Abschied vom Erbe Khomeinis?

Der Iran nach der Wahl Khatemis

Jörn Schulz

Hundert Tage Schonzeit werden einer Regierung meistens zugestanden, bevor ihre Arbeit bewertet wird. Nicht so im Iran. Noch bevor Khatemi seine ersten Maßnahmen verkünden konnte, wurde er von der Rechten bereits zurechtgewiesen.

Schon bei Amtsantritt der neuen iranischen Regierung betonten Khameini, der Wächterrat und das von Khatemis Rivalen Nateq-Nuri geführte Parlament, sie würden sorgsam ihrer Pflicht nachkommen, die Tätigkeit der Regierung zu überwachen und, wenn nötig, zu korrigieren. Konkrete Anweisungen wurden gleich mitgeliefert. Weder die Staatsdoktrin noch die "revolutionären Institutionen" dürfen angetastet werden, Kritik am islamistischen System bleibt tabu. Khatemi hat zusichern müssen, die USA und Israel weiterhin als Feindstaaten zu behandeln und jene Institutionen, die sich mit der Unterstützung islamistischer Bewegungen befassen, gewähren zu lassen. Das meiste davon hätte Khatemi ohnehin nicht in Frage gestellt. Wie alle Mitglieder seines Kabinetts gehört er zur islamistischen Elite, an einer politischen Öffnung und einer Schwächung der Macht der Geistlichkeit ist er nicht interessiert. Seine Strömung will das islamistische System modernisieren und von überflüssigem Ballast befreien, der Bevölkerung soll eine gewisse Privatsphäre zugestanden werden. Vermutlich wird Khatemi versuchen, der Repression "rechtsstaatlichen" Charakter zu geben und die Aktivitäten von Todesschwadronen und Schlägertrupps zurückzudrängen, schon weil diese Hilfstruppen der Rechten auch ihm gefährlich werden könnten. Der Polizei- und Geheimdienstapparat wird jedoch eher noch ausgebaut, und von einer Amnestie für politische Gefangene ist keine Rede. Auch die Liquidationspolitik gegen Exiloppositionelle wird weitergeführt, allenfalls könnte sie sich in Zukunft auf Staaten wie Pakistan oder Irak beschränken, wo terroristische Aktionen nicht weiter auffallen.

Das Feld der Reformen ist also eng begrenzt, dennoch ist die Auseinandersetzung um den islamistischen Kulturkampf von zentraler Bedeutung. Die Macht der Geistlichkeit ist an die ideologische Herrschaft gebunden. Die Strategie der Rechten befürwortet deshalb neben intensiver Propaganda und Überwachung ein gewisses Maß an Terror im Alltag; jede Liberalisierung, so ihre Befürchtung, könnte oppositionellen Regungen Auftrieb geben. Die "Liberalen" dagegen halten es für schädlich, wenn, wie jüngst wieder in Teheran, islamistische Schlägertrupps die Parks durchstreifen und alle Pärchen zur Rede stellen, ob sie denn auch in einem korrekten Verhältnis zueinander stehen. Solche Methoden und die extreme Einschränkung kultureller Ausdrucksmöglichkeiten entfremden Menschen dem System, die die islamistische Herrschaft ansonsten akzeptieren oder sogar unterstützen würden.

Konflikt zwischen Republik und Gottesstaat Und obwohl beide Seiten sich alle Mühe geben werden, dies zu verleugnen: Der Reformpolitik einer gewählten Regierung stehen religiös legitimierte Institutionen gegenüber, die das Monopol auf die göttliche Wahrheit beanspruchen. Daraus entsteht zwangsläufig ein Konflikt zwischen den republikanischen und den doktrinären Elementen des Systems. Dieser Konflikt ist schon im Konzept der "Islamischen Republik" angelegt. Khomeini sah sich als Vollstrecker göttlichen Willens und betrachtete auch das von ihm ersonnene politische System als göttliches Gebot, als Antimonarchist und Revolutionär befürwortete er zugleich eine republikanische Verfassung. Vorrang haben jedoch die religiös legitimierten Institutionen. Die Geistlichkeit soll Staat und Gesellschaft lenken, bis der verborgene Imam erscheint, um die Welt zu erlösen.

