"Kompromat" und Machtkämpfe

Rußland: Politische Kontexte und Finanzskandale

Erhard Stölting

In Rußland regt kein noch so ungeheuerlicher Korruptionsskandal mehr irgend jemanden noch auf. Dort stellt sich die Welt wie in einem Thriller dar: Die Welt wird hinter einem dünnen Schleier öffentlicher Politik eben von Gaunern regiert. Die alltäglich erfahrene Korruption macht das plausibel.

Das Bild des schwarzen Thrillers hat allerdings zwei Risse. Der erste ist eine innere Spaltung der herrschenden Milieus in Rußland. Anders als bisher läßt sich der politische Konflikt nicht mehr auf den letzten Gegensatz zwischen - pardon - "liberalen Demokraten" des präsidialen Lagers einerseits und dem die Duma beherrschenden Milieu, das aus verbündeten Kommunisten, Nationalisten, Rassisten und Militaristen besteht, reduzieren.

Jetzt gibt es im herrschenden Milieu selbst eine Spaltung. Auf der einen Seite steht die "Familie", die Angehörigen des Präsidenten, deren engste Verbündete, das weiter reichende loyale Personal. Auf der anderen Seite ist das Moskauer Stadtoberhaupt Lushkow dabei, eine machtvolle Koalition zusammenzuzimmern.

Die Zusammensetzung der "Familie" reicht über die sichtbaren Gestalten hinaus. Immer wieder tauchen aus dem luxuriösen Halbdunkel des Kreml neue Personen auf, die, wie sich zeigt, intern über einen großen Einfluß verfügen. Die byzantinische Aufblähung der zentralen Machtapparate, denen gegenüber die spätsowjetischen Herrschaftsstrukturen geradezu als Muster von Rationalität und Durchsichtigkeit erscheinen könnten, hat einen informellen Kern. Das ganze braucht allerdings für seine Fortexistenz den Präsidenten. Obwohl jeder weiß, daß Jelzin nicht mehr aktionsfähig ist, ist er doch noch immer der Schlußstein eines Gewölbes, das ohne ihn einstürzen würde. An was für eine künftige Stützkonstruktionen die Familie offenbar denkt, zeigt sich daran, daß seit einem Jahr die Ministerpräsidenten zuvor im KGB/FSB Karriere machten und ihn für eine gewisse Zeit auch leiteten.

Von dieser Herrschaftsstruktur her und ihren immanenten Mechanismen erscheint verständlich, daß Lushkow für die Familie zum Feind schlechthin geworden ist. In westlichen Augen könnte er eine akzeptable Alternative sein. Gerade daraus lassen sich jedoch Vorwürfe machen. Die Skandalberichte sollen Jelzin und Rußland schaden. Das ist nicht unplausibel; selbst die untersuchenden Beamten benötigen Rückendeckung in einer Gesellschaft, in der Rechtsinstitutionen nur als Herrschaftsinstrumente gesehen werden. Plausibel erscheint auch, daß die Gegner Jelzins in diesem Konflikt die westlichen Medien instrumentalisieren. Aber deswegen müssen die Berichte nicht falsch sein.

Methodisch am wichtigsten ist schließlich der Hinweis, daß es für keinen der Vorwürfe wasserdichte Beweise gebe. Wahrscheinlich lagern einige in schweizerischen und amerikanischen Panzerschränken. Aber sehr viel wird nicht herauskommen; die Beschuldigten sind keine Dummköpfe. Für den Wahrheitsgehalt der den Skandal auslösenden Berichte spricht nur, daß sie strukturell plausibel sind. In einer politischen Welt, in der die Macht sich in informellen Zirkeln bündelt und in der der Umgang mit der Wahrheit ohnehin nur instrumentell ist, muß sich der Aufklärung heischende Beobachter ohnehin an struktureller Plausibilität orientieren.

