Gefährlich liberal

"Vierzig Jahre" - Günter de Bruyns Autobiographie

Udo Scheer

Vierzig Jahre des 1926 in Berlin geborenen Günter de Bruyn ist gewiß ein Lern- und Lesebuch für alle Ostdeutschen, die das sozialistische Experiment als Macher, Mitläufer - oder in selteneren Fällen - unbestechlich aus der Distanz begleitet haben. Daß dieser Lebensbericht zu einem unaufdringlichen Lehrstück für alle Deutschen geworden ist, liegt nicht zuletzt an dem Prinzip Ehrlichkeit, dem sich der Autor verschrieben hat. Das Grundthema, Anpassungsbereitschaft und Zivilcourage, ist bei Günter de Bruyn nicht neu. Es durchzieht seine literarische Arbeit, seit sein Roman Buridans Esel (1968) erschien.

In Vierzig Jahre wird auf sympathisch uneitle Weise die Lebenshaltung eines bewußt in der DDR gebliebenen Kritikers transparent. Zaudern, eingegangene Kompromisse und Selbstzweifel sind dabei nicht ausgespart. Nach der Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992), die bis in die ersten Nachkriegsjahre hineinreicht und so eindrücklich geschrieben ist, daß sie in die Literaturgeschichte eingehen dürfte, beginnt de Bruyn die Fortsetzung seiner Autobiographie verhalten mit der Ausbildung an der Bibliothekarschule in Ostberlin, die zugleich eine sozialistische Agitations- und Ideologieschmiede ist. Dort wird der Bücherliebhaber wegen seines literarischen Wissens "dessen Spärlichkeit in der intellektuellen Öde wie Reichhaltigkeit wirkte" in die "Bestandskommission" berufen. "Es war eine Art Volksgerichtshof für Bücher", der Vernichtungslisten für nazistisch und "bürgerlich infizierte" Bücher aufzustellen hatte. Doch zog de Bruyn damals daraus nicht die Lehre, daß Mitmachen Mitverschulden bedeutet, sondern hielt an der Meinung, daß man, um Schlimmeres zu verhüten, schlimme Posten wenn möglich besetzen sollte, noch lange Zeit fest.

Auch den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 beobachtet er nur als Zaungast. Andererseits ist er nach den Erfahrungen mit dem Naziregime allen politischen Eiferern gegenüber mißtrauisch. Denen begegnet er zur Genüge als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralinstituts für Bibliothekswesen. Er und Herbert, sein Schreibtischkollege, bestärken sich als die beiden Außenseiter und einzigen Nichtgenossen im Institut in der Freiheit des Wortes und in der kategorischen Ablehnung sozialistischer Undemokratie, die sie analysieren und ironisieren. Eindrucksvoll wird erzählt, wie der Entschlossenheit des Freundes zur "Republikflucht" dessen Verhaftung und Suizid folgen. Zugleich wird das eigene Zögern und Abwägen angesichts erster Veröffentlichungen in der DDR geschildert, bis die Mauer vollendete Tatsachen schafft. Günter de Bruyn faßt sein ohnmächtig umtriebiges Umherirren am 13. August 1961 in die Worte: "Als käme es darauf an, Trauer, Wut, Verzweiflung bis zu einem Zustand zu steigern, der es mir unmöglich machen sollte, die gewaltsame Teilung jemals als normal zu empfinden."

Erste literarische Erfolge stellen sich ein. De Bruyn schildert das DDR-Verlagswesen mit seinen sich rückversichernden Lektoren und Verlagsleitern und den Zensoren im Hintergrund. In diesem Geflecht spiegelt sich die DDR-Ordnung. Er erzählt von Begegnungen mit dem Oberzensor Klaus Höpcke und der Willkür, mit der Bücher veröffentlicht oder verhindert werden, er berichtet über die Bekanntschaft mit dem verkalkten, egozentrischen Arnold Zweig und über seinen einzigen Besuch bei dem verbotenen, öffentlichkeitshungrigen Wolf Biermann, gegen dessen Ausbürgerung er zusammen mit dem Freudeskreis um Christa und Gerhard Wolf seinen Protest einlegt.

