Zivilisationspatriotismus

Moderne Zivilisation versus Exklusivität der Kulturen?

Gerd Held

Hängen wir nicht immer noch einer alten Kampfstellung an, die Thomas Mann 1914 aufbaute: "Tiefe Kultur gegen leidenschaftslose Zivilisation"? Doch gerade die "oberflächliche" Zivilisation vermag, so der Autor, als kulturübergreifendes Bindemittel dienen. Er fordert Leidenschaft für sie, die auch ein Angebot für die Menschen aus der islamischen und arabischen Kultur darstellt, den Schritt von der kulturellen Identität zur zivilisierten Welt zu machen.

Als Hannah Arendt 1949 die gerade entstandene Bundesrepublik bereiste, fiel ihr eine merkwürdige Stumpfheit auf, mit der die Deutschen in den Trümmern ihrer einmal so bedeutenden Städte vor sich hin lebten. "Und man möchte aufschreien", schrieb sie, "Das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die Ihr vergessen habt. Doch die Angesprochenen sind lebendige Gespenster, die man mit den Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann." Man hat dies als Aufforderung zur tieferen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verstanden. In diesem Sinn galt das "Nie Wieder!" als moralische Fundamentalreferenz der Republik. Man kann Arendt aber auch anders verstehen: Die fehlende Trauer war ein Ausdruck fehlenden Zivilisationsbezugs. Gefordert war gar nicht mehr Tiefe, sondern mehr Bindung zu dem, was in Deutschland schon immer den Ruch des Oberflächlichen hatte: die Zivilisation. Arendt ging davon aus, dass man eine Zivilisation leidenschaftlich lieben kann und deshalb um ihre Konstrukte untröstlich trauern kann – um den Stein und die Gesichter der großstädtischen Lebensform.

In diesem Sinn richtete sich der Vorwurf nicht gegen eine Unfähigkeit zu trauern, sondern gegen die Unfähigkeit, zu der Zivilisation der Moderne ein leidenschaftliches Verhältnis zu entwickeln. Solange diese nur als "System" gesehen wird, hat man zu ihr bestenfalls ein taktisches Verhältnis. Man betrachtet sie als notwendigen Begleitumstand, während man "eigentlich" nach etwas Anderem sucht, das tiefer in Seele, Natur oder Geschichte ruht, und für das gerne der Begriff der Kultur bemüht wird. Aus dieser Perspektive wäre der Weg der Bundesrepublik in einer ganz anderen Weise vorbelastet, als es die geläufige Wirtschaftswunder- und Adenauer-Kritik besagt. Der Aufbau der Republik wäre keine Zivilisationsentscheidung gewesen, sondern ein In-Kauf-Nehmen mangels besserer Option. Auch angesichts der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ist hier ein Verdacht angebracht: Wird unser Land als Zivilisation wirklich geliebt? Die Rede von der "Kolonisierung" von Lebenswelt und Natur reflektiert ja durchaus eine Grundstimmung, die hierzulande nicht geringer geworden ist. Und auch die Fluchttendenzen des Tourismus-Weltmeisters deuten auf einen verbreiteten Vorbehalt gegen die in der Bundesrepublik geschaffene äußere Wirklichkeit. Wird diese also doch nur mit einer Mischung aus Cleverness (bei Karrierechancen) und Defätismus (bei gefährlichen Einsätzen) betrachtet –sozusagen vom exterritorialen Standpunkt der Seele und der Natur? Und wird die Republik überhaupt als Substanz betrachtet oder nur als formales Regelwerk? Es fällt ja auf, dass der Verfassungspatriotismus keine Zivilisationsbestände in Fleisch und Stein kennt, sondern aus Verfahren und Sprechakten konzipiert wird. Auch am Konzept der multikulturellen Gesellschaft fällt auf, dass dort, wo in Ländern wie England, Frankreich, den Niederlanden oder den USA auf eine kulturübergreifende Zivilisation verwiesen wird, hierzulande nur ein leeres "Multi" steht.

Angesichts der brennenden Türme des World Trade Centers steht eins fest: Bei vielen Menschen in Deutschland ist an die Stelle der Trauer sehr schnell die Angst getreten. Das drängende Fragen: "Wird es Krieg geben?" hat sich von den Toten und Trümmern allzu schnell verabschiedet. Man scheint sich mehr um die Reaktion der USA zu sorgen als um das Werk des Terrors. Wenn der Satz: "Dies ist ein Angriff auf die zivilisierte Welt" hierzulande so viel Zweifel auslöst, dann ist eben zweifelhaft, ob die moderne Zivilisation zu einem Stück unserer selbst geworden ist oder ob sie etwas Äußerliches geblieben ist "drüben in Amerika".