Dem entspricht auch die weitgehend abgebrühte Haltung des russischen Publikums. Wo Korruptheit als Normalität gilt, muß sie kaum noch versteckt werden. Die letzten politischen Monumente einer heroischen Aufbruchszeit, wie die Abgeordnete Galina Starowojtowa, werden zwar verehrt; aber ihre Mörder sind unauffindbar. Kein Wunder also, daß das Lancieren von "kompromittierendem Material" (Kompromat) zu einer stumpfen Waffe geworden ist.

Die strukturelle Plausibilität, die auf die Realitätswahrnehmung eines Thrillers verweist, hat allerdings plausible Fundamente:

Das politische Kräftefeld

Das politische Kräftefeld wird gegenwärtig dominiert durch den Konflikt zwischen der "Familie" und der sich herausbildenden Koalition um Lushkow. Ein nicht zu unterschätzender dynamisierender Faktor war dabei die erratische Personalpolitik des Kreml. Jelzin ist gegenwärtig extrem unbeliebt; er findet Umfragen zufolge nur noch bei zwei Prozent der Bevölkerung Zustimmung. Für Wahlsiege ist diese Basis etwas schmal. Jene Ministerpräsidenten, die Jelzin im letzten Jahr abrupt feuerte, haben schon aus diesem Grunde einen Bonus, der die Opposition stärken kann.

Lushkow hatte die Feindseligkeiten Anfang Dezember 1998 eröffnet. als er seine eigene Partei "Vaterland" (Otetschestwo) mit einem im wesentlichen sozialdemokratischen Programm (Neue Mitte) gründete. Er ging so auf Distanz erstens zu Jelzin, den er bis dahin unterstützt hatte, zweitens zur herrschenden Korruption, drittens zum kommunistisch-chauvinistischen Milieu und viertens zu den jungen radikalen Marktwirtschaftlern, die nach 1991 immer wieder einmal politische Verantwortung trugen und denen die Bevölkerung die Schuld an der wirtschaftlichen Misere und dem katastrophalen Zustand der Staatsfinanzen zuschreibt.

Zunächst bedeutete das keine unmittelbare Gefährdung. Im Gegenteil: Jelzin überstand das von den Kommunisten in der Duma angezettelte Amtsenthebungsverfahren bravourös. Jewgenij Primakow, dessen Aufgabe darin bestanden hatte, die Wogen zu glätten, die nach dem Börsenkrach des August 1998 und dem gescheiterten Versuch, Tschernomyrdin wieder als Ministerpräsidenten zu installieren, hochgeschlagen waren, er war nun fällig; am 12. Mai 1999 wurde er gefeuert. Allzu gut war sein Verhältnis zur Duma, allzu beliebt war er beim politischen Publikum, allzu offensichtlich unterstützte er insgeheim die in den Geschäften der "Familie" herumschnüffelnden Ermittler.

Primakow war nicht durch Reformeifer aufgefallen. Als Ministerpräsident hatte er aber eine Ahnung von Normalität im Lande hergestellt, indem er die Strukturprobleme so vorsichtig vor sich herschob, daß sie unversehrt blieben. Immerhin kam es nicht zu der vorhergesagten Hyperinflation, und der Rubel stürzte auch nicht ins Bodenlose. Gestiegene Ölpreise führten zu besseren Wirtschaftsdaten. Als Primakow stürzte, wurde er fast zu einer Kultfigur. Da gegen ihn kein "kompromittierendes Material" (Kompromat) lanciert wurde, schien auch keines vorzuliegen.

Nachfolger Primakows wurde der bisherige Innenminister Sergej Stepaschin. Er hatte seine Karriere vor allem im Geheimdienst gemacht. In vielen Konflikten der zerfallenden Sowjetunion und des zerrissenen Rußland hatte er an verantwortlicher Stelle Kommandos gegeben, zuletzt im Tschetschenien-Krieg, wo er sich ein Image als harter und ineffizienter Vertreter der Kriegspartei schuf. Seit 1990 war er als Duma-Abgeordneter für Jelzin und seine Reformen gewesen. Trotz seines beruflichen Hintergrundes galt er als nicht korrupt. Unter Jelzin wurde er Chef der Auslandsaufklärung und als solcher 1995 entlassen. Seit 1997 war er Justizminister.

