Selbstbeschränkung - eine unmögliche Notwendigkeit?

Ökologische Herausforderungen an die Berliner Republik

Hans-Peter Dürr

Auftaktveranstaltung der Projektgruppe "Grüne Akademie" in der Heinrich-Böll-Stiftung am 16./17. Juni in Berlin

Zum 16. Juni hatte die Heinrich-Böll-Stiftung zu einer Veranstaltung in die Berliner Humboldt-Universität geladen. Vor rund 200 Gästen skizzierte Ralf Fücks, Mitglied des Vorstandes der Heinrich-Böll-Stiftung, Absichten und Hoffnungen, die die Stiftung mit der Gründung einer "Grünen Akademie" verbindet. Professor Hans-Peter Dürr, Elementarteilchenphysiker und Träger des alternativen Nobelpreises, hielt den Vortrag zum Thema der Veranstaltung: "Selbstbeschränkung - eine unmögliche Notwendigkeit. Ökologische Herausforderungen an die Berliner Republik". Dem Vortrag schloß sich eine Diskussion an. Am 17. Juni wurde die Veranstaltung mit einem mehrstündigen Seminar fortgesetzt. Auf Basis des Vortrages diskutierten die 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Thema weiter. Komoderator Michael Daxner faßte später seinen Eindruck zusammen: "Es war ein echtes ,Seminar`, sehr bald war das übliche eindimensionale Frage-und-Antwort-Spiel mit dem Hauptreferenten einer ernsthaft-leichten Gesprächsdynamik gewichen. Ernsthaft und leicht, das scheint mir besonders wichtig. Nur ernsthaft, das wäre die Unvermitteltheit der dunklen Drohung geblieben: Selbstbeschränkung, totalitäre Lösungen für unabweisbare Forderungen, Ausweglosigkeit oder das Gefühl, daß es für Politik zu spät sei. Nur leicht, das wäre der verblasene Optimismus gewesen, es werde sich das Rettende schon zeigen. Bei der Vielzahl gescheiter Lösungsvorschläge bedürfe es nur mehr der Umsetzung." Alles in allem ein Auftakt, der Lust auf Fortsetzung machte.

Die Dokumentation umfaßt die Begrüßung durch Ralf Fücks und den Vortrag von Professor Hans-Peter Dürr sowie Ausschnitte aus der Diskussion vom Abend des 16. Juni. Die Texte sind redigierte und autorisierte Fassungen der mündlichen Vorträge, die auf Tonband festgehalten wurden.

Begrüßung durch Ralf Fücks vom Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Wenn wir diesen Abend als "Auftaktveranstaltung der Grünen Akademie" tituliert haben, dann war das am Rande der Hochstapelei. Heute haben wir eher eine Generalprobe als eine Premiere. Die Grüne Akademie gibt es noch gar nicht, etwas freundlicher gesagt: Sie ist noch im Werden. Wenn aber alles gutgeht, wird sie Anfang nächsten Jahres zusammen mit ihrer Schwester, dem Feministischen Institut, die Arbeit aufnehmen.

Grüne Akademie, das könnte ein paar Mißverständnisse nahelegen, doch ist weder an ein forstwissenschaftliches Institut noch an eine grüne Parteihochschule gedacht. Meine Lieblingsmetapher für dieses Projekt ist "Ideenwerkstatt", nicht als selbstgenügsamer akademischer Diskussionszirkel, sondern als ein Kreis von gleichermaßen theoretisch wie politisch engagierten Menschen mit Lust auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und auf ideelle Intervention in die politische Öffentlichkeit, in die Zukunftsdebatte.

Es versteht sich, daß die Akademie kein politisches Neutrum sein soll; Sympathie für das grüne Projekt wird als selbstverständlich vorausgesetzt, und Impulse für die programmatische Diskussion der Grünen sind erwünscht, aber um Himmels willen soll diese Grüne Akademie keine externe Programmkommission sein. Das würde jede produktive Debatte im Strömungsproporz und mit der Garrotte der Political correctness ersticken. Wenn die Akademie ausstrahlen will und soll, dann muß sie autonom sein in der Wahl ihrer Themen und ihrer Mitglieder.

Der Grundsatz der materiellen Selbstbegrenzung, der bei dem Thema der heutigen Veranstaltung Pate gestanden hat, gilt auch für die Akademie selbst. Sie wird nur ein kleines Budget haben und keinen großen Apparat. Sie setzt auf ehrenamtliche Mitarbeit und die Selbstorganisation ihrer Mitglieder, die aus ganz unterschiedlichen Professionen, Wissenskulturen und gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhängen kommen sollen. Manche sagen, dieses Prinzip einer Mitgliederakademie, die kontinuierlich an bestimmten Themen arbeiten soll mit der Absicht einer ideellen Produktion, die öffentlich wirksam wird, wäre idealistisch. So viel Zeit und ehrenamtliches Engagement hätte heute niemand mehr, der professionell und kompetent ist. Wir wollen die Probe aufs Exempel machen, weil wir glauben, daß es wieder ein wachsendes Bedürfnis nach einem Ort gibt, wo sich Wissenschaft und Politik treffen, also wissenschaftliche Qualifizierung von Politik stattfinden und gleichzeitig eine ernsthafte theoretische Diskussion mit politischer Absicht geführt werden kann.

Die thematischen Leitplanken dieser Grünen Akademie soll das Begriffspaar Ökologie und Demokratie bilden. Es bezeichnet ein durchaus spannungsreiches Verhältnis. Ökologie und Demokratie sollen thematisch nicht einengen. Es wird um Globalisierung gehen können, um ökonomische, um sozialpolitische Fragen, um die Zukunft der Arbeit oder das Geschlechterverhältnis - aber zugespitzt, weil wir der Überzeugung sind, daß Demokratie und Ökologie nicht nur im Zentrum des grünen Projekts stehen, sondern daß sie auch für die Zukunft dieser Gesellschaft, ich will nicht sagen: die entscheidenden, aber doch entscheidende Fragen sind.

So ist auch das Thema der heutigen Veranstaltung durchaus programmatisch gemeint. Es formuliert aus einer ökologischen Perspektive die Notwendigkeit der materiellen Selbstbegrenzung der Industriegesellschaften und gleichzeitig den Zweifel, ob diese kopernikanische Wende, diese wirkliche Kulturrevolution - weg vom Immer-mehr und Immer-schneller - tatsächlich mehrheitsfähig ist. Dieser Zweifel ist ja nicht erst durch die jüngsten politischen Erfahrungen mit den Magdeburger Beschlüssen der Grünen zur ökologischen Steuerreform und der Reaktion auf die berühmt-berüchtigte Fünf-Mark-Forderung geweckt worden. Er entspringt schon daraus, daß die großen gesellschaftlichen Systeme, von denen die Reproduktion der Gesellschaft heute abhängt, allesamt auf wirtschaftliches Wachstum gegründet sind: Vom Arbeitsmarkt über die Staatsfinanzen bis hin zur Zukunft der Altersversicherung - alles ist auf die Wachstumslogik gegründet. Selbstbegrenzung scheint ein völlig idealistisches und fast weltfremdes Postulat zu sein in einer Phase, in der die Entfesselung der Wachstumskräfte geradezu als das Patentrezept für die großen gesellschaftlichen Krisen ausgegeben wird und die Wachstumsdynamik rund um den Globus noch einmal entfesselt werden soll. Höchstens zeichnet sich heute eine gesellschaftliche Allianz für eine ökologische Effizienzrevolution ab, also für eine Steigerung der Ressourcenproduktivität. Das wäre schon ein großer Sprung nach vorn, aber eben nur die halbierte Ökologie.

Als Akademie wollen wir es uns leisten, auch über Fragen eine kritische und produktive Diskussion zu führen, die heute nicht politikfähig scheinen, weil wir sicher sind, daß sie in den nächsten Jahren wieder auf die Agenda der Politik kommen werden. Wenn die Berliner Republik einen Neuanfang bedeuten soll und nicht nur einen Ortswechsel und hoffentlich auch einen Regierungswechsel, dann wird in den nächsten Jahren das politische Abc neu buchstabiert werden müssen von A = Arbeit bis Z = Zuwanderung.

Dazu wollen wir mit der Akademie einen kleinen, aber nachhaltigen Beitrag leisten. Und wir sind sehr froh, daß wir für diese Veranstaltung heute abend Herrn Professor Dürr gewinnen konnten. Eine Laudatio auf einen alternativen Nobelpreisträger zu halten, hieße vermutlich, Eulen nach Berlin tragen. Das will ich nicht tun. Ich möchte an Ossietzky erinnern. Er sagte, die Wissenschaft müsse wieder menschlich werden und zwar in doppeltem Sinn: einmal als Erinnerung an ihre humanistische Verpflichtung und gleichzeitig als ein Versuch, wieder verständlich zu werden, sich also den Menschen mitzuteilen, statt sich in den Elfenbeinturm der Spezialisierung zurückzuziehen.

Herr Professor Dürr verkörpert diese Form von menschlicher Wissenschaft wie kaum ein anderer in der Bundesrepublik.

Hans-Peter Dürr

Global Challenges Network, München

Meine Damen und Herren, mir wurde "Selbstbeschränkung - eine unmögliche Notwendigkeit. Ökologische Herausforderung an die Berliner Republik" als Vortragsthema zugedacht. Ich habe gesehen, daß "Beschränkung" eines der Themen genannt ist, auf die sich die Grüne Akademie am Anfang konzentrieren will.

Ein sehr brisantes Thema - mit 5 Mark sind Sie dabei. Mich hat überrascht, daß diese Forderung so viel Aufregung erzeugt hat, nachdem über diesen Punkt schon so lange diskutiert worden ist. Dabei hatte ja niemand behauptet, daß die Forderung morgen verwirklicht sein solle. Es ist nur eine langfristige Prognose aufgestellt und ein langfristiges Ziel genannt worden. So etwas kann man sich anscheinend nicht mehr leisten, wenn man eine Wahl gewinnen will. Da muß man sich auf das konzentrieren, was morgen notwendig ist und das übrige ignorieren. Ein Grund für die Aufregung kann sein, daß der Begriff "Beschränkung" von der Öffentlichkeit als dem der "Freiheit" entgegengesetzt verstanden wird, obwohl wir doch alle ein freies und lustvolles Leben führen wollen. Vielleicht klingt "Beschränkung" einfach zu negativ.