Die wichtigsten Institutionen, die diese Kontrolle ausüben, sind der Wächterrat, ein Gremium hoher Geistlicher, und das Amt des Vali-Faqih, der als Vertreter des verborgenen Imams gilt. Der Wächterrat überwacht die Gesetzgebung und die "islamische Sittsamkeit", der Vali-Faqih ist das eigentliche Staatsoberhaupt und verfügt über eine gewaltige Machtfülle. Zu seinen regulären Aufgaben gehört die Überwachung der Medien und das Kommando über Polizei und Armee, er kann jedes Gesetz stoppen und jeden Minister oder auch gleich die ganze Regierung absetzen. Mit den "Revolutionswächtern" (Pasdaran) existiert zudem eine militärische Institution, die sich ebenfalls berufen fühlt, über die Einhaltung der reinen Lehre zu wachen.

Das Republikanische an der "Islamischen Republik" hatte Khomeini nicht näher definiert. Zunächst versuchte man es mit einer Einheitspartei, gab das Experiment jedoch schnell auf und ersetzte es durch ein parlamentarisches System ohne formale politische Organisationen. Bisher hat sich dies als recht erfolgreich erwiesen. Es gelang, die Machtkämpfe innerhalb der islamistischen Elite fast ohne Blutvergießen auszutragen, und die Wahlen vermitteln der Bevölkerung das Gefühl, Einfluß nehmen zu können. Eben dies ist jedoch nicht ungefährlich, zumal mit dem Übergang von der charismatischen zur bürokratischen Herrschaft die "revolutionären Institutionen" an Legitimität verloren haben.

Khameini, der Nachfolger Khomeinis als Vali-Faqih, ist das lebendige Symbol dieses Übergangs. Jüngst warnte die Tageszeitung Kayhan, die Macht Khameinis sei keineswegs durch Verfassung und Gesetze beschränkt. Formal sei er zwar vom Wächterrat ausgesucht, tatsächlich aber von Gott bestimmt worden. Eben dies fällt politisch bewußten IranerInnen, die wissen, daß über die Besetzung der religiös legitimierten Institutionen die Machtverhältnisse innerhalb des Regimes entscheiden, schwer zu glauben. Auch die Kritik an der Anmaßung und Brutalität der "Revolutionswächter" ist so laut geworden, daß sie selbst in der regimetreuen Presse diskutiert werden muß.

Begrenzte Liberalisierung Es wäre deshalb unklug gewesen, wenn die Rechte Khatemi sofort blockiert hätte. Auch wer meint, den Willen Gottes zu vollstrecken, kann es sich nicht leisten, das Votum von mehr als zwei Dritteln der WählerInnen einfach zu ignorieren. Eine frontale Konfrontation würde auf die islamistische Elite insgesamt zurückfallen und ihre Position gegenüber der Gesellschaft schwächen. Statt dessen suchten beide Seiten den Kompromiß. Khatemi handelte die Zusammensetzung seiner Regierung mit dem Parlament aus. Der Preis dafür war, auch Vertreter der Rechten, wie den neuen Geheimdienstminister Dorri Najaf-Abadi, zu integrieren. Im Gegenzug akzeptierte die Rechte, daß zwei "Liberale" die Kultur- und Gesellschaftspolitik reformieren. Abdullah Nuri, der wie Khatemi schon einmal von der Rechten aus dem Amt gedrängt wurde, wurde Innenminister, das für die Zensur zuständige Ministerium für Kultur und islamische Führung übernahm Mohadjerani.

Die Freigabe einiger bislang verbotener Bücher und Filme wurde bereits angekündigt. Die Zensur soll gemildert werden, an der grundsätzlichen Haltung gegenüber kultureller Dissidenz ändert sich jedoch nichts. Insbesondere dort, wo Khomeini "ex cathedra" in einer politischen Schrift oder einem Rechtsgutachten gesprochen hat, ist für keinen Vertreter des Regimes ein Kompromiß möglich. Dazu gehört auch die Fatwa gegen Rushdie. Nur bei Dissidenten, gegen die kein solches Urteil vorliegt (zu ihnen gehört unter anderem Sarkuhi), kann Khatemi Milde zeigen. Ob er das tut, wird vom Kräfteverhältnis abhängen und auch davon, ob die Betreffenden bereit sind, öffentlich zu bereuen und ihre Treue zum System zu bekunden.