Sein Sturz am 7. August 1999 überraschte daher viele. Man hätte aber neue Bruchlinien des Machtgefüges schon bei der Regierungsbildung Stepaschins erkennen können. Es gelang ihm offenbar nicht, das Kabinett nach seinen Wünschen zusammenzusetzen. Wie marginalisiert Stepaschin schon damals war, wurde vor allem an einem bislang weithin unbekannten Liebling der "Familie" erkennbar, an Nikolaj Aksjonenko, der enge Bindungen zu dem Finanzmagnaten Boris Beresowskij haben soll und der von Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko und dem Verwaltungschef des Kreml Aleksandr Woloschin protegiert wurde.

Aksjonenko hatte sich bislang vorwiegend mit Eisenbahnfragen beschäftigt - zuletzt als Eisenbahnminister. Da das russische Eisenbahnsystem eng mit privaten Transportfirmen verbunden ist, die ihrerseits auf Aufträge und gute Preiskonditionen angewiesen sind, verfügte Aksjonenko über großen Einfluß. Eine der größten der mit der Eisenbahn verbundenen Tranportfirmen, die Petersburger "Evrosib", wurde überdies von Aksjonenkos Neffen geleitet.

Mit der Gunst der "Familie" im Rücken konnte Aksjonenko mit Stepaschin rivalisieren. Er war es, der Sadornow und anderen Wirtschaftsexperten die Kompetenzen abgrub. Er machte von Anfang an deutlich, daß er nicht vorhabe, die Autorität Stepaschins anzuerkennen.

Anders als erwartet, zeigte sich der bislang öffentlichkeitsscheue neue Ministerpräsident allerdings in seiner kurzen Amtszeit umgänglich, verhandlungsstark und öffentlichkeitsfähig. Es gelang ihm, den dringend nötigen IWF-Kredit von 4,5 Milliarden Dollar zu sichern, obwohl Rußland wegen der NATO-Angriffe auf Serbien innenpolitisch erregt und außenpolitisch in der Klemme war. Ähnlich wie im Falle Primakow sympathisierte das politische Publikum in Rußland mit dem Gefeuerten.

Daß Stepaschin so rasch gefeuert wurde, konnte nicht an seiner Unfähigkeit liegen. Was Stepaschin intern und halböffentlich vorgeworfen wurde war offenkundig, daß er den politischen Zuwachs Lushkows nicht energisch begrenzt hatte. Das sollte Aufgabe des neuen Ministerpräsidenten Wladimir Putin sein. An der Linie der Regierungspolitik sollte sich nichts ändern. Putin war bis dahin Chef des Geheimdienstes FSB und Sekretär des nationalen Sicherheitsrates gewesen.

Die politischen Beziehungen Putins reichen allerdings über das Geheimdienstmilieu hinaus. So kennt er den jetzigen Chef der Vereinigten Elektrizitätswerke Rußlands, den unverwüstlichen ehemaligen Privatisierer und Kremladministrator Anatolij Tschubajs noch aus St. Petersburg. Bevor Putin 1975 für fünfzehn Jahre zur Auslandsspionage des KGB nach Deutschland ging, hatte er bei Professor Anatolij Sobtschak Jura studiert. 1990 hatte ihm der liberale Vorsitzende des Leningrader Stadtsowjet Sobtschak das Amt eines Beraters angeboten. Putin blieb an Sobtschaks Seite bis 1996, als der Petersburger Bürgermeister nicht wiedergewählt wurde und wegen Korruptionsvorwürfen nach Paris flüchtete. Tschubajs holte Putin nach Moskau. Acht Monate lang war er dann dem Chef der "Verwaltung der Angelegenheiten des Präsidenten", Pawel Borodin, zugeordnet, bevor er im März 1997 zum stellvertretenden Chef der Präsidialverwaltung aufrückte und diese leitete. Er hatte nun Dossiers zusammenzustellen - mit Ausnahme von solchen über seinen Chef. Im Sommer 1997 schließlich wurde Putin Chef des FSB und Sekretär des Sicherheitsrates.