Überrascht hat mich auch, daß sich gerade die christlichen Parteien so stark an Begriffen wie Beschränkung und Selbstbeschränkung stoßen. Eigentlich sind sie doch sehr eng mit der konservativen christlichen Lebenshaltung verbunden. Aber ich glaube, man soll sich von dieser Aufregung nicht allzu sehr erschrecken lassen, sondern immer wieder zeigen, was positiv dahintersteht.

In meinem Vortrag will ich nicht mit der Beschränkung anfangen. Sie muß eine Konsequenz sein. Ich will mit der ökologischen Herausforderung anfangen. Sie ist der Ausgangspunkt. Zunächst stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit im allgemeinsten Sinn, der Nachhaltigkeit des Ökosystems und des Biosystems, in dem die Menschen eingebettet sind. Nachhaltigkeit des Ökosystems reicht uns aber nicht. Wir wollen, daß der Mensch mit dabei ist. Also geht es auch um die Zukunftsfähigkeit des Menschen, präziser: um die Zukunftsfähigkeit des Homo sapiens. Wir wollen ein Menschenbild vor Augen haben, das wir wirklich für erhaltenswert halten. Dann will ich untersuchen, wie wir dieser Herausforderung begegnen können. Wissenschaftliche Einsichten werden notwendig sein, aber nicht ausreichen. Wir brauchen auch weisheitliche Einsichten, die über die Wissenschaftlichkeit hinausgehen. Ethische, gesellschaftlich-kulturelle und wissenschaftliche Aspekte werden also eine Rolle spielen.

Dann will ich mich den prinzipiellen und praktischen Möglichkeiten der Umsetzung zuwenden. Wie weit reicht unsere Gestaltungsfähigkeit überhaupt? Wir sagen ja im Augenblick gern: Wir sind ganz ohnmächtig und können nur abwarten, was passiert. Dem möchte ich entgegentreten. Wir haben die Fähigkeit zur Gestaltung. Wir können etwas, sogar vieles tun, aber wir müssen uns gut überlegen, was wir tun.

Es ist sehr viel mehr möglich, als wir uns vorstellen. Also geht es eigentlich um die Wahrscheinlichkeit, mit der wir das erreichen können, was wir anstreben. Welche Akteure spielen eine Rolle? Wer hat die Macht? Wo liegt die Kompetenz? Und vor allem: Wo in der Gesellschaft steckt auch der Wille zur Veränderung?

Selbstbeschränkung wird sich dann als eine wesentliche Option ergeben. Wer bestimmt aber, was und wieviel beschränkt wird? Wer ist dieses Selbst? Vielleicht sollten wir andere Benennungen finden. Die Beschränkung soll ja zukunftsfähig machen. Warum sagen wir dann nicht einfach Zukunftsfähigkeit? Wir wollen ja eine Befreiung des Menschen haben. Wir sind doch auch jetzt nicht ohne Beschränkungen. Im Gegenteil. Unser Leben ist zum Teil miserabel. Es geht also um ein Leben, das offener, das flexibler, das wirklich human ist. Es geht um die Befreiung von all dem unnötigen Ballast, der uns beschränkt.

Zukunftsfähigkeit des Homo sapiens, also des Menschen in seiner vollständigen physischen, geistigen und emotionalen Verfassung, meint nicht die Zukunftsfähigkeit des Homo oeconomicus, dieser Schrumpfgestalt, in die wir uns hineindefinieren und in der wir nur noch als Arbeitskraft, als Kunde und so fort in einem ökonomischen System in Erscheinung treten.

Die Beziehung des Menschen zur Natur hat sich durch die Entwicklung der Technik, die aufgrund der wissenschaftlichen Kenntnisse möglich geworden ist, selbstverständlich sehr verändert. "Mensch, Natur und Technik" ist der Titel der Expo 2000 in Hannover. Es wäre notwendig, diese Beziehungen neu zu definieren. Die Technik hat sich ja in einem Maße verselbständigt, daß sie unser Leben vielfach, intensiv und schnell verändert hat. Welche Verschiebungen im Kräfteverhältnis Mensch und Natur haben sich damit ergeben? Die Technik ist in der Tat eine Gefahr für die Zukunftsfähigkeit des Menschen geworden. Die Gefahr entspringt aber nicht dem Gegensatz von natürlich und künstlich. Alles, was der Mensch tut, ist natürlich. Wir bedienen uns ja nur natürlicher Prozesse. Das aber heißt nicht, daß alles, weil es natürlich ist, erlaubt ist. Wir müssen uns auch fragen: Ist, was wir in bezug auf uns selbst, auf die Überlebensfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit des Menschen tun, vernünftig? Es geht ja nicht darum, daß wir die Natur schützen müßten. Die lacht sich einen Ast, wenn wir sagen, wir wollten sie schützen. Die Natur kann ohne uns leben, wir aber können nicht ohne die Natur und dieses spezielle Ökosystem, in das wir in dreieinhalb Milliarden Jahren hineingewachsen und eingebettet sind, leben. Darum dreht es sich. Die Natur ist ja nicht nur unsere Umwelt, sondern unsere Mitwelt und darüber hinaus unsere natürliche Lebensgrundlage, die wir erhalten müssen, damit wir weiter existieren können.

Nachhaltigkeit ist zunächst ökologische Nachhaltigkeit. Das Öko-System, in das wir eingebettet sind, ist dynamisch. Es hat sich in einer dreieinhalb Milliarden Jahre langen Evolution von ganz einfachen Formen bis zum heutigen Tag weiterentwickelt. Es geht also nicht nur darum, es im jetzigen Zustand zu erhalten, sondern seine Entwicklungsfähigkeit, seine Vitalität und Produktivität, seine Elastizität und Robustheit zu erhalten: alles, was es immun macht gegen zerstörende Veränderungen und es auch zur Weiterentwicklung in Richtung auf differenziertere Strukturen befähigt. Die Überlebensfähigkeit des Ökosystems ist trivial, eine Tautologie. Das Ökosystem wird immer überleben, aber wir wollen ein Ökosystem haben, in dem auch der Mensch eine Überlebenschance hat. Das ist sehr egozentrisch oder anthropozentrisch gedacht, aber es bleibt doch wesentlich, ob der Homo sapiens in seiner ganzen Vielfalt und Komplexität auch in die Zukunft wirkt.

Neben der ökologischen Nachhaltigkeit geht es auch um die soziale Nachhaltigkeit, also darum, ob der Homo sapiens in der Beziehung von Mensch zu Mensch, in der Gesellschaft einen Platz finden kann. Gerechtigkeit, Fairneß, auch die Möglichkeit der Partizipation wollen wir durch unsere demokratischen Grundforderungen in unseren Gesellschaften gerne am Leben erhalten.

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Da es uns um den Homo sapiens und um eine human-individuelle Nachhaltigkeit geht, wollen wir den Menschen in seiner Würde erhalten und die Entwicklungsmöglichkeiten seiner individuellen Fähigkeiten noch erweitern. Selbstverständlich müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden, aber damit wollen wir uns nicht zufriedengeben. In einer Gesellschaft, wo die ökologische und die soziale Nachhaltigkeit gelingt, wollen wir auch ein freud- und lustvolles Leben für die Menschen ermöglichen.

Wir müssen also drei Ebenen der Nachhaltigkeit im Auge behalten: die ökologische Ebene, die soziale Ebene und die human-individuelle Ebene. Alle drei sind gleich wichtig. Aber sie sind nicht gleichwertig. Selbstverständlich ermöglicht erst das ökologische System das soziale System der Menschen als Subsystem, das dann die einzelen Menschen als Subsysteme einschließt. Die Wertigkeit liegt für uns in der umgekehrten Ordnung der Entwicklungsstufen. Der Mensch ist am meisten entwickelt. Er hat Bewußtsein. Er ist kreativ. Und die Gesellschaft ist nur in dem Maße kreativ, wie ihre Menschen kreativ sind. Aber es gilt, alle drei Ebenen voll zu entwickeln.

Der Mensch ist ein Teil der Natur! Das zu betonen ist heute wichtig. Wir versuchen immer noch mit Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, wie sie unsere augenblickliche Ökonomie vertritt, und mit Technologien, die aus dem 20. Jahrhundert stammen, ins 21. Jahrhundert zu marschieren . Das ist unser Problem. Wir sollten den Menschen nicht außerhalb der Natur ansiedeln. Die meisten Menschen teilen zwar diese Aussage, aber ich glaube nicht, daß alle sie wirklich begriffen haben. Unsere Wirklichkeitsvorstellung ist eben immer noch die aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wonach man sich die Wirklichkeit, in der wir sind, als eine dingliche Wirklichkeit von Objekten denkt, von denen wir umstellt sind. Die Materie, die Substanz, die sich selbst nicht verändert, ist primär. Nur die Anordnung der Substanz verändert sich dann aufgrund von Wechselwirkungen. Diese Veränderung wird durch Naturgesetze diktiert. Diese Naturgesetze sind in der alten Auffassung determinierte, strenge Naturgesetze, nach denen sich, wenn wir die augenblickliche Situation genau kennen, auch genau vorhersagen läßt, wie die Konfiguration in der Zukunft sein wird. Die Welt funktioniert nach dieser Vorstellung wie ein Uhrwerk, und darauf beruht auch das Wissen. Wissen im engeren Sinne setzt diese determinierte Wirklichkeit voraus.

Jetzt kommt aber die große Frage: Wo steht der Mensch in dieser determinierten Wirklichkeit? Wir, die wir uns vorstellen, daß wir die Fähigkeit zu absichtlichem Handeln haben und eingreifen können, sagen also: Wir sind nicht determiniert. Sonst wäre es ja schrecklich. Deshalb nehmen wir den Menschen aus dieser Schöpfung heraus. Wir sagen: Der liebe Gott hat eine Woche lang herumgewerkelt, um dieses Uhrwerk zu machen und in Gang zu setzen. Dann hat er sich zurückgezogen und zusätzlich noch den Menschen erfunden, damit der in dieses Regelwerk als sein Stellvertreter eingreift: Macht euch die Erde untertan. Der Mensch ist der große Manipulator, der mit dieser determinierten Schöpfung umgeht und von außen in sie eingreift. Wissen ist Macht. Das ist ganz tief verankert in unserer Vorstellung.

