Krieg oder Politik

Dick Howard

"Den politischen Sinn des namenlosen Schreckens suchen", nennt Dick Howard in seinem Aufsatz "Krieg oder Politik" die unmittelbare Reaktion nach den Terroranschlägen vom 11. September. Dem "antipolitischen" Kriegsakt der Attentäter setzt er die Chance einer Repolitisierung der Gesellschaft entgegen. Von einer "Urban Frontier" spricht Eike Hennig, während Martin Altmeyer ("Nach dem Terror, vor dem Kreuzzug") sich mit psychoanalytischen Dimensionen des "Bösen" befasst, Teil einer von Bush bis Enzensberger bedienten alttestamentarischen Metaphorik. Erhard Stölting kommentiert die terroristische Seite des Tschtschenienproblems, Birgit Laubachs Rechtsexpertise legt die Fakten in Sachen NATO-Bündnisfall, Verteidigungsfall und Spannungsfall dar. Michael Werz analysiert die Täterbiografien als scheinbar angepasste Angehörige der Mittelschicht. Die Erfahrungen der Jugoslawien-Kriege sind der Hintergrund für Dunja Melcics Überlegungen zum "neuen Krieg". Dazu gibt es eine Reihe von Kolumnen und Kommentare, unter anderen Berichte aus Italien, Österreich, den Niederlanden, Indonesien und aus Washington.

Wo waren Sie am 22. November 1963? Selbst die Jüngsten erinnern sich an dieses Datum, denn der Tag der Ermordung John F. Kennedys leitete ein neues politisches Zeitalter für ein ernüchtertes Amerika ein. Die gleiche Frage wird sich noch schmerzlicher für den 11. September 2001 stellen. So wie dem Verschwinden von JFK ein blinder Einsatz in Vietnam folgte, in dessen Verlauf die Zivilgesellschaft aufs Spiel gesetzt wurde, brachte dieselbe Gesellschaft sich ebenso engagiert im "Krieg gegen die Armut" ein, der gewissermaßen den Kampf um die staatsbürgerlichen Rechte krönte. Was wird dieses Mal folgen, wenn die Rede von einem "Krieg" gegen einen nicht identifizierten Feind ist, während die Gesellschaft sich in verständlicher patriotischer Anwandlung zu verlieren scheint, die jedoch die Gefahr mit sich bringt, entweder auf längere Sicht zu zerbröseln oder im Verlangen nach unmittelbarer und schrecklicher Vergeltung zu explodieren?

Zunächst einmal muss man sich eingestehen: Dieser Tag, der 11. September, bewirkte einen unaussprechlichen, unbegreiflichen, unerhörten und unvorstellbaren Schrecken. Die Journalisten versuchen, ihm einen Sinn zu geben, beginnen, ausgelöschtes Leben mit persönlichen und alltäglichen Geschichten zu rekonstruieren, die sich scharf von der Anonymität abheben, die die Täter dieser blindwütigen Attentate gesucht haben. Mit Hilfe des FBI zeichnen sie die Wege der Terroristen nach, die sie als unergründliche Überbringer eines "Techno-Jihad" präsentieren. Ohne Zweifel ist dieses Verfahren besser als die Verallgemeinerungen vom Typ "Krieg der Religionen" oder "Krieg der Zivilisationen". Es löst sich nicht in der Abstraktion auf, sondern seine unmittelbare und konkrete Wirklichkeit birgt gerade die Gefahr, Rachegelüste zu schüren. Ohne mich der Abstraktion zu überlassen, ziehe ich es vor, den politischen Sinn des namenlosen Schreckens zu suchen, der noch die Sorgen unserer schlaflosen Nächte überragt.

Antipolitik

In der Tat verkörpern diese anonymen Attentate etwas, das man als eine "antipolitische Politik" bezeichnen kann. Ihre Täter wählen die Anonymität, sie stellten keine Forderungen, und ihre Taten können also nicht als Argumente oder Mittel verstanden werden, die auf ein Ziel gerichtet sind. Bestenfalls erkennt man in ihnen die Verweigerung einer demokratischen und kapitalistischen, sprich: imperialistischen Zivilisation, von der sie dennoch moderne Technologien übernehmen. Ihre Option auf die willkürliche und blinde Gewalt will jeden Raum möglicher Verständigung verschließen, als fürchteten sie, dass politisches Engagement immer die Notwendigkeit einschließt, den anderen anzuerkennen und sich mit ihm zu verständigen. Was soll man darauf antworten, ohne sich auf ihr Spiel "Alles oder nichts?" einzulassen?