Putins neue Arbeitsstelle fiel mit einem anderen, das politische Kräftefeld verändernden Ereignis zusammen: Lushkows "Otetschestwo" (Vaterland) schloß sich mit der Gruppierung "Wsja Rossija" (Ganz Rußland) zu einem Bündnis zusammen, das vor allem mehrere Provinzgouverneure und die Präsidenten nationaler Republiken innerhalb Rußlands vereinigt. Da Jelzin sich die Loyalität der Provinzfürsten immer wieder durch die Stärkung von deren Autonomie erkauft hatte, wuchs ihr politisches Gewicht in den letzten Jahren kontinuierlich. Als informeller Kopf von "Ganz Rußland" gilt der Präsident Tatarstans, Mentemir Schajmijew. Prominente Mitglieder sind ferner der Gouverneur von St. Petersburg, Wladimir Jakowlew, der Präsident Inguschetiens, Ruslan Auschew, der Präsident Baschkiriens, Ibragim Rachimow, ferner die Gouverneure von Chabarowsk, Omsk, Astrachan und andere.

Erheblich verstärkt wurde das Gewicht des Bündnisses, als sich Jewgenij Primakow dem Bündnis als Spitzenkandidat zur Verfügung stellte und den Vorsitz im Koordinationsrat übernahm.

Primakows neue Position im Lager der Verbündeten Lushkows hatte weitere Rückwirkungen. Denn Primakow kann kommunistische Stimmen auf sich ziehen und damit die Position der KPR schwächen. Ohnehin hat der kommunistische Parteichef Sjuganow Schwierigkeiten, einen "patriotischen Block" zusammenzuführen. Seine bisher wichtigste Verbündete, die Agrarpartei, hat diesmal ein Bündnis mit der KPR abgelehnt.

Auch die - nach russischer Topographie - extreme Linke setzt sich von den Kommunisten ab - etwa Wiktor Iljuchins antisemitische "Bewegung zur Unterstützung der Armee" will kein Bündnis mehr, weil Sjuganow seine Partei zur Mitte hin öffnen will.

In einer minderen Position hält sich das liberale, von Jawlinskij geführte Bündnis "Jabloko". Ihm schloß sich Ende August auch Sergej Stepaschin an. Er war sogar bereit, den Tschetschenien-Krieg als historischen Fehler zu bezeichnen. Jawlinskij selbst, der die absurde und unmenschliche russische Kriegsführung in Tschetschenien gegeißelt hatte, liegt im Konflikt um Dagestan nun auf der Linie der Regierung.

Auf der anderen Seite des Spektrums haben die radikalen Wirtschaftsliberalen wenig Chancen: Ende Juli fanden sie sich zu einem "Rechts-Mitte-Bündnis" zusammen. Kern dieses Bündnisses wurde die "Gerechte Sache", zu der Anatolij Tschubajs, Boris Nemzow, Jegor Gajdar, Boris Fjodorow und die populäre Duma-Abgeordnete und Star-Geschäftsfrau Irina Chakamada gehören. Ihnen schloß sich der ehemalige Ministerpräsident Sergej Kirijenko mit seiner bislang eher virtuellen "Neuen Kraft" an. Hinzu kam ferner die "Stimme Rußlands" des Gouverneurs von Samara, Konstantin Titow. Ob schließlich "Unser Haus Rußland" hinzustößt, ist ungewiß. Ihr Vorsitzender Wiktor Tschernomyrdin hat an politischer Statur ohnehin verloren. Bis zu den Wahlen am 19. Dezember führt dieses Bündnis einen ausdrücklich westlichen Wahlkampf: etwa mittels Rockkonzerten und T-Shirts mit dem Aufdruck "ty praw" (zugleich: du hast recht/du bist rechts). "Rechts" bedeutet in der heutigen politischen Topographie Rußlands: für eine deregulierte freie Marktwirtschaft zu sein. Immerhin scheint dieses Bündnis der Opfer Jelzinscher Personalpolitik doch über Sympathien im Kreml zu verfügen.