Am Anfang dieses Jahrhunderts hat sich dieses Weltbild in der Physik radikal verändert. Das ist aber überhaupt nicht in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen, nicht einmal richtig in das Bewußtsein der meisten Physiker (obgleich sie alle die moderne Physik wegen ihres durchschlagenden Erfolgs akzeptieren) und praktisch gar nicht in das der anderen Naturwissenschaftler. Diese total andere Naturvorstellung vermeidet die Schwierigkeit, den Menschen aus der Schöpfung herausnehmen zu müssen, um ihm Gestaltungsmöglichkeit zusprechen zu können. Die moderne Physik sagt uns, wenn wir die Materie immer weiter zerlegen, stoßen wir schließlich auf etwas, das mit der Materie keine Ähnlichkeit mehr hat. Es fällt einem alles aus der Hand, obwohl wir noch so sprechen, als gäbe es Atome und Moleküle und all diese Dinge. Das ist aber nur eine Sprechweise. Was übrig bleibt, ist keine Materie mehr. Es bleibt nur etwas übrig, das wir in der Physik "Potentialität" nennen. Potentialität oder potentielle Wirklichkeit und nicht mehr Realität im Sinne einer dinglichen Wirklichkeit. Materie ist, so gesehen, eigentlich nur geronnene Gestalt. Die Beziehungsstruktur ist fundamentaler als die materielle Struktur. Materie ist verknotete Beziehung.

Es fällt uns sehr schwer, uns vorzustellen, daß etwas Gestalt haben kann, ohne daß es eine materielle Basis hat. Aber nehmen Sie mal eine Schallplatte und legen sie die Matthäus-Passion auf. Sie sind ganz hingerissen von einer wunderbaren Sopranstimme, einem Cello, dem Chor, dem Orchester in seiner Vielfalt. Sie nehmen die Platte runter und fragen: Wo ist der Sopran? Sie schauen auf die Platte. Sie sehen nur eine spiralförmige Rille. Sie nehmen ein Vergrößerungsglas, ein Mikroskop. Den Sopran werden Sie nicht entdecken. Der Sopran läßt sich nicht lokalisieren. Er hat etwas mit der Form der Linie zu tun, ihre spezifische Verwacklung macht den Sopran aus. Es ist die Form, die hier von Wichtigkeit ist.

Oder nehmen Sie das elektromagnetische Feld. Alle laufen heutzutage mit Handys herum. Haben Sie mal überlegt, an was Sie da angekoppelt sind? Früher hat man gedacht, da ist ein Äther, der schwingt. Aber den Äther gibt es nicht. Da schwingt etwas ohne eine unterliegende Materie, und die Form, sozusagen ein deformiertes Vakuum, trägt Ihr Telefongespräch zu Ihrem Partner, der 3.000 oder 4.000 Kilomenter weit entfernt ist. Und mit Ihrem kleinen Apparat können Sie diese Form erkennen. Das ist fast, wie wenn Sie am Atlantik stehen und einen Stein in das Meer werfen. Es gibt eine Wellenbewegung und jemand in Amerika, in New York sieht sich das Wasser an und schließt aus der speziellen Veränderung der Wellenbewegung: Das ist mein Gespräch und ich nehme es an. Das machen Sie täglich, wenn Sie Ihr Handy benützen. Die Form ist grundlegender als die Materie. Deshalb sage ich oft, daß die Wirklichkeit mehr Ähnlichkeit mit dem lebendigen Geist hat als mit der uns geläufigen stofflichen Materie. Die Materie ist eine Kruste des Geistes. Erst wenn er versteinert wird er zu dem, was Materie heißt.

Damit tritt an die Stelle von Materialität "Relationalität", also eine Beziehungsstruktur und damit ist auch die Zukunft unbestimmt. Kein Naturgesetz determiniert die Zukunft. Die Natur ist kein Uhrwerk mehr. Die Natur, die Wirklichkeit, ist genuin kreativ. Sie schafft etwas Neues, ohne daß es von etwas anderem verursacht ist. Was wir Ursache-Wirkung nennen, erscheint nur so in unserer Wahrnehmung. In der neuen Auffassung gibt es nur das Ganze und nicht mehr die Teile. In diesem holistischen Weltbild gibt es zwar noch eine gewisse Möglichkeit, so zu tun, als ob das Ganze aus Teilen bestünde, aber eigentlich gibt es sie nicht. In dem Augenblick jedoch, wo das Ganze sich nicht mehr in Teile zerlegen läßt, können wir dies mit der uns gewohnten Wissenschaft nicht mehr beschreiben, weil diese darauf beruht, daß ich fragmentiere, daß ich reduziere, das Komplizierte auf etwas Einfaches zurückführe. Und das alles ist nun streng genommen nicht mehr möglich.

Jetzt fragen Sie: Was heißt das denn? Da steht ein Elementarteilchenphysiker, ein Atomphysiker, der uns erzählt, was da unten in den allerkleinsten Dimensionen passiert. Was interessiert uns das in unserer Lebenswelt? Wir sehen das doch gar nicht. Ich setze mich in mein Auto und sehe: Da gibt es eine kausale Verknüpfung von Steuerrad und Richtungsveränderung. Und so ist es in der Tat.

Die Lebendigkeit auf dem untersten Niveau wird auf Ebene unserer Lebenswelt nicht mehr sichtbar, weil sie ausgemittelt ist. Das ist ungefähr so, wie wenn Sie einen Ameisenhaufen aus großer Entfernung ansehen. Er sieht dann wie ein starrer Kegel aus. Aber wenn Sie näher herangehen, dann sehen Sie, da ist ein Haufen Leben. Doch so genau schauen Sie gar nicht hin. Oder wenn Sie das Leben einer Stadt statistisch betrachten, dann entgeht Ihnen, was mit dem Leben der einzelnen Individuen zu tun hat. Wenn wir also eine große Ansammlung von diesen Wesenheiten (ich will sie absichtlich nicht Teilchen nennen) haben, kommt diese Determiniertheit heraus, die wir aus der "klassischen Physik" kennen - aber nur im statistischen Mittel. Alles muß dabei gut durchgemischt sein, damit es zu dieser Konsequenz führt.

Daß sich die Dinge so gut durchmischen, hängt mit einem Naturgesetz zusammen, das Sie alle kennen, wenn auch vielleicht nicht dem Namen nach. Es handelt sich um den "Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik". Letzten Endes besagt er, daß ein beliebiges System, das durch Besonderheit ausgezeichnet ist, sich selbst überlassen automatisch in größere Unordnung übergehen wird. Das Spezifikum wird demgemäß mit der Zeit verschwinden. Der zweite Hauptsatz besagt nämlich eigentlich nur: In Zukunft passiert das Wahrscheinlichere wahrscheinlicher. Die Unordnung ist einfach die wahrscheinlichste Konfiguration.

Nehmen Sie ein einfaches Pendel (Abbildung 1). Sie können seine Bewegung genau voraussagen. Es gelten die klassischen Sätze. Sie wissen auch, daß dieses Pendel am Schluß in der unteren Stellung zur Ruhe kommt, weil jede geordnete Bewegung allmählich in ungeordnete verwandelt wird. Das Pendel ist ein bißchen wärmer geworden, die Bewegung ist noch da, aber total ausgemittelt.

Wenn Sie Ihren Schreibtisch ansehen, dann wird er auch immer unordentlicher. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik! Sie brauchen sich also gar nicht zu entschuldigen. Aber Sie wissen auch, daß Ihr Schreibtisch an jedem Wochenende, bei manchen seltener, wieder in Ordnung kommt. Demnach gibt es auch die Möglichkeit, die Unordnung wieder in Ordnung bringen. Um von dem wahrscheinlichen Zustand zu dem unwahrscheinlichen Zustand einer bestimmten Ordnung zu kommen, brauchen Sie eine ordnende Hand. Sie hat zwei Eigenschaften: Sie bewegt sich. Sie müssen also arbeitsfähige Energie in das System reinpumpen. Aber das reicht nicht. Wenn Sie arbeitsfähige Energie in ein System hereinbringen, dann ordnet sich das nicht von alleine, im Gegenteil. Nehmen Sie ein Kartenspiel und schicken Sie arbeitsfähige Energie durch, dann sehen Sie, die Unordnung nimmt noch schneller zu. Das wollen Sie auch, wenn Sie sagen: Ich will die Karten mischen. Sie wollen nicht abwarten, bis durch winzige Störungen im Laufe einer langen Zeit die Unordnung sich automatisch eingestellt hat, sondern sofort spielen. Aber Sie können das Kartenspiel auch ordnen. Dabei müssen Sie jede Karte ansehen. Sie brauchen eine Intelligenz, um Ordnung zu machen, nicht nur Energie. Und Intelligenz braucht Zeit. Wenn Sie sich keine Zeit nehmen, die Karten anzusehen, dann mischen Sie sie nur. Man muß also wissen, daß der Gegentrend, der von primitiven zu differenzierteren Ordnungen führen soll, einen Energiedurchfluß und Intelligenz und damit auch Zeit braucht.

Intelligenz bedeutet hier, daß dem System die Möglichkeit gegeben werden muß, sich entweder so oder so "entscheiden" (dies ist kein bewußter Akt) zu können. Auch dieses physikalische Pendel hat einen intelligenten Punkt.

Er liegt ganz oben, wo niemand sagen kann, ob das Pendel links oder rechts herunterfällt. Das System ist an diesem obersten Punkt "intelligent". Das heißt so viel wie: Das Pendel ist hier hochsensibel. Es "spürt" hier gewissermaßen seinen Zusammenhang mit allem, was in der ganzen Welt ist. An diesem Punkt hat das Pendel Intelligenz in diesem passiven Sinne. Um es noch sensibler und intelligenter zu machen, ziehe ich hier zwei Zapfen heraus. Sie sehen, das einfache Pendel wird jetzt zu einem Tripelpendel, zu einem Pendel an einem Pendel an einem Pendel (Abbildung 2). Dieses sogenannte Chaospendel führt jetzt Bewegungen aus, die (bei Vernachlässigung der Reibung) prinzipiell nicht mehr prognostizierbar sind. Da steckt nichts wirklich Geheimnisvolles dahinter. Das Pendel hat jetzt einfach unendlich viele Intelligenzpunkte. Es bildet jetzt ein intelligentes System. Wenn wir mehrere solcher instabilen Systeme auf einem Haufen haben, dann haben wir Schwierigkeiten, sie so durchzumischen, daß alle diese sonderbaren Eigenschaften verlorengehen.

