Ereignisse und Meinungen

Erklärungstrieb

Redaktion: Balduin Winter

Über "Die Tyrannei der Gründe" denkt Martin Meyer in der vom 21.9. nach: "Denn dem analytischen Bewusstsein darf es beim Unverstandenen, scheinbar so Sinnlosen nicht bleiben. Das analytische, kausal verknüpfende und insofern ‚Sinn‘ oder mindestens Bedeutung herstellende Bewusstsein beginnt alsbald nach den Gründen zu forschen." Das führt er an Susan Sontag aus und führt weitere analytische Begriffe ein: "Abwägende Reflexion über denkbare Motive ist das eine. Ein Erklärungstrieb, der das apokalyptische Geschehnis rasch und beinah flehentlich auf die Ebene einer ‚rational‘ ergründbaren und denn irgendwie doch wieder beherrschbaren Ausgangslage hinunterzieht, ist das andere. Damit indessen wäre dem Terror auf listige Weise gelungen, sein Fanal von der Zivilisation und ihren Opfern interpretieren zu lassen. Und wie man bisher diese Interpretationen lesen konnte, ist es von der Analyse zur Selbstanklage mitunter ein kleiner Schritt." Schluss mit selbst und los auf den anderen? Am Ende bietet Meyer eine eher banale Lösung: die "Pragmatik", wie er meint, und Vernunft des american mind. "Im Reflex der Betroffenheit das Geschehene als ‚das Böse‘ anzuerkennen ...". Die Apokalypse, das unergründlich Böse. Die Gründe "tyrannisieren" uns, ohnehin geht es darum zu handeln, der US-Präsident Bush hat den großen Rahmen vorgegeben: "Sie sind die Erben aller mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Indem sie ihrer radikalen Weltanschauung Menschenleben opfern, machen sie den Willen zur Macht zu ihrem einzigen Wert und folgen so dem Weg des Faschismus, des Nationalsozialismus und des Totalitarismus. Und so werden sie diesem Weg bis an sein Ende folgen: der Geschichte anonymes Grab abgelegter Lügen" (FAZ, 22.9.).

Die Herausgeber der FAZ stehen voll und ganz hinter ihrem Präsidenten. Berthold Köhler schreibt am selben Tag von "einem Weltkrieg", und Frank Schirrmacher von der Kultur hofft, "Bushs Auftritt wird die westliche Kultur verändern". "Bush und die große Mehrheit seiner Landsleute", meint Köhler, "sehen in den Anschlägen auf New York und Washington nicht weniger als den Beginn eines Kampfes um Sein oder Nichtsein der westlichen Zivilisation und ihres Herrschaftsmodells, der Demokratie." Dieser Semantik ist eine gewisse Erhabenheit nicht abzusprechen. Skepsis ist angebracht, wenn man die Stimme Robert D. Kaplans hört, Senior Fellow der New America Foundation, der in der Welt vom 19.9. die neue Politik der USA skizziert: "Der Stellenwert demokratischer Konsultationsprozesse wird in den Hintergrund treten." Für ihn ist die Sicherheit der USA das A und O, wofür jedes Mittel recht sein soll: "Das wird zum Beispiel Morde einschließen ..." – Schirrmachers Kryptizismen lassen vermuten, dass sich die Täter verrechnet haben, dass dank Bush "der Westen für die Islamisten also uninterpretierbar wird": "Die Feinde der offenen Gesellschaft wissen von ihr nicht mehr, als deren Kulturindustrie global auf die Märkte wirft. Jetzt haben sie durch die Rede Bushs ihren ersten gewaltigen Rückschlag erlitten." Entschlüsselt man weiter, dürfte der Rückschlag darin bestehen, dass Bush nicht sofort zurückgeschlagen hat. Das wird die Hintermänner des Attentats ziemlich kalt lassen. Kein Kriegsaufruf und kein Trotz Schirrmachers ändert etwas daran, dass wir getroffen worden sind. Außerdem klingt da wenig Vertrauen in amerikanische Politik durch, wenn es für Schirrmacher schon ein gewaltiger Fortschritt ist, dass ein US-Präsident nicht sofort losgeschlagen hat. Befürchtungen gab es, und nach der Bush-Rede, die Köhler gleich zur Weltkriegs-Erklärung hochgepuscht hat, muss damit gerechnet werden, dass es auch Krieg und militärische Handlungen geben wird.