Kampf der Giganten

Bestimmt wird das gegenwärtige Kräftefeld also vor allem durch zwei Pole: die "Familie" auf der einen Seite und das Lager Lushkows auf der anderen. Die Spaltung, die zu dieser Polarisierung führte, hat aber eine entscheidende Entsprechung in den Kulissen der Macht.

Hatte Primakow noch die Finanzoligarchen insgesamt als Gegner, so brach deren Gemeinsamkeit schon bei der Ernennung Stepaschins auseinander. Offenbar wollte der Finanzoligarch Boris Beresowskij, der weiterhin zur engeren Familie gehörte, seinen zeitweiligen Verbündeten, den Finanzoligarchen Wladimir Gusinskij ausbooten.

Schon unmittelbar nach dem Sturz Primakows begannen die Medien, vor allem der populäre Fernsehsender NTW, Gusinskijs Skandale aufzugreifen und den Kreml zu kritisieren. Das hatten seine Medien zwar schon 1995 anläßlich des Tschetschenien-Krieges getan, aber 1996 hatte Gusinskij dann doch Jelzin gegen die Kommunisten Sjuganows unterstützt und Jelzin von da an nur noch maßvoll kritisiert. Nun wurde in der Sendung "Itogi" die "Familie" direkt angegriffen, allen voran Beresowskij selbst und der Chef des Ölkonzerns Sibneft, Roman Abramowitsch.

Beresowskijs Fernsehsender ORT schlug zurück und berichtete eingehend über die Schulden von Gusinskijs Konzern "Media-Most" - über unbezahlte Rechnungen und unkalkulierbare Risiken. Gusinskij versuchte eine gütliche Einigung, vor allem mit dem mächtigen Chef der Präsidialverwaltung Aleksandr Woloschin, der vor seinem Wechsel zum Kreml enge Geschäftsbeziehungen zu Beresowskij pflegte. Woloschin forderte von Gusinskij eine freundlichere Berichterstattung. Vor allem aber sollte er aufhören, Lushkow zu unterstützen. Dem hatte NTW mehrere ausführliche Interviews ermöglicht, in denen er den Kreml heftig kritisierte.

NTW berichtete, wie Woloschin und Beresowskij vor einigen Jahren durch Finanzpyramiden Zehntausende Russen um ihre Einlagen gebracht haben. Im Gegenzug wurde Gusinskijs "Media-Most" von der Steuerpolizei durchsucht.

Ende Juli richteten Gusinskijs Chefredakteure, also die von NTW, in dem Radiosender "Echo Moskwy", der Wochenzeitschrift Itogi und der Tageszeitung Segodnja einen offenen Brief an Jelzin, in dem sie Woloschin beschuldigten, die unabhängigen Medien lahmlegen zu wollen. Woloschin behauptete daraufhin, "Media-Most" wolle vom Staat Geld erpressen, obwohl sie mehr bekommen habe als alle anderen zusammen. Nun bezichtigten die Chefredakteure Woloschin der Lüge und Erpressung.

Finanzielle Schwierigkeiten zu bereiten, blieb eine Waffe der Präsidialverwaltung. Auf den Konten von "Media-Most" wurden etwa 61 Millionen Dollar gesperrt, jener Betrag, den die Außenhandelsbank im Juni 1998 Gusinskij als Kredit zur Verfügung gestellt hatte. Media-Most behauptete, es sei eine Stundung vereinbart worden, die Außenhandelsbank dementierte.

Sicherlich sollte man die Schwierigkeiten Gusinskijs noch nicht überschätzen. Anders als die Medien Beresowskijs, dem es um politischen Einfluß ging und der dafür Verluste in Kauf nahm, hatte "Media-Most" von Anfang an primär kommerzielle Ziele.