Die USA sind schlecht gestartet, um diese Aufgabe der Repolitisierung zu erfüllen. Anlässlich des ersten Attentats auf das World Trade Center 1993 wählten sie den juristischen Weg, was den Vorteil hatte, der Anonymität der Täter ein Ende zu setzen, zugleich aber den Nachteil, gewöhnliche Kriminelle aus ihnen zu machen, denen eine politische Identität verweigert wurde. Attentate auf die Botschaften in Kenia und Tansania folgten, die bin Laden zugeschrieben wurden. Der militärische Gegenschlag mit Raketen trug nichts dazu bei, die Sache voranzubringen. Heute geht die Regierung Bush weiter: "Uns ist der Krieg erklärt worden", sagt sie, "man muss schlagkräftig darauf antworten." Die Passivkonstruktion des Satzes – Der Krieg ist uns erklärt worden – weist weder auf dessen Urheber hin, noch erlaubt sie zu verstehen, welche Ziele vom Feind verfolgt werden. Das scheint umso weniger notwendig, als die Ansprache vom 12. September erklärte, dass es sich um einen Krieg "des Guten gegen das Böse" handle.

Nun, wenn die Bush-Administration keine Anstalten macht, Konsequenzen aus den neuen Gegebenheiten ziehen zu wollen, kann die amerikanische Gesellschaft sie vielleicht dazu nötigen. Willkommen in der Welt hätte die Botschaft der Terroristen vom 11. September heißen können. Während der Präsident darauf beharrt, sein Land mit dem Guten zu identifizieren – die Attentate seien (paradoxerweise, aber Mister Bush hat wenig Sinn für Paradoxe) eine Bestätigung der Tugenden unseres demokratischen Systems, dessen blühende Ökonomie seine Gerechtigkeit bestärkt; die eifersüchtige Wut unserer Feinde erklärt sich aus dem Umstand, keinen Zugang dazu zu haben –, hat die naive Unschuld eines Volkes, das lange Zeit durch seine geografische Lage geschützt war, einen herben Schlag erhalten. Danach die Besinnung wiederzuerlangen, dürfte hart werden. Amerika ist – nolens volens – in die Politik eingetreten, es wird sich davor nicht mehr durch einseitigen Moralismus schützen können. Ebenso werden seine isolationistischen Versuchungen, die sich auf eine optimistische und großherzige Sicht der menschlichen Natur stützten, die unermessliche Gewalt des 11. September nicht überleben. Was kann man von dieser neuen Lage erwarten, in der Amerika sowohl die Politik als auch die Welt entdeckt?

Das politische Amerika des 10. September

Trotz zweifelhafter Legitimation war der "Statthalter des Weißen Hauses" ein entschiedener Mann, der kompromisslos seine Ziele verfolgte. Er ließ eine massive Senkung der Steuern abstimmen, die denen gefiel, die ihn zur selben Zeit hatten wählen lassen, als die Sozialwahlen mit ihrem Gerede vom "mitfühlenden Konservatismus" einer "moralischen Mehrheit" Freuden bereitete, die keineswegs abgerüstet hatte. Diese halsstarrige Art zu regieren, die dem traditionellen amerikanischen Moralismus mitnichten fremd ist, verursachte Unzufriedenheit bei bestimmten Republikanern an der Ostküste, deren Senator Jeffords schließlich seine Partei verließ, die daraufhin ihre Mehrheit im Senat verlor. Zusammen mit einer verlangsamten Wirtschaftsentwicklung erlaubte das den Demokraten, die Frage nach der Verwendung des Haushaltsüberschusses zu stellen, der im Prinzip für die Sozialversicherung reserviert bleiben sollte – außer, fügte der Präsident hinzu, "im Fall von Rezession oder Krieg". Diese Taktik der Demokraten, mit der erneute Steuersenkungen verhindert werden sollten, lähmte ihre heimischen Initiativen, da sie Reformen nicht bezahlen konnten.