Ein Glück, dass es die FAZ gibt. Auf eine "Sternstunde der Weltmoral" hoffte der Frankfurter Soziologieprofessor Karl Otto Hondrich in seinem Beitrag vom 18.9., wenn er zunächst die Frage des Krieges aufwirft: "Das mächtigste Land der Welt überzieht das ohnmächtigste mit Krieg – als Vergeltung für eine Tat, an der vermutlich keiner seiner Bürger beteiligt war. Dieser Gedanke bringt nicht nur die elementaren moralischen Gefühle gegen sich auf. Er läßt sich auch mit unserer Vorstellung vom Krieg nicht vereinbaren. ... Wir müssen unseren Kriegsbegriff ändern, heißt es. Der Neue Krieg: das sei nicht mehr der Zusammenstoß von Kollektiven und Gegnern, die territorial lokalisierbar sind. Vielmehr der Kampf von Funktionszusammenhängen – etwa der Shareholder-value-Ökonomie und der fundamentalistischen Ultimate-value-Religion, deren Träger sich jeweils ortlos und unangreifbar, virtuell, in transnationalen Netzwerken bewegen. Diese Metaphorik gefällt. Sie schmeichelt dem modernen Drang nach Neuem, auch nach neuen Begriffen, und gibt zugleich der Hilflosigkeit gegenüber dem weltweiten Terrorismus einen zumindest theoretisch plausiblen Ausdruck." Letztlich stecken hinter aller Entgrenzung und Virtualität in Zeit und Raum lebende Menschen mit Körpern und Seelen. Hondrich hält es mit Herrn Meyer. Ihm kommt es nicht darauf an, welche Ziele die Terroristen haben, denn "höchste Ziele und beste Rechtfertigungen" gibt es immer. Ihm kommt es nur darauf an: "Wer und wie viele Menschen teilen ihre Ziele und billigen ihre Mittel?" Nun hat das Attentat in seinen ungeheuerlichen Dimensionen ein "spontanes Gemeinschaftserlebnis" gestiftet, dem sich nur wenige verschließen. "Dieser charismatische Moment bewegt mehr als zehn Jahre Diskussion über die Menschenrechte", schreibt Hondrich und nennt ihn "einen Flügelschlag der Geschichte"– der allerdings inspirierter Politik bedarf: "Aber die Chance der Weltmoral durch Weltverbrechen wird schnell verspielt, sofern die Suche nach den Verbrechern zum Krieg erklärt wird. Der Drang dazu ist unaufhaltsam ..."

Nichts wird mehr so sein, wie es war? Natürlich nicht. Das galt auch vor dem 11. September. Da galten die Feind-Feind-Strukturen, die auch heute gelten, da gab es den Terrorismus, den es heute gibt. Dazugekommen ist, wie Heribert Prantl in der SZ vom 18.9. schreibt eine neue Kriminalstrafe, die in keinem Gesetzbuch steht: "Bisher gab es in den USA Gefängnis und Todesstrafe. Jetzt gibt es eine dritte Kriminalstrafe – den Krieg." Diese Form der Strafe hat jedoch nichts mit dem alttestamentarischen "Aug um Aug" zu tun, da dieses "ein klares Übermaßverbot" setzt. "Krieg als Kriminalstrafe orientiert sich vielmehr an Ur-Ritualen: Die Sippe rächt sich an der Sippe. Das ist aber nicht Strafe, sondern eine archaische Form der Trauerarbeit." Freilich, auf der Ebene der Semantik lässt sich in diesen Tagen reichliche Ernte einholen. Dagegen wirkt Michael Stürmer wie eine graue Maus, wenn er in der Welt vom 13.9. zwar auch eine "Zeitenwende" ausruft, sich aber nur in der vertrauten Heimeligkeit der dumpfen Zwei-Zimmer-Wohnung des Kalten Krieges wiederfindet: "Eine neue strategische Zeitrechnung beginnt. Man wird sie nicht mehr länger in hoffender Unbestimmtheit die Zeit nach dem Kalten Krieg nennen. Es ist, jeder spürt es, die Epoche des permanenten Ernstfalls. Denn wenn die Nervenzentren der modernen Welt unter Todesdrohung stehen, dann wird alles Ausnahmezustand. Nicht nur die Wirtschaft geht in einem anderen Gang, auch das Seelenleben der Menschen, ihr Begriff von Freund und Feind, von Zeit und Zukunft ändert sich. Das war im Kalten Krieg, und so wird es in Zukunft sein." Nach der Drohung mit dem gegenseitigen atomaren Supergau und der lauen Pause gibt es eine Fortsetzungen ...