Auch Beresowskij blieb nicht untätig. Obwohl er bereits die Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta besaß, kaufte er Ende Juli 15 Prozent der bislang unabhängigen und seriösen Tageszeitung Kommersant auf. Einer bislang unbekannten amerikanischen Firma, bei der es sich um eine Strohfirma Beresowskijs handeln soll, gehört der Rest. Schrittweise wird also die russische Medienlandschaft, die nach der sowjetischen Zeit informativ geworden war - zumindest in den Metropolen -, in den Machtkämpfen instrumentalisiert und ausgezehrt.

Die Weiterungen der Machtkämpfe erreichten sogar die größte Wirtschaftsmacht Rußlands, die "Gasprom", die 25 Prozent des Staatshaushaltes erwirtschaftet. In der Anfangszeit des Konfliktes zwischen Beresowskij und Gusinskij suchte der Kremlverwalter Woloschin noch Gusinskijs Unterstützung bei der Ausdehnung des Einflusses auf "Gasprom". 49 Prozent der Aktien von Gusinskijs "Media-Most" gehören der "Gasprom". Ihr Generaldirektor Rem Wjachirew steht offenbar Lushkows "Vaterland" nahe; es war Stepaschin nicht gelungen, ihn zu kippen.

Wiktor Tschernomyrdin, dessen Karriere ursprünglich eng mit "Gasprom" verbunden gewesen war, gelang Ende Juni die Rückkehr. Er wurde neuer Vorsitzender des Aufsichtsrates.

Am 26. August gelang es dem Kreml, seinen Einfluß auszudehnen, indem er auf einer außerordentlichen Aktionärsversammlung zum zweiten Mal in zwei Monaten einen neuen Aufsichtsrat wählen ließ.

Die Regierung hatte vorgearbeitet: Am Vorabend der Aktionärsversammlung durchsuchte die Steuerpolizei die Moskauer Büroräume der Öl- und Gasgesellschaft "Sibur" und zweier weiterer Öl- und Gasunternehmen, die eng mit "Gasprom" zusammenarbeiten. Wjachirews Sohn, der ebenfalls in der Gasindustrie arbeitet, wurde illegaler Geschäfte verdächtigt. Rem Wjachirew blieb zwar im Amt, aber die Regierung erhielt nun fünf statt vier Plätze im elfköpfigen Aufsichtsrat.

Die Skandale

Der sich fortsetzende Machtkampf läßt sich als Kontext der neuerlich aufgebrochenen Skandale denken. Erst der Konflikt der Giganten öffnet jene Vorhänge einen Spalt weit, hinter denen Hinterzimmerpolitik und Geschäftstüchtigkeit zusammengingen. Da aber Machthaber ihr persönliches Interesse fast immer mit dem des Landes identifizieren, gewinnt die Behauptung, die Korruptionsvorwürfe seien ein Versuch, Rußland zu diskreditieren, eine gewisse Plausibilität.

Es war auch ohne die Skandale bekannt, daß in Rußland sowohl die Marktwirtschaft wie die Politik als Bereiche verstanden werden, in denen es um Bereicherung geht, und daß dabei alle Mittel legitim sind, sofern sie geschickt eingesetzt werden. Das Geschick wird benötigt, weil in der Öffentlichkeit das Gemeinwohl normative Richtschnur ist. Es muß vertuscht werden, auch wenn der rhetorische Firnis dünn ist und das Publikum überwiegend zynisch reagiert.

Es ging bei allen Skandalen und den Berichten über sie vor allem um drei Komplexe, in die Mitglieder der "Familie" involviert sind.