Der Zivilisations-Vorbehalt hat in Deutschland eine Geschichte, und es ist sinnvoll, sich mit den Begründungen des Vorbehalts auseinander zu setzen. Eine Begründung wendet sich gegen die Oberflächlichkeit der modernen Zivilisation. Es war Thomas Mann, der in seinen später revidierten "Gedanken im Kriege" vom November 1914 gegen die Zivilisation auf westlicher Seite die Kultur auf deutscher Seite ins Feld führen wollte. Dazu baute er eine Schlachtordnung nach dem Prinzip tiefe Kultur gegen leidenschaftslose Zivilisation<D> auf. Kultur, so Mann, sei "Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack" und damit auch "abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar"; Zivilisation hingegen sei "Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung". Von der bürgerlichen Zivilität heißt es, sie sei "der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften ... antidämonisch, antiheroisch" und auch "antigenial". Die Deutschen aber, so argumentiert Mann weiter, seien "bei weitem nicht so verliebt in das Wort ,Zivilisation‘ wie die westlichen Nachbarnationen", und er fährt fort: "Der deutschen Seele eignet etwas Tiefstes und Irrationales, was sie dem Gefühl und Urteil anderer, flacherer Völker störend, beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild erscheinen lässt." Bei Thomas Mann im Jahre 1914 führt die kulturalistische Argumentation gegen die moderne Zivilisation in einen Kriegsenthusiasmus, der sich der zivilisierten Welt haushoch überlegen fühlte. Die Argumentation mit der Tiefe der Kultur kann aber auch in einen Defätismus führen, der die zivilisierte Welt bei Bedrohungen nur allzu bereitwillig fahren lässt. In beiden Fällen geht es im Kern darum, dass zu einer Zivilisation keine tieferen Bindungen möglich sind.

Es gibt einen zweiten Einwand, der in eine ganz andere Richtung geht: Die Festlegung auf eine Zivilisation wirke ausschließend auf "andere Kulturen". Die Zivilisation wäre also nicht zu oberflächlich und leer, sondern im Gegenteil zu sehr auf eine bestimmte Identität festgelegt. Gegenwärtig vermuten und unterstellen Kritiker des Begriffs "zivilisierte Welt", dass damit die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ausgeschlossen würden, insbesondere die arabischen beziehungsweise islamischen Länder. Die Zivilisation der zivilisierten Welt wäre dann so etwas wie das "christliche Abendland" oder die "Wohlstandsgesellschaft". Aber dann wäre die zivilisierte Welt gerade nicht zivilisatorisch, sondern kulturell definiert: über bestimmte Identitäten. Dann wäre natürlich nicht einzusehen, warum das islamische Morgenland sich gegenüber dem christlichen Abendland auf einer niedrigeren Ebene befinden sollte. Aber eine Zivilisation fängt gerade dort an, wo sie dazu fähig wird, mehrere Kulturen zu tragen. Die moderne Zivilisation ist eine Sekundär-Welt. Aber Vorsicht, sie ist es nicht gegenüber "der Barbarei". Es geht hier gerade nicht um den alten Gegensatz von Kultur und Barbarei, der oft nur eine Verkleidung des Gegensatzes zweier Kulturen und damit eines engstirnigen Verhältnisses der eigenen zur fremden Kultur ist. Nein, der Gegensatz der Zivilisation ist die Kultur. Jede Kultur bedeutet eine einfache Identitätsfestlegung und von daher ist auf der Ebene der Kultur nur ein Nebeneinander möglich. Erst eine Zivilisation übergreift mehrere Kulturen, um den Preis einer gewissen Mäßigung. An diesem Punkt bekommt die "Oberflächlichkeit" ihren Sinn. Sie ist der Preis für die Fähigkeit der Zivilisation, mehrere Kulturen zu tragen. Eine Kultur kann und muss tief sein, eine Zivilisation muss in gewisser Weise neutraler, anonymer, vordergründiger, formaler sein. Sie ist wie ein Stadtplatz, der immer wieder neu genutzt und interpretiert wird; wie das Bürgerrecht, das gerade unabhängig von Geschlecht, Rasse und Glauben verliehen wird.