Die Initiative in der Außenpolitik oblag gleichfalls dem Präsidenten, dessen Mangel an Erfahrung von alten Weggefährten in seiner Umgebung kompensiert werden sollte. Ihre Politik vermengte Isolationismus (z. B. im Nahen Osten oder bei den Verträgen von Kyoto) mit Unilateralismus (besonders bezüglich des Anti-Raketen-Schirmes und der Verträge, die dieses Projekt gebremst hätten). Die Beziehungen zu den Verbündeten waren eher schwierig, mit Ausnahme des Verhältnisses, das sich mit dem mexikanischen Präsidenten ergeben hat (dessen Vorschläge zur Einwanderung keine Einmütigkeit bei den Republikanern erzielte). Man wusste nicht, was von einem Präsidenten zu halten ist, der das "Herz des Herrn Putin erforscht" und als das eines Freundes ausgemacht hatte. Diese Naivität war herzzerreißend, aber im wohl abgeschirmten Amerika gewöhnte man sich daran. Damit ist es jetzt, nach des Präsidenten eigenen Worten, vorbei, der nunmehr betont, dass die Außenpolitik "der zentrale Punkt", der Fokus seiner Präsidentschaft sein werde.(1)

Das politische Amerika seit dem 11. September

Das innenpolitische Gerangel, die Innenpolitik selber, dürfte hinter dem "heiligen Bund" in Vergessenheit geraten. Einige abweichende Stimmen verschaffen sich dennoch Gehör. Auf der Rechten führte Reverend Falwell seinen eigenen Kreuzzug und erklärte, die Attentate drücken den Willen eines Gottes aus, der von einer weltlichen Nation gekränkt sei, die den Weg der Moral verlassen habe. Vom Präsidenten kritisiert, zog er sich zurück, predigt jedoch keineswegs in der Wüste. Auf der Linken erinnert der Vergleich mit Pearl Harbor an die Errichtung von Lagern, in die Amerikaner japanischer Herkunft eingesperrt wurden. Was wird aus den bürgerlichen Freiheiten werden, wenn man den Krieg erklärt? Man konnte sich das Schlimmste ausmalen, als der führende Republikaner des Senats erklärte, man müsse sich selbstverständlich auf Einschränkungen ziviler Freiheiten einrichten: Im Krieg ist nichts mehr heilig.

Angesichts eines derartigen Ereignisses, sagt man, seien die alltäglichen kleinen Politstreitereien bloß Lappalien – nur das Grundsätzliche sei von Bedeutung. Wenn man – wie wir gegenwärtig – benommen ist, ist das bestimmt wahr. Doch darf man sich nicht von Emotionen fortreißen lassen; die Tagespolitik ist nicht ohne Bedeutung für die Zukunft unserer Demokratien. Der "heilige Bund" birgt Gefahren in sich; "Patriotismus ist die letzte Zuflucht der Betrüger", sagte Mark Twain.

Dennoch ändern sich die Dinge im Bereich der Außenpolitik am schnellsten. Der Vorrang, der dem Anti-Raketen-Schirm eingeräumt wurde, ist offensichtlich in Frage gestellt. Es handelt sich, wie ein Kommentator sagte, "um eine nicht vorhandene Waffe, die gegen eine Gefahr gerichtet ist, die nicht existiert". Obwohl die New York Times (14.9.01) behauptet, der "heilige Bund" werde die Chancen erhöhen, seine Errichtung dennoch zu beschließen, zitiert derselbe Artikel einen führenden Demokraten, der vor leidenschaftlichen Entscheidungen warnt, die häufig Platz für Dummheiten schaffen. Und die Reden des Präsidenten, der von einer lang andauernden Schlacht spricht, angeführt von einer Koalition, an deren Spitze wir uns stellen würden, legen nahe, dass der im Projekt des Abwehrschirms verkörperte Unilateralismus nicht von langer Dauer sein wird. Angenommen, man erwägt, in Afghanistan zu intervenieren, wäre es beispielsweise nützlich, sich mit den Russen zu verbünden (die bei der Gelegenheit ihre tschetschenischen Probleme regeln werden) und eventuell mit den Chinesen (die sich ihrer uigurischen Muslime in Xinjiang annehmen). Der Abwehrschirm würde die Kosten dafür abwerfen. Jedenfalls werden die Befürworter des Abwehrschirms inmitten des Präsidentenstabs, die es geschafft hatten, Colin Powells Außenministerium zum Schweigen zu bringen, einige Federn verlieren, während Letzteres wieder eine wichtigere Rolle spielen wird. Und wer Diplomatie sagt, sagt auch Kompromiss. Der Idealismus eines Wilson ist wirklich tot.