Die ersten beiden Komplexe wurden von der Schweizer Bundesanwaltschaft und der russischen Generalstaatsanwaltschaft recherchiert. Überhängend war der Skandal um die russische Fluggesellschaft "Aeroflot". Beresowskij, der in der Schweiz auf Geschäftskonten mehr als 200 Millionen Dollar und auf Privatkonten mehr als 70 Millionen Dollar lagern soll, war verdächtigt worden, die Deviseneinnahmen der Fluggesellschaft auf einem Konto der Schweizer Firma "Andava" deponiert zu haben, das ihm selbst gehören soll. Da "Aeroflot" von einem Schwiegersohn Jelzins geleitet wird, ergaben sich suggestive Möglichkeiten. Ein Haftbefehl gegen Beresowskij konnte nicht vollstreckt werden, da er sich zufällig im Ausland befand. Nach der kurz darauf erfolgenden Entlassung des zuständigen Generalstaatsanwalts Skuratow wurde der Haftbefehl sofort aufgehoben. Beresowskijs Rückweg zur Macht war kurz; die Affäre dümpelt seither vor sich hin.

Der zweite Schweizer Skandal war der um die Firma "Mabetex", die von dem Kosovo-Albaner Behjget Pacolli geleitet wird. "Mabetex" war 1994 am Wiederaufbau des 1993 zerschossenen Weißen Hauses beteiligt gewesen und hatte danach Aufträge zur Renovierung des Föderationsrates, des großen Kremlpalasts, von Büro- und Empfangsräumen im Kreml, von verschiedenen Präsidentenresidenzen, dem Rechnungshof und anderen staatlichen Gebäuden erhalten. Insgesamt soll es um 488 Millionen Dollar gegangen sein. Die Firma tat offenbar das übliche. Sie schmierte jene, die die Aufträge vergaben oder die Auftragsvergabe durchsetzen konnten; bei westlichen Firmen werden derartige Zahlungen als "ortsübliche Sonderaufwendungen" verbucht. Da es sich um kostbare Luxusrenovierungen handelte - im Kreml allein soll "Mabetex" für 49 Millionen Dollar tätig gewesen -, mußten auch die Schmiergelder hoch sein.

Auf russischer Seite war die "Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten" verantwortlich. Sie ist für den Kreml, die Regierung, die Duma et cetera und für alles Materielle zuständig: von den Dienstwagen über die Gardinen bis zur Versorgung mit Bleistiften. Sie ist eine der größten russischen Firmen überhaupt. Chef ist seit 1993 Pawel Borodin ("Pal Palytsch"), ein gelernter Ökonom und ehemaliger Bürgermeister von Jakutsk. Standesgemäß liebt er den Luxus: Marmor, edle Hölzer und Steine und sorgt dafür, daß die Einfluß- und Machtverhältnisse äußerlich sichtbar bleiben. Da Borodin über Aufträge entscheidet, liegt es nahe, daß Versucher an ihn zuerst herantreten. Aber den Berichten zufolge kann er auch teilen.

In dieser Sache hatte sich der damalige Generalstaatsanwalt Jurij Skuratow schon im Herbst 1998 direkt an die Schweizer Bundesanwältin del Ponte gewandt. Seit Oktober 1998 beschlagnahmte seine Behörde große Mengen von Belastungsmaterial. Der Inlandsgeheimdienst, dessen Chef damals Putin war, war nach Auskunft Skuratows nicht kooperativ. Im Februar 1999 stellte Skuratow Strafanzeige gegen Borodin.

Dann kam der Rückschlag. Anfang März erklärte Skuratow seinen Rücktritt, widerrief ihn allerdings drei Wochen später vor dem Föderationsrat. Das Sex-Video, mit dem er erpreßt werden sollte, war inzwischen im Fernsehen gelaufen. Nun wurde auch der FSB tätig und half, die Anschuldigung des "Machtmißbrauchs" gegen den Generalstaatsanwalt zu formulieren. Es folgte ein langer Absetzungsprozeß, bis der Föderationsrat zweimal die Entlassung Skuratows verweigerte. Skuratow wurde gleichwohl "zeitweilig" aus dem Amt entfernt, nachdem ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Dabei war allerdings die zuständige Moskauer Staatsanwaltschaft umgangen worden. Im Mai stellte das Moskauer Stadtgericht daher das Strafverfahren wegen Gesetzwidrigkeit ein. Skuratow befindet sich gegenwärtig im Zwangsurlaub.