Hermann Kants Mittelpunktstreben konstatiert er zu Beginn ihrer Bekanntschaft noch belustigt. Später lassen ihn die Heimtücke in dessen geschliffener Rhetorik und das SED-Intrigenspiel beim Ausschluß von acht Schriftstellern 1979 weitgehend zum Boykotteur des DDR-Schriftstellerverbandes werden. Hintergründig humorvoll erzählt er über seine zwei Jahre währenden Lehrstunden bei Wolfgang Harich. Über ihre gemeinsame Vorliebe für den Dichter Jean Paul kommt es mit dem 1956 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Philosophen zu einem intensiven Austausch, bei dem ihm dessen scharfe Intelligenz und gleichzeitige Befangenheit in marxistisch-leninistischen Dogmen immer wieder verblüffen. Die Beziehung endet abrupt, als Harich die de Bruynsche Jean-Paul-Biographie gelesen hat, in der er seinen Wahlverwandten als - so Harich - "gefährlichen Liberalen" kenntlich gemacht habe. Zehn Jahre Arbeit, mit der der von der Staatsführung ins Abseits Geschobene den spätbarocken Dichter der DDR-Literaturwissenschaft als "fortschrittlichen Philosoph und leidenschaftlichen Revolutionär" aufbereitet hat, sind damit zunichte.

Ehe- und Familienleben bleiben ausgespart, weil der Autor, so steht in einer kleinen Randnotiz zu lesen, seiner "jahrelangen Werbung, deren Ergebnis ein Leben lang währt", versprochen habe, Privates auszuklammern. Sei's drum. Das Buch schöpft auch so aus dem Vollen, oft genug mit einem Schuß Selbstironie, etwa als ihn die fixe Idee packt, ein verfallenes Haus im Wald zu kaufen, er es bewohnbar macht, worauf Armeefahrzeuge im Manöver seinen Garten durchpflügen. Oder er erfüllt sich einen Kindheitstraum und läßt sich als absoluter Laie drei störrische Pferde aufschwatzen.

Mehrfach scheint de Bruyn selbst verblüfft, wie er trotz seiner Distanz zum System in den Kreis Privilegierter aufrückt und Westreisen zu Tagungen und Lesungen genehmigt bekommt. Seine Erklärung: Die Scheindemokratie muß nach außen Toleranz, also auch die "Vielfalt der Handschriften" vorweisen. Insgeheim versucht ihn die Staatssicherheit seit 1973 als Spitzel zu ködern, indem man eine "Anwerbung durch den Gegner" fingiert. Seine wiederholte Weigerung, die Kontakte zu westlichen Verlagen und seine "reformistischen Ideen" verwandeln den IM-Vorlauf "Roman" 1976 in eine Operative Personenkontrolle (OPK). Die wird bis 1989 geführt. Spitzelstoff bietet der Autor genügend - auf seinen Lesungen in evangelischen Kirchen, durch sein Mitwirken im oppositionellen "Friedenskreis", mit seinem Beitrag auf dem 10. Schriftstellerkongreß 1987, wo er neben Christoph Hein die Abschaffung der Zensur vorschlägt...

Der Mauerfall am 9. November 1989 markiert für ihn das Ende der DDR - ein Glücksmoment, zugleich Anlaß zu bedauern, nicht mehr für die Befreiung getan zu haben. Günter de Bruyns souverän in Episoden gefaßte Bilanz der "Vierzig Jahre" verweist die Verbindung von Sozialismus und Demokratie ins Reich der Utopie. Sie wird ihm nicht nur Freunde bringen. Er wird es aushalten.

Günter de Bruyn, Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Frankfurt (S. Fischer Verlag) 1996 (267 S., 39,80 DM)