Es kann daher nicht darum gehen, den Kulturbegriff durch den Zivilisationsbegriff zu ersetzen, sondern ihn zu doppeln. Nur in der Doppelung zwischen moderner Zivilisation und kultureller Pluralität lässt sich das Dilemma der gegenläufigen Ansprüche von tiefer Bindung und universeller Offenheit verarbeiten. Wäre die Zivilisation nicht in gewisser Weise oberflächlich, würde sie auf den Status einer Kultur zurückfallen und exklusiv wirken. Dieser Rückfall ist deshalb verführerisch, weil nur die Kultur Tiefe, Eindeutigkeit, Identität und Heimat bietet, aber er ist gefährlich, weil sie wegen ihrer Tiefe exklusiv wirkt. Das ist das Dilemma des Kulturellen, das durch das Wörtchen "multikulturell" überhaupt nicht verringert wird, sondern nur durch die Ebenen-Trennung von Zivilisation und Kultur. Genau in der Verwischung dieser Ebenen-Trennung liegt der Fehler von Huntingtons These vom "Clash of Civilizations". Auf der kulturellen Ebene sind ja durchaus interessante Kulturkämpfe denkbar, aber nur im Rahmen einer zivilisatorischen Grundordnung, die mehr ist als eine Rednerliste in einer Diskussion. Alle kulturellen Akteure müssen sich, zumindest zeitweise und in bestimmten Räumen, auf die reduzierte, gemäßigte, "kühle" Ebene der Zivilisation einlassen, um der Welt eine größere Spannweite zu geben. Sonst werden die Kulturkämpfe aufgrund ihrer Tiefe zerstörerisch. Über Religiosität kann man nicht wirklich streiten.

Die beiden Einwände gegen die zivilisierte Welt erheben gegenläufige Ansprüche. Würde man dem "Oberflächlich"-Vorbehalt folgen, würde man bei größerer Exklusivität landen; würde man dem "Ausschließend"-Vorbehalt folgen, würde man bei weniger Bindung landen. Die Bildung der modernen Zivilisation als Sekundärebene gegenüber den Kulturen enthält dagegen ein Angebot, das keine Kultur machen kann und das auch die Leerformel "multikulturell" nicht leistet. Sie bietet eine Form. Aber es ist eine substanzielle, die nicht nur die symbolische Interaktion (Sprechakte) oder die durch Sanktion garantierten Rechte umfasst, sondern in die materielle Existenz der Menschen auf der Erde hineinreicht: in Kleidung, Essen, Lernen, Bauen, öffentlichem Verhalten. Deshalb kann man diese Form lieben und um sie trauern, gerade in ihrer Künstlichkeit. In ihren Tischsitten, in der knappen Höflichkeit auf der Straße, in ihren uniformen Herrenanzügen und Taxis, den Schaufenstern und Stahlbrücken, dem Asphalt und Lärm, in ihren Pop-Melodien, in einem Markenzeichen oder dem künstlichen Lichtermeer in der Nacht, auch in einer wissenschaftlichen Formel oder in einem Verfassungsartikel.

Freilich sind Liebe und Trauer um die Sekundärwelt der Zivilisation den Menschen nicht automatisch gegeben. Sie sind selber eine zivilisatorische Errungenschaft. Offenbar kann es sehr lange dauern, bis ein Land einen solchen Zivilisationspatriotismus entwickelt. Hannah Arendts Beobachtungen im Nachkriegsdeutschland richten sich auf diesen Punkt. Die falsche Gleichung Kultur = Identität = Bindung = Leidenschaft versus Zivilisation = Anonymität = Bindungslosigkeit = Berechnung ist in Deutschland im 20. Jahrhundert nur teilweise überwunden worden. Und Arendt formuliert einen Vorwurf. Aus ihren Zeilen klingt unüberhörbar, dass die Bindung an die zivilisierte Welt eine Bringschuld der Deutschen ist. Es geht nicht einfach um einen Prozess der Zivilisation, und dies ist auch deshalb wichtig, weil diese Bringschuld für viele Länder und Kulturkreise heute gilt. In einer Welt, in der viele Menschen und Gesellschaften erst auf dem Weg in Republik und Moderne sind, wäre es verheerend, dies nur als formale Regelakzeptanz zu verstehen, ansonsten den altdeutschen Kulturbegriff in einen neuen Kulturrelativismus hinüberzuretten und alles weitere der Zeit zu überlassen.