Die sogenannten chaotischen Bewegungen, die ich mit diesem einfachen mechanischen Pendel vorgeführt habe, sind die Basis des Lebendigen.

Das Lebendige ist nicht andere Materie, das Lebendige ist dieselbe Materie wie die "tote Materie" (die im Grunde ja gar nicht materiell ist), aber in der Nähe von Instabilitäten. Durch die Destabilisierung wird die darunterliegende Lebendigkeit erkennbar, die eigentlich das Wesen unserer Wirklichkeit ausmacht und nicht erst nachträglich als geistige Qualität "von oben" dazukommt.

In dreieinhalb Milliarden Jahren hat sich auf unserer Erdoberfläche - angefangen bei wenigen einfachen organischen Verbindungen bis hin zum Menschen - eine Evolution genau im Gegentrend des Gewohnten vollzogen. Die ordnende Hand spielte dabei die Sonne. Die Energie selbst ist dabei nicht wichtig. Die eingestrahlte Sonnenenergie wird wieder in den Weltenraum als Wärme-Energie zurückgestrahlt. Es bleibt von dieser Energie insgesamt (fast) nichts hängen, sonst würden wir allmählich alle kochen. Die Sonnenenergie, die eingestrahlt wird, ist aber höher geordnet als die rote Wärmestrahlung, die in den Weltenraum zurückgeht. Diese Ordnungsdifferenz (Syntropie oder Negentropie) ist die treibende Kraft der Evolution. Sie treibt das ganze biologische System, entgegen dem normalen Trend zu größerer Unordnung, zu immer differenzierteren Strukturen hinauf.

Von der auf der Erdoberfläche auffallenden Sonnenenergie wird praktisch nur etwa ein halbes Promille durch das Biosystem hindurchgepumpt. Wir wissen, daß die Zufuhr arbeitsfähiger Energie allein, also die bewegliche Hand, für eine Höherstrukturierung nicht ausreicht, sondern diese Hand muß auch ordnend wirken. Damit höhere Lebewesen entstehen, brauchen wir auch Intelligenz. Und diese Intelligenz ist das Wunderbare der ganzen Evolution. Evolution ist eigentlich ein Lernprozeß, in dem alles, was gelungen ist, aufbewahrt, reproduziert und weitergegeben wird. In der Schule lernen wir meist, daß die Evolution eigentlich ein Glücksspiel ist. Sie beginnt mit einem Zufall und dann kommt "the survival of the fittest": Was und wer sich dann am besten bewährt, überlebt. Wahrscheinlich ist das nicht richtig. Wenn wir in die Nähe von Instabilitäten kommen, dann ist das System mit dem ganzen Weltall verkoppelt oder mehr: es erfährt die viel weitergehende Verkopplung von allem mit allem, wie dies die moderne Physik lehrt. Die Evolution ist dadurch kein reines Glücksspiel mehr, sondern Ergebnis eines komplexen Zusammenhangs, der erst verständlich macht, daß in einer so kurzen Zeit von nur dreieinhalb Milliarden Jahren ein Mensch entstehen konnte. Würden die für die Evolution notwendigen Mutationen ganz zufällig erfolgen, so könnte das trotz aller Abkürzungen wohl nicht so schnell gehen.

Lassen Sie mich das an einem eingängigen Beispiel veranschaulichen. Ich habe hier ein Goethe-Gedicht (Abbildung 3) Sie sehen, das hat Ordnungsstrukturen auf sehr viel verschiedenen Niveaus. Stellen Sie sich mal vor, Sie müßten ein solches Gedicht durch Zufall schreiben, indem Sie mit den Buchstaben (es sind hier insgesamt mehr als 800 Symbole) geeignet würfeln. Sie würden diese spezielle Anordnung in keiner vernünftigen Zeit bekommen können, sie ist einfach zu unwahrscheinlich. Ich habe es einmal ausgerechnet. Diese besondere Anordnung tritt nur einmal in 101137 Fällen ein. Die Größe dieser Zahl können Sie sich überhaupt nicht vorstellen. Die Zahl der Atome in einem Universum von 20 Milliarden Lichtjahren ist nur 1083, eine winzig kleine Zahl im Vergleich. Goethe hat dieses Gedicht wahrscheinlich in wenigen Stunden geschrieben. Er hat eben nicht gewürfelt, sondern er hat als educated guest es mit einer gewissen Vorstellung entworfen. Auch die Evolution folgt gewissermaßen in Anschauung einer Vorstellung. Die Welt wird in jedem Augenblick neu geschaffen, aber in Erinnerung an die Welt, wie sie vorher war. Deshalb ist sie auch gestaltungsfähig.

Die Evolution ist wie das Schreiben eines schönen Gedichts. Wenn Sie ein solches Gedicht schreiben wollten und würden den alten Sozialdarwinismus anwenden, fingen Sie mit A und B an. Die beiden streiten sich, wer der erste und wer der größere ist. Die stritten sich so lange, bis nur einer übrig bliebe. Ein Gedicht käme nie heraus. Am Ende hätten Sie nur ein A oder ein B. Aber irgendwann kämen Sie drauf, daß A und B etwas zusammen machen könnten. Und dann nähmen Sie vielleicht noch ein L dazu und fingen mit einen BLABLA an. Das BLABLA ist schon eine Stufe höher in der Entwicklung als die Buchstaben. Aus Buchstaben entstehen durch Kooperation Worte, aus Worten Sätze. Schließlich bin ich auch als Leser des Gedichts in dieses Spiel mit eingebunden. Ich kann dieses Gedicht nur verstehen, weil ich mich auf eine Koexistenz mit ihm einlasse. Wenn ich kein Deutsch und nicht lesen kann, dann verstehe ich das Gedicht nicht und weiß gar nicht, warum es so wertvoll sein soll.

Für jemanden, der nicht lesen kann, würde das Gedicht vielleicht so aussehen (Abbildung 4) Es ist dasselbe Gedicht. Ich habe mit dem Computer nur das Alphabet gespiegelt, also A mit Z vertauscht, B mit Y und so fort. Da verstehen Sie nur "Bahnhof". Dies mag ein Beispiel für unsere Wahrnehmung der Natur sein: Sie ist für uns wie dieses Gedicht, dessen Sprache wir nicht kennen und sagen: Vielfalt ... toll. Ja, die Vielfalt spielt eine Rolle. Aber den Sinn dieser Vielfalt können wir nicht durchschauen. Viele sagen auch: Mit so einem Gedicht kann ich nichts anfangen. Da muß mehr rationale Ordnung und Übersicht rein. Das probiert die Technik mit der Natur... Das Gedicht sieht dann so aus (Abbildung 5). Da sehen Sie, warum die Technik glaubt, sie sei besser als die Natur. Sehen Sie mal, wie viele Ns die hintereinander bringt. Die Natur kriegt nur zwei zusammen. Fazit der Überlegungen und Beispiele: Die Evolution entspringt einem Zusammenspiel und nicht aus einem beliebigen Gewürfle.

In der neuen Betrachtungsweise steht der Mensch nicht mehr außerhalb der Natur, sondern ist ein Teil von ihr. Aber wir sind deshalb noch lange keine Maschine, weil es auch für die Natur die Maschine im Hintergrund gar nicht gibt. Wir sind auf dem Chaosprinzip aufgebaut. (Nach der modernen Physik fällt allerdings das Chaos nicht ganz so wild wie im klassischen Falle aus.) Wenn wir nicht funktionieren, und man versucht, uns deshalb festzuschrauben, funktionieren wir noch weniger. Das Chaos lebt von der inneren Beweglichkeit. In lebendigen Systemen haben wir eine Ahnung, wie die Wirklichkeit im Untergrund aussieht.

Lebendige Materie ist destabilisierte Materie, aber im Gleichgewicht gehalten von Kraft und Gegenkräften. Energie wird durchgepumpt. Aber Sie brauchen auch Intelligenz, um diese höheren Strukturen zu schaffen. Zerstörungsprozesse gehen beliebig schnell. Aufbauprozesse brauchen eine bestimmte Energie, aber sie müssen darüber hinaus auch genügend langsam gehen, damit die Lernprozesse zur Wirkung kommen. Die Existenz des Lebendigen hängt also ganz eng damit zusammen, daß wir nicht zuviel Energie durch das System hindurchschicken, weil das nur die Abbauprozesse gegenüber den Aufbauprozessen begünstigt. Wir brauchen Moderation und Entschleunigung, wenn wir eine Höherentwicklung haben wollen. Wollen wir dagegen alles ruinieren, brauchen wir nur so viel Energie durchzuschicken wie irgendmöglich, und alles wird eingeebnet. Wie stark dürfen wir also an diesem Ökosystem und speziell dem Biosystem rütteln, bevor es zusammenklappt? Es ist ja ein metastabiles, im Gleichgewicht gehaltenes labiles System.

Das Biosystem ist nicht mit einem Granitkegel vergleichbar, auf dessen Spitze als Krone der Schöpfung der Mensch tanzt. Sie müssen sich das Biosystem mehr wie ein Kartenhaus vorstellen. Es ist ein bißchen besser als ein Kartenhaus, denn im Biosystem wird jede Karte durch Kraft und Gegenkraft immer wieder neu justiert, damit der ganze Bau in der Balance bleibt. Aber jetzt wir da oben: Wieviel dürfen wir dort herumturnen, bis das Ganze zusammenbricht, zumal wenn wir unten dauernd Karten herausziehen und uns sagen: Wozu brauchen wir die eigentlich?

Die Nachhaltigkeit wird dadurch am meisten verletzt, daß der Mensch sich noch immer als Herrn der Schöpfung betrachtet und sich mit dem alten Bild des großen Manipulators identifiziert. Wir glauben immer noch, daß die Umwelt nur dazu da sei, um aus ihr Ressourcen herauszuschlagen und Müll in sie hineinzukippen. Die Sonne hat diese Aktivitäten bisher einigermaßen im Gleichgewicht gehalten. Aber durch Ausgraben der fossilen Energieträger pumpen wir nun zusätzlich und in hohem Grade diese gespeicherte Sonnenenergie in unser System hinein. In einem Strohfeuer verbrauchen wir in zwei Jahrhunderten, was in Millionen von Jahrhunderten an Sonnenenergie angesammelt wurde. Wie Bankräuber investieren wir in immer bessere Schweißgeräte, mit denen wir einen Naturtresor nach dem andern ausrauben und meinen: Das ist Wertschöpfung.