Mehr Freiheiten wird es nur dort geben, wo die Gefahr ihrer politischen Ausnutzung gering erscheint oder die Kontrolle, wie beim Internet, die Zensur schlicht überfordert. Den Mittel- und Oberschichten, deren Mitarbeit für die kapitalistische Modernisierung unerläßlich ist, müssen Anreize geboten werden - beispielsweise die Erlaubnis, wieder Satellitenschüsseln auf den Dächern zu montieren. Auch die Ernennung Masumeh Ebtekars zur Vizepräsidentin und Beauftragten für Umweltfragen steht in diesem Zusammenhang. Politische Macht hat sie in dieser Position nicht, ihre Ernennung ist jedoch eine halboffizielle Anerkennung des informellen Kreises hochgestellter Frauen um Faiseh Haschemi, die sich um eine Erweiterung der Frauenrechte im Rahmen des Systems bemühen, und somit ein Signal, daß das islamistische System den Frauen Aufstiegschancen gewähren will.

Auch den traditionell orientierten Bevölkerungsschichten, die ebenfalls vom islamistischen Kulturkampf betroffen sind und vermutlich Khatemi unterstützt haben, werden Zugeständnisse gemacht. "Kultur ist unsterblich. Musik ist die Seele der Kultur" verkündete Mohadjerani kürzlich, und: "Musik ist Wahrheit, und sie offenbart sich in Poesie und Tanz." Michael Jackson hat er damit sicher nicht gemeint, beabsichtigt ist vielmehr eine vorsichtige Rehabilitierung der traditionellen iranischen Kultur. Dies könnte sogar der Beginn eines ideologischen Wandels sein, der aus der ursprünglich internationalistisch orientierten Khomeini-Doktrin eine iranische Religion macht, die Islamismus und Nationalismus verbindet.

Diplomatische Offensive gegen die US-Hegemonie Die Lehre Khomeinis ist eine spezifische Form des Islamismus, die auf andere islamische Staaten nicht übertragbar ist. Dort fehlt es an einer Geistlichkeit, die die nötige Unabhängigkeit vom Staatsapparat hat, um eine Revolution führen zu können. Selbst wenn es anderswo islamistische Revolutionen gibt, wird sich deren Führung nicht am iranischen Modell orientieren. Beim Bemühen um eine Führungsrolle in einer "multipolaren Welt" ist der absolutistische Führungsanspruch eher hinderlich, auch die Rechte spricht heute von den "Interessen der iranischen Nation und der Islamischen Republik", wenn es um die Kontinuität in der Außenpolitik geht.

Ihr Konflikt mit Khatemi ist nicht grundsätzlicher Art. Niemand wünscht einen Abbruch der Beziehungen zum Westen, umstritten sind allein die politischen Bedingungen und die Frage, wie weit der Iran sich für westliche Waren und westliches Kapital öffnen soll. Einig ist sich die islamistische Elite in dem Willen, die US-Hegemonie in der Golfregion zu brechen. Zu diesem Zweck wird die Zusammenarbeit mit Syrien ausgebaut, beide Staaten öffnen sich gegenüber dem Irak. Ob daraus ein politisches Bündnis wird, bleibt abzuwarten, jedenfalls rücken die Feinde der pax americana enger zusammen.

Zugleich bemüht sich der Iran um eine Annäherung an die prowestlichen arabischen Staaten, und dies angesichts einer US-Politik, die einseitig auf die Türkei und Israel setzt, mit einigem Erfolg. Sogar in Richtung Golfmonarchien sendet Teheran Signale der Verständigungsbereitschaft. Der Iran, so der neue Außenminister Kharrazi, sei "bereit, einen ernsthaften Dialog mit seinen arabischen Nachbarn zu beginnen, um eine Zone ohne Massenvernichtungswaffen zu schaffen und Frieden und Stabilität zu garantieren." Frei übersetzt: Wenn die Golfmonarchien sich von ihren westlichen Schutzherren lösen, wird der Iran den militärischen Druck im Persischen Golf mindern und von der Unterstützung schiitischer Minderheiten Abstand nehmen.

Die innen- und außenpolitische "Normalisierung" ähnelt der Entwicklung in vielen nationalistischen Diktaturen: In der ersten Phase revolutionäres Pathos und Staatskapitalismus, dann ökonomische Liberalisierung bei bleibender ideologischer Härte, schließlich vorsichtige gesellschaftliche Liberalisierung. Welche Dynamik eine solche Liberalisierung entfaltet, ist nicht vorhersehbar. Das iranische System hat sich, verglichen mit den ba'thistischen Diktaturen oder den Golfmonarchien, als erstaunlich reformfähig erwiesen. Die Reformfähigkeit hat ihre Grenzen allerdings dort, wo die Macht der islamistischen Elite bedroht ist. Und gerade wenn die kapitalistische Modernisierung erfolgreich ist, wird das diejenigen Kräfte in der Gesellschaft stärken, die sich mit der Macht der Geistlichkeit nicht abfinden wollen.