Im Sinne des Ebenen-Unterschieds von Zivilisation und Kultur ist das Wort von der "zivilisierten Welt" auch ein Angebot an die islamische und arabische Kultur. Die zivilisierte Welt bietet Platz für diese Kultur, und er wird auch schon in den verschiedensten Teilformen genutzt. Dennoch ist gerade bei der heute hohen Verwicklung islamisch-arabischer Länder mit der Zivilisation der Moderne nicht zu übersehen, dass hier sowohl der Vorbehalt der Oberflächlichkeit als auch der Vorbehalt der Exklusivität verbreitet ist. Einerseits wird von dort den Bürgern der modernen Zivilisation unterstellt, sie hätten ein rein äußerliches, utilitaristisches Verhältnis zu ihr. Demonstrationen des "Zorns" in der arabischen Welt ventilieren oft die naiv-infame Unterstellung, die Feiglinge im Westen seien sowieso zu keinem Opfer für die eigene Sache in der Lage. Eine tiefe Verachtung gegen die angebliche "Seelenlosigkeit" der Moderne gehört zum Register eines recht weiten Kreises neuerer islamisch-arabischer Parteibildungen. Zugleich wird die Moderne meistens nur als Kultur verstanden, vor allem als Kultur des Wohlstandes. Arabisch-islamische Gesellschaften und auch Einwanderer laufen Gefahr, zwischen rein formalem Regelverständnis und kulturalistischem Sonderweg die zivile Substanz der Republik zu verfehlen. Gerade die deutsche Geschichte lehrt, dass der Schritt von der kulturellen Identität zur zivilisierten Welt eine Bringschuld ist. Niemand kann und darf daher den Menschen aus dem arabisch-islamischen Kulturkreis diesen Weg abnehmen. Es nützt diesen Menschen nichts, wenn man scheinbar großzügig auf jede Bringschuld verzichtet und nur Akzeptanz signalisiert. Vergleicht man gegenüber den Immigranten das Angebot "zivilisierte Welt" mit demjenigen des Multikulturalismus, so ist das zweite viel ärmer. Die Einwanderer müssen ja nicht vor allem reden. Sie müssen essen, Maschinen bedienen, gesund bleiben, wohnen, sich kleiden, bauen, lernen, reisen, Sport treiben – soll das alles kulturell auseinanderdefiniert werden? Soll da allein die weite Hülle von Grundregeln im Sinne des Verfassungspatriotismus helfen? Kann man sich ernsthaft einen Wohnblock, eine Autoreparaturwerkstatt, ein Krankhaus oder eine Schule vorstellen, in denen nicht ein großer Bereich durch relativ neutrale, oberflächliche, robuste Zivilisationstechniken bewerkstelligt wird?

Wer sich jetzt damit begnügt zu betonen, dass der Islam "nicht der Feind" sei, führt eine jener billigen Debatten, die man leicht gewinnt und dann ohne Ertrag nach Hause geht. Über die religiöse Freund-Feind-Frage ist die zivilisierte Welt hinweg. Der Bildungsprozess moderner Republiken bestand geradezu in einer Abarbeitung dieser Identitätskriege. Die Frage ist, ob diejenigen, die das Konzept der "zivilisierten Welt" der Exklusivität bezichtigen, mehr Offenheit zu bieten haben. Aber in Wirklichkeit ist ihr Weltbild viel selektiver. Wenn sie etwa in ihren Warnungen vor dem "US-Sheriff" eine europäische Identität von einer amerikanischen Identität zu trennen versuchen, führen sie ein geografisches Kriterium in die Debatte ein, so, als gäbe es zwischen beiden Kontinenten irgendeinen geheimen Fundamentalunterschied. Gerade sie fallen damit aus den universalistischen Prinzipien einer Zivilisation in eine kulturgeografische Grenzziehung zurück.

Die Bilder des Terrors und der Trauer aus New York zeigen, dass die Moderne in ihrer ganzen Coolness und Abstraktheit so leidenschaftslos nicht ist. Manche werden festgestellt haben, wie sehr ihnen bei allem Unbehagen in der Moderne diese Welt ans Herz gewachsen ist. "Zivilität" im Sinne einer zivilisatorischen Bindung an eine unüberschaubar gewordene Menschheit und Erde wird in diesem Moment der Gefahr besonders wertvoll – vielleicht wertvoller, als sie in den letzten Jahrzehnten erschien. Politisch kommt es darauf an, das Konzept und den Anspruch des Begriffs der Zivilisation sowohl gegen eine formalistische als auch gegen eine kulturalistische Verkürzung der Republik abzuheben. Über den Verfassungspatriotismus hinaus sollten wir daher den Schritt zum Zivilisationspatriotismus tun. Das wird abgelehnt werden. Die erklärten und heimlichen Defätisten – vielleicht die einflussreichste Partei im Lande – werden da nicht mitmachen. Müssen sie auch nicht. Es reicht, wenn die anderen die neue Konstellation dazu nutzen, um mit der Korrektur eines Defizits, das die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik immer noch hartnäckig begleitet, zu beginnen.