Durch diese fossilen Brennstoffe haben wir hochkonzentrierte Energien für die Erleichterung und Verbesserung unserer Lebenshaltung zur Verfügung bekommen. Wir gewöhnen uns auf diese Weise an einen Lebensstandard, der auf Dauer gar nicht durchzuhalten ist. Davon müssen wir irgendwie wieder runter, wollen dies aber nicht wahrhaben. Das Öl wird in 30 bis 40 Jahren als erstes ausgehen. In den nächsten fünf Jahren werden wir das Maximum des Ölverbrauchs erreicht haben. Dann werden wir hinten runtergehen und die Limitierung der Lager wird letzten Endes den Preis diktieren.

Es sind aber eigentlich nicht die schnell verknappenden Ressourcen, die uns am meisten bedrücken müssen. Wenn eine Ressource erschöpft ist, ist es damit vorbei. Wir suchen nach Ersatz, etwa Kernspaltungsenergie, vielleicht Kernfusion unter anderem. Doch was machen wir mit der Energie? Wir pumpen sie durch das Biosystem hindurch und das führt zu einer zusätzlichen menschengemachten Destabilisierung. Zunächst hatten wir uns gefragt, wo tun wir die radioaktiven, abgebrannten Brennstäbe hin? Dann hat man festgestellt, daß CO2 die abgebrannten Brennstäbe der Kohle ausmacht, von denen wir glauben, sie problemlos in der Atmosphäre endlagern zu können. Das dürfen wir nicht länger, weil es unser Klima bedroht. Viele Leuten glauben nun, wenn wir das Klimaproblem gelöst haben, sind wir aus dem Schneider, dann sind wir nachhaltig. Kein Drandenken! Das Klimaproblem ist nur besonders sichtbar.

Ich will nur daran erinnern, daß außer den 6,6 Gigatonnen Kohlenstoff, die die Menschen in die Atmosphäre blasen, durch die Zerstörung des Bodenlebens wahrscheinlich Kohlenstoff in einer Größenordnung in die Atmosphäre geht, die ungefähr dem Ausstoß des Verkehrs auf der ganzen Erde entspricht. Aber noch heißt es: Wir haben mit der Atmosphäre zu tun, da können wir uns nicht auch noch mit dem Boden abgeben!Wir sehen immer nur die Spitze des Eisbergs.

Und selbst das Problem geeigneter Endlager für die Abfallprodukte unserer Energieträger wird nicht der wesentliche begrenzende Faktor sein. Die einschneidendste Begrenzung liegt wohl im gesamten Energieumsatz des Menschen: Wie stark können wir auf diesem Kartenhaus rumhampeln, bis es zusammenbricht? Auch ganz anständige und liebe Menschen hampeln auf ihm herum. Ich stelle also die Frage: Wieviel Mensch erträgt denn dieses Biosystem? Die Frage ist akut. Etliche Leute sagen: Die jetzt schon 6 Milliarden sind für unsere endliche Erde schon fast zuviel. Ja, an diesem Argument ist etwas Richtiges dran. Und dann schauen sie besorgt nach Süden. Aber es kommt nicht nur auf die 6 Milliarden Menschen an. Es kommt auch darauf an, was diese Menschen machen. Wir haben im Augenblick weltweit einen Energieumsatz von 13 Terawatt. Das ist das Leistungsäquivalent von 130 Milliarden Energiesklaven. Die Bevölkerung von 6 Milliarden Menschen beschäftigt 22mal mehr Quasi-Menschen im Hintergrund. Ein Energiesklave in meiner Rechnung entspricht etwa einer Viertel Pferdestärke oder bei einem 12stündigen Arbeitstag einer durchschnittlichen Leistung von 100 Watt. Das ist ein ziemliches Monstrum an Mannstück. Und von ihm haben wir 130 Milliarden Exemplare, die alle mit herumhampeln. Das ist das wirkliche Problem.

Die Frage ist deshalb eigentlich: Wieviel Energiesklaven kann dieses Biosystem noch eben ertragen? Fragen wir so, dann können wir nicht mehr nach Süden schauen, sondern müssen auf uns blicken. Ein Amerikaner beschäftigt im Durchschnitt 110 von diesen Sklaven und jeder hier in Mitteleuropa 60 im Schnitt, ein Chinese dagegen nur 8, ein Bangladesher sogar bloß einen einzigen. Meine 60 Sklaven ruinieren die Welt für mich, noch wenn ich im Bett liege. Wir brauchen eine Geburtenkontrolle von Energiesklaven. Machen Sie mal Ihre Kühlerhaube auf, da liegen 250 Energiesklaven drunter, wenn Sie einen Mittelklassewagen fahren, oder 700, wenn Sie S-Klasse fahren. Ein bißchen aufwendig, um einen Brief einzuwerfen.

Die Marktwirtschaft ist immer noch nach den Prinzipien des Nullsummenspiels, des alten Darwinismus, organisiert: mein Vorteil - dein Nachteil und umgekehrt. Es muß einen Gewinner und einen Verlierer geben. Aber letzten Endes ist die Menschheit ja aus einem Plussummenspiel hervorgegangen. Wir brauchen keinen Wettkampf, sondern competition. Das bedeutet ursprünglich eine "gemeinsame Suche" nach Lösungen. Eine solche müßten wir praktizieren und nicht den Wettstreit darum, wer der Gewinner und der Verlierer ist? Wettbewerbsfähigkeit gar zum obersten Prinzip unseres Lebens zu erklären, ist der größte Schwachsinn, den man sich in diesem Zusammenhang vorstellen kann. Sie ist doch ein Mittel und kein Ziel. Damit ich überhaupt weiß, was weniger oder mehr wettbewerbsfähig ist, muß ich alles erstmal eindimensional abbilden. Wir müssen ja eine Bewertungsskala haben. Und dann werden diejenigen die Gewinner sein, die Natur und Mitmenschen am schnellsten, raffiniertesten und umfassendsten ausbeuten können.

In dieser Weise sägen wir alle gemeinsam um die Wette an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Der Japaner sägt schneller als ich, also muß ich scneller sägen als der Japaner. Die Natur gibt sich gelassen. Sie regelt nach dem Prinzip: Dumme sterben aus. Sie stürzen einfach ab, werden aus der Evolution als untauglich entlassen. Es wäre ein wunderbares Prinzip, wenn es individuell angewendet würde. Aber die Dummen nehmen auch die Gescheiten mit. Und wahrscheinlich mit Recht. Wenn es den Gescheiten nicht gelingt, die Dummen von ihren dummen Dingen abzuhalten, dann sind sie eben nicht gescheit genug.

Wir haben einen Verfall unserer Demokratie. Wer soll nach der Entmachtung der Nationalstaaten den Bürger und die Bürgerin überhaupt noch vertreten? Viele möchten am liebsten den Staat ganz abschaffen. Sie denken dabei meistens an die unliebsame Bürokratie. Was wird aber ohne Staat aus unserer Stimme? Leute aus der Wirtschaft glauben, diese Aufgabe übernehmen zu können und sagen: Wir schauen doch jetzt schon den Leuten die Wünsche von ihren Augen ab. Die Wirtschaft sei doch die demokratischste Institution, die man sich vorstellen kann, ein Dienstleistungsbetrieb, um allen Menschen ihre Wünsche zu erfüllen. Demokratischer geht's doch nicht. Aber es ist nicht der Bürger, in dessen Augen sie schauen. Es ist der Kunde. Und der Kunde, das ist der Bürger multipliziert mit seinem Einkommen. Ich hatte gedacht, wir seien darüber hinaus, den Menschen statt als Menschen durch sein Einkommen zu definieren.

Wie begegnen wir diesen Gefahren? Sie wissen, daß es heute, ausgesprochen oder nicht, die Vorstellung gibt, die Zukunftsfähigkeit des Menschen sei unter Umständen nur gegen die Natur zu erzwingen. Sie kennen vielleicht den öffentlichen Meinungsaustausch zwischen Hubert Markl, dem jetzigen Präsidenten in der Max-Planck-Gesellschaft, und mir. Er hatte vor etwa zwei Jahren (als er noch nicht Präsident war) im Spiegel (48/95) einen Artikel mit dem Titel "Die Pflicht zur Widernatürlichkeit" veröffentlicht. Dem setzte ich (mit meinen Kollegen von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, deren Vorsitzender ich damals war) einen Artikel "Die Pflicht zur Mitnatürlichkeit" (in Spiegel 5/96) entgegen. Sicher werde uns die Natur ruinieren, sagt er, wenn wir so weitermachen. Deshalb müßten wir die Natur niederzwingen. Wie andere schon sagten: bis sie vor uns auf den Knien liegt und uns total zu Diensten ist. Das wird uns aber nie gelingen, weil die Natur eben nicht nach determinierten Gesetzen geordnet ist. Die belebte Natur läßt sich nicht in den Griff bekommen. Deshalb wären wir gut beraten, wenn wir unsere Probleme in voller Kooperation mit der Natur zu lösen suchten. Immerhin ist sie die Firma, die 3,5 Milliarden Jahre nicht pleite gegangen ist. Mache ich sie mir zum Partner, komme ich offensichtlich besser über die Runden.

Doch mit der Forderung nach aktiver Einflußnahme kommen Zweifel auf. Ist die Natur überhaupt steuerungsfähig? Können wir überhaupt etwas ändern? Die alte Vorstellung kommt hoch, daß alles naturgesetzlich vorgeschrieben sei und wir dagegen ohnmächtig. Die moderne Physik sagt uns aber: So ist die Natur nicht konstruiert. Sie ist gestaltungsfähig. Es kommt also nicht darauf an vorherzusagen, was in Zukunft passiert - das macht keinen Sinn, denn die Zukunft ist im wesentlichen offen, sie kann gar nicht gewußt werden. Statt dessen sollten wir uns fragen, welche Zukunft wir wollen, wie wir die Zukunft gestalten und zum Teil auch aufgrund unserer Vorstellungen und gebotener Schranken erfinden können. Hoffnung zuhaben, ist keine Traumtänzerei. Hoffnung ist der erste Schritt, um eine Zukunft gestalten zu können. Und wir können viel mehr machen, als wir gemeinhin denken, weil wir all diese Instabilitäten auf unserer Seite haben, wo kleine Effekte etwas Großes bewirken können.