Letztlich packt einen doch der "Erklärungstrieb", den der Herr Meyer in der NZZ listig geißelt. Slavoj Zizek wendet sich, temperamentvoll wie immer, gegen Huntingtons Vorstellung vom Kampf der Kulturen: "Was wir heute erleben, sind Zusammenstöße innerhalb einer jeden Zivilisation. Auch ein kurzer Blick in die Geschichte von Islam und Christentum zeigt uns, dass der Islam in Sachen ‚Menschenrechte‘ um einiges besser dasteht als das Christentum." Dazu führt er eine Reihe von Fakten an um zu schlussfolgern, "dass wir es nicht mit einem Grundzug des Islam ‚als solchem‘ zu tun haben, sondern mit einem Ergebnis der modernen soziopolitischen Bedingungen" (ZEIT, 20.9.).

Zizek meint, das insulare Amerika habe über lange Zeit "Urlaub von der Geschichte" genommen. Plötzlich sieht es sich durch die Anschläge mit der "Wüste des Realen" der Dritten Welt konfrontiert und dank Zizek mit Hegel: "Jedes Mal, wenn wir uns solch einem rein bösen Äußeren gegenübersehen, sollten wir den Mut aufbringen, uns an die Hegelsche Lektion zu erinnern, und in diesem reinen Äußeren die destillierte Version unseres eigenen Wesens erkennen. Während der vergangenen fünf Jahrhunderte wurde der (relative) Wohlstand und Frieden des ‚zivilisierten‘ Westens durch den Export rücksichtsloser Gewalt und Zerstörung in das ‚barbarische‘ Äußere erkauft. Es ist die lange Geschichte von der Eroberung Amerikas bis zu dem Gemetzel im Kongo."

Zizek kann man zugute halten, dass er nicht mit dem erhobenen Zeigefinger Moral zelebriert. Konkreter liest sich die USA-Kritik bei Ernst-Otto Czempiel (Die Woche, 14.9.), der von der Großzügigkeit der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeht, als sie den Europäern und der Dritten Welt materiell und durch Überzeugung zu Hilfe kamen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hätten die USA jedoch ihre Orientierung verloren: "Der ‚gütige Hegemon‘ wandelte sich zum imperialen Machthaber, der lieber herrschte, als im Einvernehmen und Interessenausgleich mit den anderen zu führen. Statt Hilfe anzubieten, drohten die USA mit Sanktionen. Und wenn diese Maßregelungen nicht den gewünschten Erfolg hatten, dann kamen eben Bomben zum Einsatz."

Das klingt etwas hausbacken, und Jeremy Rifkin fasst die Sache deutlich weiter. Zum einen fürchtet er um die Lähmung des "einzigartigen amerikanischen Geistes" durch den Verlust der zivilen Freiheiten. Zur Frage, warum sich die Terroristen das WTC ausgesucht haben, schreibt er: "Während die meisten Amerikaner glauben, dass es die Weltwirtschaft ist, die das Los der gesamten Menschheit verbessert, haben viele andere die dunkle Seite der Globalisierung kennen gelernt; für sie war das World Trade Center ein Symbol des Bösen. Tatsächlich hat die Globalisierung einen finsteren Aspekt – und hieraus keine Schlüsse zu ziehen, kann nur zur noch stärkeren Polarisierung der Weltgemeinschaft und zur Stärkung extremistischer Bewegungen führen" (SZ, 21.9.).

In der ZEIT vom 20.9. denkt Jedediah Purdy über "zivile Rache" nach. Auch er beruft sich, wie Czempiel, auf George C. Marshall, den Vater des Marshallplans, der 1947 "erklärte, dass sich die amerikanische Politik ‚nicht gegen irgendein Land oder eine Doktrin‘ richten dürfe, ‚sondern gegen Hunger, Armut, Hoffnungslosigkeit und Chaos‘". Für Purdy steckt darin der Optimismus zum zivilisatorischen Modell. "Dieselbe Einsicht erfordert heute, auf eine menschlichere und demokratischere Version der Globalisierung zu drängen. Ganz wie Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa müssten wir anerkennen, dass die Übernahme marktliberaler Vorstellungen nicht die Bedingung der Integration in die Weltwirtschaft sein sollte. Volkswirtschaften sind immer auch Produkte der jeweiligen kulturellen Vorstellungen über das richtige Verhältnis von Individualismus und Solidarität, von Kontinuität und Wandel. Wenn die gegenwärtige Form der Globalisierung das ökonomische Leben auf ein Bündel von universellen Regeln zur Gewinnmaximierung reduziert, wird sie für imperiale Machtausübung gehalten – und erzeugt genauso viel Hass wie Loyalität." In seinem thematisch überbordenden Essay landet er schließlich bei Schuld und Rache, die "nicht bloß erbittert", sondern auch "zivil" sein soll, bei einem "jetzt erst recht": "... nur wenn wir die Welt jetzt erst recht verbessern wollen – nur dann werden wir erneut die Kraft unserer Zivilisation beweisen, sich selbst zu erneuern."