren der große Held. Nicht den Namen Mahatma Gandhis haben sie auf den Lippen, wenn sie bei ihren Veranstaltungen Lieder über ihre Unterdrückung und Entrechtung singen. Gandhi, sagen sie, habe zwar einen schönen Namen für sie gefunden – er nannte sie Harijans, Kinder Gottes –, doch nur Ambedkar sei wirklich für die Aufhebung des Kastensystems eingetreten. "Nichts kann die Ausgestoßenen emanzipieren außer die Zerstörung des Kastensystems. Nichts kann die Rettung der Hindus und ihr Überleben im kommenden Kampf sichern außer die Reinigung des Hinduglaubens von diesem hassenswerten und schändlichen Dogma", wird Ambedkar im Manifest der nationalen Kampagne für die Menschenrechte der Dalits zitiert.

Von einer Auflösung des Kastensystems kann knapp ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode keine Rede sein, dafür genügt schon ein kurzer Blick in die Heiratsannoncen der großen Tageszeitungen und deren detaillierte Angaben über die Kastenzugehörigkeit jener, die da auf Suche sind. Die Unberührbarkeit aber ist wie gesagt offiziell abgeschafft, auch die Rechtsinstrumente zur Durchsetzung von Verfassungsartikel 17 sind vorhanden. Nun endlich den politischen Willen der Regierenden zu wecken, hat sich die Kampagne zum Ziel gesetzt. Getragen wird sie von einer großen Zahl von Aktivisten und Aktivistinnen im ganzen Land, die ihrerseits zahllose, vor allem seit Anfang der Achtzigerjahre entstandene Nichtregierungsorganisationen (NROs), Selbsthilfegruppen und Dalit-Netzwerke hinter sich haben.

Diese Mobilisierung und die damit einhergehende Bewusstseinsbildung vor allem auch der Dalitfrauen wertet Ruth Manorama als großen Erfolg. Sie kann zugleich zahlreiche Beispiele dafür aufzählen, was dank des Einsatzes von Dalitorganisationen bereits erreicht werden konnte. So wurde in mehreren Slums in ihrer Stadt Bangalore das Land, auf dem die Unberührbaren ihre Hütten errichtet hatten, auch in ihren Besitz überschrieben. Die Versorgung mit Trinkwasser und der Zugang zu elementaren Gesundheitseinrichtungen wurde sichergestellt. In vielen Dörfern wurden Dalits und Dalitfrauen, die ohne den Rückhalt einer Organisation es nie gewagt hätten, in der Öffentlichkeit aufzutreten, in Gemeinderäte gewählt. Dalits haben ihre eigenen Mikrokreditprogramme, Rechtshilfe- und anderen Gruppen. Viele Frauen haben gelernt zu reden und über die Anliegen der Gemeinschaft hinaus auch ihre eigenen Sorgen zu formulieren. "Das", sagt Manoramas Kollegin Jyoti Raj, die ebenfalls in der Nationalen Kampagne engagiert ist, "hat für uns einen ganz besonderen Stellenwert. Denn die Dalitfrauen werden mehr unterdrückt – nicht nur durch alle anderen Kasten, sondern auch durch ihre eigenen Dalitmänner. Deshalb brauchen sie ihre ganz speziellen Gruppen, wo sie sich weder von Frauen anderer Kasten noch von Männern bevormunden lassen müssen, wo sie selbst ihre Probleme und Interessen erkennen und benennen sowie Handlungsstrategien ausarbeiten können."

Wie Manorama sieht Raj viele Fortschritte im Ringen der Dalits. Es ist, wie Ambedkar es ausdrückte, "ein Kampf für die Freiheit. Es ist ein Kampf für die Wiedererlangung einer menschlichen Persönlichkeit." Sollte dem Ringen Erfolg beschieden sein, dann würde die wahre "Ambedkar-Ära", wie sie im "Schwarzbuch" anvisiert wird, anbrechen. Dann wären die heutigen Dalits keine gebrochenen Menschen mehr, sondern Personen, ausgestattet mit allen Menschenrechten, "mit Würde und Sicherheit", anerkannt als "Töchter und Söhne dieses Landes", in dem sich "die Machtverhältnisse im ökonomischen, kulturellen und politischen Bereich" grundlegend verändert haben. Aber wie schon ein gegen Ende seines Lebens zunehmend vom indischen Staat enttäuschter Ambedkar feststellen musste, "bleibt die völlige Emanzipation für uns ein ferner Traum". Die nationale Kampagne für die Menschenrechte der Dalits will die Verwirklichung dieses Traums ein wenig näher bringen.

Weitere Informationen im Internet: www.dalits.org

 

Aus der Welt der Frauen in Indien berichtet die Redakteurin der österreichischen Tageszeit Der Standard, Brigitte Voykowitsch, in ihrem Reportagen-Buch Göttinnen und Frauenrechte – Indiens Töchter. Indiens Frauen sind noch heute zum Großteil Analphabetinnen. In den Reportagen geht es um Gewalt, Unterdrückung und Protest, um Aktivitäten von Frauen in einem Frauenverlag, im Umweltschutz oder die Unberührbaren in Bangalore. Die Autorin ist den Spuren von Inderinnen gefolgt, die Opfer von Mitgiftmorden oder Witwenverbrennungen wurden. Das Buch ist erschienen im Picus Verlag (Reihe Reportagen), Wien 2000 (166 S., 28,00 DM)

 

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Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Oktober 2000