Wir dürfen uns freilich nicht einbinden lassen in einen Teufelskreis von selbstgeschaffenen Sachzwängen, deren Eigendynamik uns die Freiheit nimmt, die wir prinzipiell haben. Im Augenblick stecken wir in einem solchen Teufelskreis, der sehr an das Ende des Kalten Krieges erinnert. Damals saß man sich in Abrüstungskommissionen gegenüber und fragte sich, wie steigen wir aus diesem schwachsinnigen Rüstungswettlauf aus? Wir sind jetzt wieder in dieser Situation. Wettbewerbsfähigkeit heißt doch nichts anderes, als in der ökonomischen Rüstung nicht zurückfahren zu können. Um dieses ökonomische Wettrüsten zu gewinnen, sind wir heute dabei, alles aufzuopfern, was wir in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten an Menschlichkeit in unsere Gesellschaft hineingebracht haben. Wir müssen uns überlegen, wie wir diesen Teufelskreis aufbrechen, so wie das beim Kalten Krieg dann letzten Endes doch gelungen ist.

Dazu ist wieder die Demokratie gefragt. Nicht nur, daß ich mein Wahlrecht ausübe, sondern daß ich auch vielfältige Möglichkeiten habe, mich konstruktiv einzuklinken. Die lokale Agenda 21 ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel von dieser Lebendigkeit der Menschen jetzt schon segensreich in die Gesellschaft mit einfließt.

Nachhaltigkeit, sagen viele, sei nicht genau definiert. Lassen Sie sich dennoch nicht auf den Versuch ein, Nachhaltigkeit genau definieren zu wollen. Nicht einmal die Natur weiß, was nachhaltig ist. Das ist ja der Grund, warum sie täglich spielt, um in einem Plussummenspiel herauszubekommen, was letzten Endes nachhaltig ist. Nachhaltigkeit ist eine Tautologie. Nachhaltig ist, was nachhält. Es überlebt, was überlebt. Wenn wir Nachhaltigkeit haben wollen, müssen wir dafür sorgen, optimale Bedingungen für ein Plussummenspiel zu schaffen, das uns auf gute Lösungen bringt.

Das geht nicht wie im Wettstreit beim Hundertmeterlauf. Da gibt es ein fixiertes Ziel. Da müssen alle hinkommen. Da gibt es Effizienzstrategien, wie man schneller laufen kann. Aber bei Zielen, die verwackelt und in jedem Augenblick wieder anders sind, müssen Sie ganz andere Strategien anwenden. Evolution heißt eben Optimierung bei verwackelten Zielen. Was in Zukunft ist, hängt ja davon ab, was insgesamt passiert, und das kann ich nicht voraussehen. Optimierung bei verwackelten Zielen führt zu langfristiger Kooperation, statt zu vernichtender Effizienzsteigerung für den Moment. Einen Franzosen in Deutschland - er kann nicht so gut Deutsch - den steche ich aus. Morgen aber bin ich in Frankreich und hätte ihn gern als Dolmetscher. Die Vielfalt ist eine Möglichkeit der Flexibilität. Und maximale Flexibilität sichert langfristig Überlebensfähigkeit. Die Vielfalt in unseren Kulturen ist nicht aufgesetzt, sondern schafft im wesentlichen die Rahmenbedingungen für langfristiges Überleben durch Adaption an Situationen, die wir prinzipiell nicht kennen können. Wenn ich die Olympischen Spiele im nächsten Jahrtausend zu organisieren hätte, würde ich eine neue Regel einführen: Erst am Abend vor Beginn der Spiele soll durch Los entschieden werden, wer in welcher Disziplin antreten muß. Dann sähe die Vorbereitung für solche Spiele gleich ganz anders aus und entspräche mehr dem wechselnden Leben in einer lebendigen Gesellschaft. Daß ein junger Mensch acht Stunden lang einen Ball hin und her knallt, ist doch wirklich keine sehr tiefgründige Art der Lebenserfüllung.

Aber braucht man für all das nicht ein völlig neues Denken? Wenn ich das glauben würde, hätte ich schon lange das Handtuch geworfen. Insgeheim, so glaube ich, wissen oder ahnen wir das Wesentliche. Da ist nur ein bißchen Geröll drüber. Manche predigen es sogar am Sonntag und sagen aber, am Montag sei es nicht anwendungsfähig. Es ist anwendungsfähig. Die großen Weltreligionen zeigen doch, was zu machen ist und daß wir für eine kooperative Gesellschaft prädestiniert sind. Der beste Beweis ist für mich, wenn ich jetzt meine kleinen Enkel heranwachsen sehe. Ich erlebe sie unbefangener als meine Kinder, bei denen die größere Verantwortung andere Maßstäbe setzte. Wie wunderbar fangen wir als Menschen an. Was passiert denn, daß nach ein paar Jahrzehnten solche verkorksten Existenzen rauskommen wie wir selber? Wir haben eben nicht richtig verstanden, was wirklich eine Rolle spielt.

Die Intelligenz, die wir heute haben, sollten wir vermehrt für die Lösung von sozialen Problemen einsetzen. Die Naturwissenschaft ist trivial gegenüber den Problemen, die die gesellschaftliche Entwicklung stellt. Deshalb brauchen wir hier auch mehr Intelligenz. Wir packen die Welt in Datensysteme, wir betreiben einen regen und umfassenden Datenaustausch. Aber diese Informationsüberschwemmung bedeutet, daß nur noch wenige zu echter Kommunikation kommen. Denn Kommunikation erfordert weit mehr als Austausch von Information, sie muß bei bei den Dialogpartnern Betroffenheit erzeugen.

Wie fangen wir es an, Nachhaltigkeit anzustreben und zu praktizieren? Der vermehrte Energieumsatz in der modernen Industriegesellschaft hat uns die Tür zu größerem Wohlstand geöffnet, aber er beschwört die Gefahr herauf, daß wir langfristig unsere natürlichen Lebensgrundlagen irreversibel beschädigen und zerstören. Beschränkung ist notwendig. Zur Entwicklung nachhaltiger Lebensstile erscheint deshalb eine Begrenzung des globalen Primärenergieumsatzes als Einstieg geeignet und dringend geboten. Der globale anthropogene Primärenergieumsatz ist ein grobes Maß, in welcher Stärke das Biosystem durch menschliche Einflüsse durchgerüttelt wird. Nach meiner Einschätzung kann das Biosystem 20 Prozent des Energiedurchsatzes der Sonne durch das Biosystem ertragen. Das entspricht etwa 9 Terawatt oder 90 Milliarden Energiesklaven. Das kann das Biosystem auf Dauer wohl ausbalancieren und abpuffern, kurzfristig vielleicht auch ein bißchen mehr. 90 Milliarden Energiesklaven also. Wenn wir 6 Milliarden Menschen haben, dürfte eigentlich jeder von uns nur 15 Energiesklaven beanspruchen. Diese Feststellung sollte nicht zu einer Öko-Diktatur führen, die dies per Gesetz bindend anordnet: Jeder, der mehr als 15 Sklaven für sich beschäftigt, wird mit Gefängnis bedroht. Es soll vielmehr eine Richtzahl sein. Wenn ich über 15 Energiesklaven habe - im Augenblick haben wir in Deutschland pro Kopf durchschnittlich 60 Energiesklaven - muß irgendwo in der Welt jemand weniger haben, wenn das Biosystem nicht gefährdet werden soll (diese Sprechweise ist selbstverständlich zu grob, da geographische und andere Unterschiede bei der wirklichen Belastung eine wichtige Rolle spielen). Und eben diese Ungleichverteilung haben wir jetzt.

Sich auf 15 Energiesklaven beschränken zu müssen, klingt schlimmer, als es ist. Es verlangt nur, Lebensstile zu entwickeln, die (bei Anwendung heutiger Technik) dem eines Durchschnittsschweizers von 1969 entsprechen. Das ist alles. Die ganze Welt könnte so einen Lebensstil leben. Das heißt nicht, daß alle wie ein Schweizer von 1969 leben müssen. Ich weiß, daß manche meiner jüngeren Freunde eine solche Vorstellung beklemmend empfinden. Es gibt auch andere Vergleiche, die anderen attraktiver erscheinen. Ich möchte jedoch in dieser Hinsicht nichts präjudizieren. Es sollte jedem selbst überlassen bleiben, auf welche Weise er seine 15 Energiesklaven beschäftigen will. Wenn er Kavalierstarts liebt, weil sie sein Lustgefühl am besten stimulieren, dann soll er sie haben. Dann schmeißt er da ein paar Energiesklaven hinein und duscht dafür weniger. Aber jeder soll seine Freundin fragen, was ihr lieber ist. Es gibt also sehr individuelle Wege der Anpassung an diesen Richtwert.

Wir können nicht ganz so weitermachen wie bisher und brauchen auch Änderungen der politischen Rahmenbedingungen. So könnten oder sollten wir etwa überlegen, ob die alte gesellschaftliche Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative heute noch ausreicht und angemessen ist. Ich sehe nur noch geringe Unterschiede zwischen Exekutive und Legislative in unserem Staatswesen. Die Legislative soll ja eigentlich den Kanzler kontrollieren und nicht einfach nachsagen, was der macht. Die Judikative ist mehr zurückblickend. Sie sagt, was gesetzlich ist. Wir brauchen heute dringend eine Instanz, die nach vorne blickt und bei gesetzlichen Vorhaben fragt, ob sie zukunftsfähig sind. Im Rahmen des Global Challenges Network (GCN) haben wir vor ein paar Jahren vorgeschlagen, im Grundgesetz, in Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, eine weitere Grundrechtschranke einzuführen, die das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur zuläßt, soweit auch die natürlichen Lebensgrundlagen in ihrer Nachhaltigkeit nicht beeinträchtigt werden. Es wäre vielleicht auch erwägenswert, das gleiche Wahlrecht auf alle Menschen in unserer Gesellschaft bis hin zu den Säuglingen auszudehen und den Müttern die Ausübung des Wahlrechts für ihre Kinder bis zum 16. Lebensjahr zu überantworten. Hieraus würde eine stärkere Orientierung auf die Zukunft erfolgen, da Menschen höheres Gewicht bekommen, die in die Zukunft investiert haben.