Die Notwendigkeit, die Interessen der einen und der anderen in Betracht zu ziehen, erlaubt es, eine Zweideutigkeit auszuräumen, die die Unterstützung durch die NATO nach sich zieht. Stellt sich das Bündnis an die Seite Amerikas, steht es nicht automatisch zur Verfügung Washingtons – was auch immer die amerikanischen Wünsche sein mögen. Wenn dieser Kampf gegen das Netzwerk eine langwierige Anstrengung ist, werden die Partner wechselseitig kooperieren müssen. Amerika profitiert beispielsweise von der diesbezüglichen französischen Erfahrung, während alle aus den Erfahrungen der ehemaligen Kolonialländer lernen, was die Möglichkeiten "asymmetrischer" Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt betrifft. Es kommt einem in den Sinn, dass vor nicht allzu langer Zeit eine solche Zusammenarbeit notwendig war, nicht um einige große Piraten zur Strecke zu bringen, sondern die Meerespiraterie selber.

Isolationismus und Unilateralismus, die sich auf die gleiche Vorstellung von Politik stützen wie der "Kampf des Guten gegen das Böse", werden dank der neuen Lage entkräftet werden, dessen bin ich sicher, doch darf man nicht die hiesige Basis der Außenpolitik vergessen. Die öffentliche Meinung verlangt Vergeltung; sie ist verletzt. Überall sieht man amerikanische Fahnen, die den Händlern entrissen werden, um sich an den unpassendsten Orten wiederzufinden. Man wird dieser reaktiven und stolzen öffentlichen Meinung Zeit lassen müssen, sich ihres Platzes in der neuen Weltordnung bewusst zu werden. Niemand weiß, wie lange das dauern wird, aber je länger die Regierung wartet und je länger sie vor allem ihre Verbündeten warten lässt, desto besser sind die Chancen für ein notwendiges und heilsames Bewusstwerden. In dem Maße, wie der Bürgermeister von New York sich den Anforderungen gewachsen zeigte, war Amerika von einem Präsidenten schockiert, der sich in Kenntnis der Katastrophe vom 11. September per Flugzeug von Florida nach Louisiana aufmachte, um eine knappe Botschaft für die Öffentlichkeit aufzuzeichnen, bevor er erneut stundenlang abtauchte, um auf einer Militärbasis in Nebraska zu landen, von wo er sich schließlich nach Washington begab. (Seine Berater sind sich des Schnitzers bewusst geworden; sie nutzen die Kritik im Namen des Präsidentenschutzes, indem sie auf eine angebliche Bedrohung des Weißen Hauses anspielen. Im Augenblick ist der Präsident enorm populär ... ganz wie sein Vater beim Ausgang des Golfkriegs.)

Dieses Bewusstwerden könnte auch hierzulande Konsequenzen haben. Der Haushaltsüberschuss ist bereits durch den Beschluss über 40 Milliarden Kredit gemindert, die für dringende Erfordernisse zur Verfügung stehen. (Der Kongress hat sie allerdings nicht definiert, was ein Problem aufwirft, wenn man an die langwierige Einmischung in Vietnam denkt, die ihre Rechtfertigung mit einer ähnlichen Kongresserklärung 1964 erhielt – als Antwort auf einen bewaffneten Angriff im Golf von Tongking.) Wenn die schon geschwächte Ökonomie weiter kränkelt, wird man auf Ausgaben im keynesianischen Sinn zurückkommen müssen, was die demokratische Partei ermutigen könnte, Sozialreformen vorzuschlagen, die das Land gut gebrauchen könnte. Und wenn der Abschwung sich nicht zeigt, wird das dem positiven Einfluss der verbündeten Wirtschaftsmächte geschuldet sein; Europa zieht aus der Verbilligung des Dollars (aufgrund von Zinssenkungen) Nutzen, während Amerika den Export – bei erschwinglichen Preisen – wieder aufnehmen wird. Wie dem auch sei, jetzt zeigt sich eindeutig, dass die wirtschaftliche Gesundheit des Landes nicht allein von wirtschaftlichen Faktoren abhängt.