Die augenblicklichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fördern eine Bankräubermentalität. In unserer Steuergesetzgebung kann es doch nicht dabei bleiben, daß Wertschöpfung besteuert wird und Wertminderung steuerfrei bleibt. Mit einer Energiebesteuerung erhebt man ja keinen Preisaufschlag auf ein Produkt, sondern verteuert die Zerstörung wirklicher Werte, indem hier energiereiche Kohlenstoffverbindungen in CO2 verwandelt werden. Irgend jemand muß das doch bezahlen.

Wir müssen die Zivilgesellschaft stärken und weiter entwickeln. In der reichlich desolaten politischen Landschaft sehe ich in ihr einen gewissen Hoffnungsschimmer als Initiator für notwendige gesellschaftliche Veränderungen. Zivilgesellschaft ist für mich das, was weder Staat noch Wirtschaft ist. Ich möchte alle dazu zählen, die sich engagieren wollen und nicht mehr mit ansehen können, was passiert. Dieses Engagement muß anfänglich nicht voll legitimiert sein. Wir können darauf, so fürchte ich angesichts der eskalierenden Probleme, nicht warten. Obwohl dieses Engagement wie bei der lokalen Agenda 21 bisher mehr im Hintergrund wirkt, kann es doch auf lange Sicht für die Gesellschaft und ihre Entwicklung von wesentlicher Bedeutung werden.

Wir müssen die menschliche Gesellschaft wieder in ein dynamisches Gleichgewicht mit dem Biosystem bringen. Das Paradigma der Wirtschaft steht im Widerspruch zum Paradigma des Lebendigen. Das Paradigma des Lebendigen verlangt eine Teilnahme aller an einem Plussummenspiel, in dem gemeinsam erprobt wird, was sich langfristig bewährt. Das wirtschaftliche Paradigma bedeutet dagegen Beschränkung der Spieler auf einige wenige und wesentliche Ausschaltung der anderen (die 20:80-Gesellschaft). Wer nichts mehr verdient, fällt unter den Tisch, das heißt, er kann nicht einmal mehr seinen Bedarf anmelden, weil er seinen Finger nicht heben kann. Eben das praktiziert die Natur nicht. Viele sagen: Wir brauchen mehr Energie. Aber das geht überhaupt nicht. Wenn, sagen wir, im Jahr 2025 etwa 8,4 Milliarden Menschen leben, und sie alle wollen so leben wie die Amerikaner, dann hätten wir 900 Milliarden Energiesklaven, die auf dem Kartenhaus herumhopsen. Das sind nach meiner Einschätzung zehnmal mehr, als das Biosystem erträgt. Das geht schlicht und einfach nicht.

Wir müssen also eine Begrenzung der menschlichen Aktivitäten haben, aber nicht dort, wo Menschen selber aktiv sind. Alle dürfen rumhampeln, soviel sie wollen. Aber sie sollen einige ihrer Ersatzpersonen im Hintergrund zurückziehen und sagen: Wenn gehampelt wird, dann mache ich das selbst. Viele Leute sprechen von Mobilität, wenn sie im Auto sitzen und mit ihrem Sicherheitsgurt fest an den Sitz gefesselt sind. Was bewegt sich denn? So gesehen heißt heute Mobilität, wenn irgendeiner von uns seine Sklaven bewegt. Wir brauchen echte Mobilität, indem wir uns selbst bewegen. Dann wird es auch da oben im Kopf wieder beweglicher. Machbar ist das alles.

Wie steht es aber um die gesellschaftliche Akzeptanz? Dieser Punkt macht uns große Sorgen. Wir haben erlebt, daß man etwas völlig Vernünftiges sagt - und Gefahr läuft, damit Wahlen zu verlieren. Ist es ein taktischer Fehler, wenn man über die Zukunft spricht? Vielleicht. Aber wir sprechen doch von der Zukunftsfähigkeit des Homo sapiens. Der weise Mensch denkt doch nicht nur in Vier-Jahres-Perioden, sondern in längeren Zeiträumen. Ich bin schon bekümmert darüber, daß sich Weisheit in unserer heutigen Gesellschaft so schwer tut und kaum öffentlich in Erscheinung tritt, obwohl die Voraussetzungen, über langfristige Dinge nachzudenken, bei uns phantastisch gut sind. Wenn wir unsere religiösen und ethischen Traditionen ansehen, dann sind sie sogar in den Programmen aller Parteien wunderbar durchdekliniert. Wir haben also eine gute Ausgangsbasis. Auf dem Weg aber liegen enorme Hindernisse. Täglich werden wir beträufelt, daß wir uns mehr Sklaven anschaffen sollten. Und warum? Wegen der Arbeitsplätze! Mich kümmern doch nicht die Arbeitsplätze, das sind einfach Dinge. Mich interessieren die Menschen. Ich bin daran interessiert, daß sie in die Gesellschaft integriert sind - auch durch die Arbeit. Wenn wir das nur mit der Hälfte der jetzigen Arbeit machen können, um so besser! Wir haben auch anderes zu tun, das unser Leben lebenswert macht. Leute, die sagen, wir müssen mehr investieren, damit wir alle arbeiten können, wissen doch auch, daß das so nicht geht. Wenn heute mehr Geld investiert wird, gibt es doch kaum mehr Arbeitsplätze. Es werden vor allem neue Roboter angeschafft, die wieder Menschen ersetzen. Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, daß es nun einen Maurer-Roboter gibt. Noch kostet der 13<%10>3<%0>000 Mark, mauert aber schon fein säuberlich eine Backsteinmauer. ... Ich greife mich an den Kopf! Wenn man jedoch genügend Geld hat, macht man das.

Es ist nicht leicht, über den nächsten Tag und vier Jahre hinaus zu denken und das Ergebnis gar laut auszusprechen. Vielleicht liegt das auch daran, daß das Fernsehen immer auf das Unmittelbare orientiert. Sagt man fünf Mark, dann meinen die Leute, sie müßten, wenn sie morgen an die Tankstelle fahren, fünf Mark bezahlen. Wenn das so ist, würde ich eher sagen: Wir garantieren 15 Mark pro 100 km. Dann sagen Sie genau dasselbe, erschrecken aber die Leute nicht. Es ist wichtig, auf die Psychologie der Leute einzugehen, wenn auch nicht so weit, daß man ihnen nichts mehr zumutet. Letzten Endes sind sie schlauer, als man denkt. Ich halte mich an den Lehrsatz: Nimmst du den Menschen, so wie er ist, dann machst du ihn schlechter. Nimmst du ihn so, wie er selbst sein will, dann machst du ihn besser.

Wir können ihn ein bißchen überfordern. Aber wir dürfen ihm keine Angst machen, ins Messer zu laufen.

Eine schöne Metapher aus Tibet sagt: Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst. Zerstörung geht schneller und wirkt auch intensiver - zweiter Hauptsatz der Thermodynamik - als der Aufbauprozeß. Der braucht Intelligenz, folglich auch Zeit, und ist nicht so spektakulär.

Die Geschichte erzählt nur von den fallenden Bäumen. Im Hintergrund wächst der Wald. Das wird nicht kundgetan und aufgeschrieben, weil es unspektakulär ist. Unsere Gesellschaft wäre in einem viel schlechteren Zustand, wenn es nicht im Hintergrund viele, viele vernünftige Menschen gäbe, die sich bewegen und etwas tun. Aber ich muß Ihnen gestehen, daß ich mir im Zeitalter der Motorsägen auch nicht mehr so sicher bin, ob der wachsende Wald eine Chance hat.

Diskussion

Da kein Saalmikrofon vorhanden war, konnten die Fragen und Einwände aus dem Publikum nur in ihrer Stoßrichtung andeutungsweise rekonstruiert werden.

Zu Einwänden gegen den Vorschlag, eine eigene Instanz zu schaffen, die gesetzliche Vorhaben auf Nachhaltigkeit vorprüfen soll.

Hans-Peter Dürr: Die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Ich würde niemandem zutrauen zu sagen: Das ist richtig und das falsch. Ich kann nicht sagen, was nachhaltig ist, ich muß vielmehr das Spielfeld bereiten. Was Nachhaltigkeit ausmacht, versteht nicht derjenige, der zielgerichtet auf etwas losgeht, sondern eher einer, der sich etwas umschaut, empathisch und liebend ist sowie den Zusammenhang immer im Kopf hat. Was nicht nachhaltig ist, können wir allerdings genau angeben. Dabei geht es nicht um eine inhaltliche Fixierung, sondern um die Rahmenbedingungen eines dauerhaften Plussummenspiels. Wenn ich in einem Gelände bin, das ich nicht kenne, heißt es, umsichtig zu sein, damit ich in kein Lawinenfeld laufe. Im Griff habe ich da nichts. Bei allem, was wir entwickeln, müssen wir dafür sorgen, daß es fehlerfreundlich ist. Fehlende Fehlerfreundlichkeit ist für mich das Hauptargument gegen die Kernkraftwerke. Man sagt: Wenn was passiert, ist es zwar schrecklich, aber die Wahrscheinlichkeit, daß etwas passiert, ist zu gering, um praktisch mit ihr zu rechnen. Diese Wahrscheinlichkeitsrechnungen bezeichnen nur Hausnummern. Das aber heißt, daß etwas, das, wenn es schiefgeht, einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichtet, schlicht und einfach nicht gemacht werden darf.

Nur in einer fehlerfreundlichen Umwelt können wir das Spiel spielen, um die besten Lösungen zu finden. Man führt immer die Dinosaurier als Beispiel für ein Scheitern an. Zu Unrecht. Die Dinosaurier haben 400 Millionen Jahre gelebt. Wir haben jetzt gerade 4 Millionen hinter uns. Wir könnten uns gratulieren, wenn wir so weit kommen wie die Dinosaurier.

Die Natur hat eine solche Robustheit, daß wir ihr x-mal gegen das Schienbein treten können. Es kommt aber auf die Stärke des Schlages an. Die großen Keulen müssen einfach weg. Dann können wir einen Haufen Unfug treiben, ohne daß was passiert.

Zur Frage der Institutionalisierung eines ökologischen Rats

Hans-Peter Dürr: Die Idee finde ich gut, frage mich aber, wer wird denn drinsitzen? Sobald dieses Gremium wichtig wird, wird es sofort unterlaufen werden. In München probieren wir eine "Konsultative", mit der wir ein Verfahren in Gang gesetzt haben, das nach ganz strengen Regeln abläuft. Wir haben dort die Kernenergie in Bayern als Thema. Unter der Leitung eines Mediators führen wir ein Streitgespräch, in dem alle Beteiligten ihre Prämissen auf den Tisch legen müssen. Ziel ist zunächst noch kein Konsens, sondern überhaupt erst mal ein intelligentes Gespräch zustande zu bringen über die Hintergründe der jeweiligen Vorstellungen. Vielleicht läßt sich dann hinterher auch eine Einigung finden. Der Diskurs führt nicht automatisch zu einem Konsens. Man ist sich vielleicht hinterher ein bißchen sympathischer als zuvor, aber man kommt sich nicht näher. Mit dieser fragmentierenden analytischen Intelligenz, die alles auseinandernimmt, wird jeder Versuch einer Synthese eben sehr schwierig. Wir brauchen etwas anderes, das, was der Amerikaner Daniel Goleman (dtv, 1997) "emotionale Intelligenz" genannt hat. Ich empfehle Ihnen auch das wunderbare Buch von Carola Meier-Seethaler (C. H. Beck Verlag) über Gefühl und Urteilskraft, ein Plädoyer für emotionale Vernunft. Wenn wir alles erst einmal zerlegen, bekommen wir die Stücke auch im schönsten Dialog nicht wieder zusammen. Die Wirklichkeit hat ja gar nicht diese Struktur. Potentialität drückt aus, daß es da eine prinzipielle Komplementarität zwischen Exaktheit und Relevanz gibt. Wenn jemand auf Exaktheit besteht, muß er isolieren und verliert damit den Kontext, aus dem die Relevanz gefolgert werden kann. Wir müssen mehr kontextbezogen argumentieren, statt die Dinge in den Griff bekommen zu wollen. Wir denken ja, wie wir greifen. Hand zu, Hand auf, ja oder nein. Tertium non datur. Die Wirklichkeit folgt nicht dieser Manipulationslogik einer Hand, die auf- und zugeht.

Wir sollten in allen Städten mit runden Tischen anfangen und einen gescheiten Dialog in die Öffentlichkeit tragen, um transparent zu machen, warum wir das und das annehmen und machen. Manchmal ist Intelligenz auch ansteckend.

Laut denken, damit man sich daran gewöhnt, daß die Antworten nicht einfach sind. Auch unsere Zweifel aussprechen, ohne pessimistisch zu werden, ist gut.

Ralf Fücks: Laut denken, das finde ich eine schöne Beschreibung für das, was die Stiftung ermöglichen soll.

Hans-Peter Dürr: Ich weiß, daß man mit Laut-Denken Wahlen verlieren kann. Wenn es dann heißt: Jetzt haben sie in der Parteiversammlung wieder gestritten. Aber das ist ja das Wunderbarste, was passieren kann. Vielleicht muß man den Stil etwas ändern. Daß der Streit auch wirklich wie etwas Schönes aussieht und nicht so, als ob man den andern zum Teufel wünsche.

Eine Frage zur Bewertung von von Mensch und Natur in ihrem Verhältnis zueinander.

Hans-Peter Dürr: Die Wertfrage hängt gar nicht mit dem Begreifen zusammen. Wir denken immer, was wir begriffen haben, haben wir auch verstanden. Nein, überhaupt nicht. Das Verständnis basiert auf einer viel tieferen Ebene.

Wir haben eine doppelte Erfahrung der Wirklichkeit. Eine von außen. Da machen wir unsere Universitäten auf und lehren die Leute, was ist. Aber wir haben auch die innere Erfahrung. Wir können uns doch gar nicht vernünftig unterhalten, wenn wir nicht in einem gemeinsamen System sind, das wir nicht hinterfragen. Das brauchen wir. Wir überbewerten das, was wir Sprache nennen, bei weitem, indem wir glauben, daß in der Sprache das als Information ist, was wir hinterher verstehen. Nein, die Sprache ist dazu da, an die eigene innere Erfahrung zu erinnern. Die alte Welt fängt beim Getrennten an und fragt: Wie findet das Getrennte zusammen, um Organismen zu bilden. Die neue Welt sagt: Es gibt nie etwas Getrenntes, sondern die ganze Evolution ist eine Artikulation des einen. Trennung ist nur eine Vorstellung, eine Approximation. Wir machen das auch in der Physik: Der Tisch und ich, wir sind etwas völlig Getrenntes. Aber das ist nicht ganz richtig. Und im Verhältnis zwischen Lebendigem funktioniert diese Abtrennung erst recht nicht.

Deshalb haben wir die metaphorische Sprechweise. Wir verwenden Begriffe, sagen aber, nimm's bitte nicht wörtlich. Es ist ein Zeigen. Wenn der andere sagt: Ich sehe nicht, was du meinst, anworte ich, das liegt daran, du auf meine Fingerspitze schaust. Ich habe ja nur gezeigt. Du mußt hinschauen, wo ich hinschaue. Und wenn der andere sagt: Ich sehe da gar nichts, dann muß ich sagen: Gut, geh ein bißchen mehr ins Leben raus. Vielleicht wirst du danach auf einmal sehen, wovon ich spreche.

Zur Frage, ob es gelingen kann, Beschränkung ins Sinnvolle zu überführen und kulturelle Mechanismen zu entwickeln, um triebhafte Energien zu kultivieren.

Hans-Peter Dürr: Es ist doch nicht so, daß der Mensch erst allmählich kultiviert wird. Das Bewußtsein ist doch nicht etwas, das dazukommt. Das Bewußtsein ist doch dasselbe wie Materie. Die Materie ist nur die Schlacke, die da dranhängt. Wir schauen immer auf die Schlacke und nicht auf das, was im Hintergrund ist. Das Geistige formt uns eigentlich. Es muß nicht extra dazukommen. Die Frage ist, wie es sich organisiert. Wir brauchen kein neues Bewußtsein. Denn der Mensch ist gar nicht so einseitig aggressiv, wie dies von vielen angenommen wird. Aggressivität gehört wohl zu seinem Potential wie andere Fähigkeiten auch, Liebesfähigkeit und Empathie etwa. Im kleineren Verband sind wir doch auch liebende Menschen. Wir können lernen, uns auch im größeren Verband entsprechend zu verhalten. Die ganze Evolution ist ein Lernprozeß. Wir sind immer schon eingebettet in diesem Ganzen.

Wir denken immer als mögliche Gegenkraft des Menschen an so etwas wie einen großen Löwen, der uns eines Tages fressen wird, wenn wir zu ungehörig und zerstörerisch sind. Aber so ist es vielleicht nicht. Vielleicht ist es eher ein Aids-Virus, der uns als Gegenkraft entgegentritt. Aber wir können auch reflektieren, daß das, was wir tun, unvernünftig ist und in diesem Lernprozeß überlebensfähig sein. Wir wissen, welches Verhalten unvernünftig ist. Daß wir darüber reflektieren, ist die eigentliche Gegenkraft, die uns bändigt und uns sagt: Ich darf nicht alles tun, was ich kann. Nicht deshalb, weil ich die Natur nicht fesseln darf, sondern weil ich mir sonst die eigenen Füße abhacke. Was im Augenblick schiefläuft, ist ziemlich einsichtig. Wir betonen immer den Wettkampf. Er hat auch Sinn, wenn man die besten Lösungen finden will. Aber wenn man den Wettbewerb zum Hauptprinzip macht, kommen ganz unsinnige Sachen heraus. Wenn man den, der schwächer ist, immer unter den Tisch drückt, bauen sich Machtstrukturen auf. Und es ist kein großer Trost, daß das früher oder später alles zusammenbrechen wird und die anderen auch weg sein werden. Das sind dann die großen Katastrophen.

Kann man die Machtfülle irgendwie beschränken? Wir sind in einer historisch schwierigen Situation. Wir haben den Niedergang des Marxismus erlebt. Wir haben daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß Solidarität und soziales Empfinden nichts wert sind und allein die Ellbogengesellschaft zukunftsfähig ist. Die kapitalistische Marktwirtschaft ist aber auch 19. Jahrhundert. Auch sie müßte jetzt verschwinden, weil sie von falschen Vorstellungen der Wirklichkeit ausgeht. Ich bin ja im "Club of Rome", ich wollte dort vorschlagen, ein Buch über die "Grenzen des Wettbewerbs" herauszubringen: Welcher Wettbewerb ist vernünftig, welcher unvernünftig. Aber dieses Buch gibt es bereits. Ein wunderbares Buch, daß ich allen empfehlen kann. Ricardo Petrelli hat es vor fünf Jahren veröffentlicht.

Mich erinnert das an die Abrüstungskommissionen, wo wir 25.000 Atomsprengköpfe den 26.000 Atomsprengköpfen der anderen gegenüberstellten und jeder wußte, daß die Erde schon mit 1000 total ruiniert werden kann. Und keiner hat den Absprung gefunden. Man muß einen Mechanismus finden, wie der Teufelskreis aufzubrechen ist, ohne daß einer unter die Räder kommt. Auch den großen transnationalen Konzernen wird allmählich Angst, wenn sie sehen, was in Südostasien passiert. Die sagen zwar, sie haben alles im Griff, wissen aber, daß sie nichts im Griff haben. Doch wie steigt man so aus, daß hinterher noch etwas übrig bleibt, das man vernünftig regeln kann? Dazu ist viel Intelligenz notwendig. Sachzwänge, aus denen keiner herauszukommen scheint, sind selbst verursacht.

Für den Ausstieg aus den militärischen Sachzwängen haben wir damals strukturelle Nichtangriffsfähigkeit vorgeschlagen. So etwas brauchen wir auch in der Wirtschaft. Wie steige ich aus diesem Schwachsinn aus, ohne unter die Räder zu kommen? Wer 100 Meter um eine Hundertstel Sekunde langsamer läuft als der andere, fragt sich: Soll ich Drogen nehmen? Dann bin ich hinterher Millionär und mit den paar gesundheitlichen Schädigungen kann ich leben. Aber der andere nimmt dann noch mehr. Das kann nicht gutgehen. Wir müssen da irgendwie rauskommen. Vielleicht fangen wir damit gerade an. Die Leute sind sehr verunsichert. Auch die Wirtschaft selber.