Der beklagenswerte Zustand der Sicherheitsbestimmungen ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Angestellten (die auf Rechnung der Fluggesellschaften arbeiten) massenhaft vorhanden sind und schlecht bezahlt werden, bevor sie nach einigen Monaten für bessere Jobs kündigen. Das gleiche Personal wird in Europa zweimal besser bezahlt, wo Sicherheit als öffentliche Aufgabe anerkannt ist. Man kann sich vorstellen, dass die Privatisierungspolitik und die sehr amerikanische Idee, dass die Regierung sich nicht dort einmischen darf, wo das Geschäft blühen soll, in Frage gestellt wird. Zwei Jahrzehnte nach der berühmten reaganschen "Revolution" wird Amerika dahin kommen, eine Ideologie der Antipolitik zu überdenken.

Krieg oder Politik

Wenn der Gegensatz zwischen Gut und Böse einmal überwinden ist, ist Krieg unter den denkbaren politischen Möglichkeiten nicht auszuschließen. Während die amerikanische Taktik nicht zuließ, den Verlust auch nur eines Soldaten ins Auge zu fassen (was die Intervention gegen Serbien paralysierte), ist die Situation vollständig verändert, seitdem amerikanisches Blut geflossen ist. Es geht nicht darum, das (moralische) Gesetz der Vergeltung auszuüben, es geht darum, die Staaten – nicht die Bevölkerung – anzugreifen, die Terroristen Unterschlupf gewähren. Eine derartige Strategie könnte sich auf ökonomische Maßnahmen beschränken (erfolgreich in Südafrika, wenn auch nicht beim Irak), sie könnte bewaffnete Interventionen und zeitweilige Besetzungen einschließen (wie die Invasion Panamas, die den Umtrieben General Noriegas ein Ende setzte). Die Gestaltungsmöglichkeiten sind zu vielfältig, um sie hier Revue passieren zu lassen. Aber die Notwendigkeit einer derartigen politischen Aktion führten uns die heroischen Opfer des Fluges Nummer 93 der United Airlines anschaulich vor Augen: Als sie die mörderischen Absichten der Terroristen begriffen hatten, zogen sie es vor, sich ums Leben zu bringen, anstatt sich für ein Attentat auf andere unschuldige Menschenleben herzugeben. Der politische Krieg zahlt sich aus, wie jeder Krieg.

Wenn der Krieg Ausdruck einer politischen Wahl sein kann, kann er auch eine Antipolitik verkörpern, die darauf aus ist, ein für alle Mal mit Problemen Schluss zu machen, die das geruhsame Privatleben einer wohlhabenden und selbstgenügsamen Gesellschaft erschüttern. In dem Fall würde ein solcher Krieg die terroristische Antipolitik belohnen, deren Grundlage die Verachtung des Westens und seiner demokratischen Werte bildet.

Dass eine Demokratie ihr den Krieg erklären möge, würde ihre Unfähigkeit bestätigen, sich Herausforderungen zu stellen und öffentliche Tugenden wahrzunehmen, die sie aus der Korruption und der Verführung privaten Lebens heraushalten. Der Topos ist alt und seit dem Fall der römischen Republik bekannt, deren Reichtum die Freiheit der Stadt ruinierte und sie zwang, dem Kaiserreich zu weichen, bevor sie vom neuen, "barbarischen" Geist besiegt wurde.

Gerade die Angst vor einem solchen antipolitischen Krieg würde die fortschrittlich gesinnten Amerikaner beeinflussen, die sich der Teilnahme am Ersten Weltkrieg widersetzten. Die Furcht, die grundlegenden  Freiheiten zu opfern, die die Stärke des Landes ausmachten, war nicht unbegründet, leider; die "Jagd auf die Roten" (und die Deportation verdächtiger Ausländer), die dem verspäteten Kriegseintritt (1917) folgte, war nichts Ungewöhnliches. Es ist zu früh, um erkennen zu können, ob diese Ängste sich im aktuellen Fall konkretisieren werden: Antiarabische Zwischenfälle, die vorgekommen sind, wurden vom Präsidenten selber kritisiert, aber die Vertreter der moslemischen Gemeinde bringen ihre Besorgnis zum Ausdruck. Andere gehen viel weiter mit ihrem Liberalismus und sehen eine Art "computergesteuerte Dystopie" vor unseren Pforten. Eine derartige Haltung mag noch so verständlich sein, läuft aber Gefahr, selbst zu einer Art von moralisierendem Absolutismus zu werden, die einer anderen Variante von Antipolitik Tür und Tor öffnet, indem sie nämlich nicht zwischen politischen Freiheiten und persönlichen Privilegien unterscheidet.

Wie lässt sich der Einsatz abschätzen? Ein Bild in der New York Times (15.9.01) zeigt Militärkadetten in West Point bei einer politisch simplen Übung, die gleichwohl gut das Dilemma symbolisiert. Zwischen der vertikalen Achse, die 100 Prozent Freiheit darstellt, und der, die null Prozent anzeigt, soll der "genaue Durchschnitt" gefunden werden. Eine dümmliche Übung, denn Politik ist keine Angelegenheit, die für solche Vorausberechnungen geeignet ist; seit Aristoteles wissen wir zwischen dem zu unterscheiden, was das Leben (oikos, das Notwendige, die Ökonomie) und das gute Leben (Politik, Freiheit, Menschenwürde) betrifft. Politik entzieht sich der binären Logik, welche die Moral charakterisiert; sie ist dynamisch und der Politiker muss sich umso mehr dem Erhalt dieser Dynamik widmen, als er sich um die Dynamik materieller Interessen keine Gedanken machen soll, die stets in einer Gesellschaft gedeihen, die sich zuallererst ihrer Freiheit versichert (vor ihren Privilegien).

Es kann folglich nicht darum gehen, Rezepte anzubieten; die Analyse, die man soeben gelesen hat, stützt sich auf zwei komplementäre, aber möglicherweise widersprüchliche Gedanken. Man muss einen Ort des Einverständnisses finden, an dem verschiedene Interessen ihre Konflikte an die Öffentlichkeit herantragen können, die dadurch ihre Alltagssorgen ablegen kann, um herauszufinden, was sie zu werden vermag. Dafür muss man die verschiedenen Formen von Antipolitik vermeiden, die sich allesamt durch einen einheitlichen Imperativ auszeichnen: Ein Verweigern der Differenz, ein Zurückweisen der Ungewissheit. Ausgehend von dieser doppelten Besorgnis glaube ich: Wenn Amerika gelernt haben wird, sich "in der Welt willkommen" zu heißen – und die Welt willkommen zu heißen, anstatt sich in diese Welt durch die gerade erlebte Tragödie hineinkatapultiert zu finden, wird dieses Amerika endlich bereit sein, nicht nur der terroristischen Antipolitik entgegenzutreten, sondern auch den politischen Imperativen, die still im Schoß seiner eigenen Gesellschaft schlummern. So also, möchte man hoffen, werden die Ernüchterung vom 22. November 1963 und ihre Folgen schließlich mehr als Anregungen zur Politik denn als Bestätigungen stellvertretender Moral begriffen werden.

New York, 16. September 2001

Aus dem (amerikanischen) Französisch: Jutta Maixner

1 Zwei Vergleiche aus der Vergangenheit seien erwähnt. Der junge JFK debütierte unglücklich in der Außenpolitik und bekam es nicht nur mit der Krise um Berlin, sondern vor allem derjenigen um die Raketen auf Kuba zu tun. Er ist gestärkt daraus hervorgegangen. Die Präsidentschaft Jimmy Carters hingegen scheiterte im Zusammenhang mit den amerikanischen Geiseln im Iran. Wobei übrigens die militärische Intervention das Scheitern nur noch schmerzhafter machte!