Aber auch Skuratows kommissarischer Nachfolger Tschajka, der naiverweise die Ermittlungen im Umkreis Jelzins fortführen wollte, trat bald zurück. An seine Stelle trat sein bisheriger Vertreter Wladimir Ustinow.

Die Schweizer Bundesanwaltschaft blieb dynamisch. Im Juni entdeckte sie bei einer Schweizer Bank ein Konto Borodins, über das in drei Jahren 3,5 Milliarden Dollar geflossen seien. Mitte Juli teilte die Schweizer Bundesanwaltschaft mit, daß sie gegen Borodin, seine Ehefrau und weitere 22 Spitzenbeamte des Kreml ermittelt. Jelzin selbst und seine beiden Töchter seien noch nicht unter den Verdächtigen.

Im August brachten die Schweizer den Skandal wieder in die Schlagzeilen. "Mabetex" sollte eine Million Dollar auf ein Konto Jelzins bei einer Budapester Bank eingezahlt haben. Überdies sollten in den Safes der Schweizer Bundesanwaltschaft je eine Kreditkarte für Jelzin und seine beiden Töchter liegen.

Die russischen Ermittlungen stießen auf die üblichen Schwierigkeiten. Zwar kündigte der designierte Generalstaatsanwalt Ustinow an, daß die Ermittlungen weitergingen. Als aber der mit dem Fall befaßte Chefermittler Georgij Tschuglasow Akten in der Schweiz einsehen wollte, wurde er am 27. August als Ermittler abgelöst und seine Telefonleitungen gekappt. Die offizielle Begründung war, daß Abteilungsleiter nicht mehr direkt Ermittlungen führen sollten; Tschuglasow solle sich auf seine bürokratischen Aufgaben konzentrieren.

Der ausgebremste Tschuglasow kommentierte öffentlich, daß mindestens 90 Prozent der in der Presse veröffentlichten Behauptungen stimmten, und daß die Ermittlungsbehörden sie mit Dokumenten belegen könnten. Weitere Namen und andere Informationen gab er jedoch nicht preis.

Ganz andere Dimensionen hatte die Geldwäscheaffäre, die Ende August wieder aufflammte. Wieder ging es einerseits um die Offshore-Banken auf der Insel Jersey, über die offenbar staatliche Gelder zirkulierten. Neu war, daß die renommierte Bank of New York verstrickt war. Über sie sollen beträchtliche Geldbeträge aus Rußland gewaschen worden sein - es war die Rede von 10 bis 15 Milliarden Dollar. Allein zwischen Oktober 1998 und März 1999 sollen 4,2 Milliarden Dollar über die Konten der Bank gelaufen sein.

Die operativen Schlüsselfiguren des Skandals sind romanhaft, wie die Skandalszene überhaupt. Der in Odessa geborene Bruce Rappaport, der Banken in der Schweiz und in Antigua besitzen soll, habe schon Mitte der achtziger Jahre Aktien der Bank of New York erworben und sei zu Beginn der neunziger Jahre in Moskau als Banker tätig gewesen. Er habe schon damals führenden Moskauer Politikern angeboten, in New York Konten einzurichten und jede beliebige Summe von jedem beliebigen Ort aus dorthin zu überweisen.

Konstantin Kagalowskij war von 1992 bis 1995 Rußlands Vertreter beim IWF in Washington gewesen. Er hatte anschließend bei der durch Staatsgeschäfte reich gewordenen "Menatep-Bank" in Moskau gearbeitet, die zum Imperium des Finanzoligarchen Potanin gehört. Kagalowskij ist heute stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Ölgesellschaft "Jukos".

Seine Ehefrau Natasha Gurfinkel war bis zu ihrer Suspendierung stellvertretende Präsidentin der Bank of New York und leitete deren Osteuropaabteilung. Sie war bereits 1979 in die USA übergesiedelt und verkehrte seit 1991 im Milieu der Wirtschaftsreformer in Moskau. Weil sie durch ihre Kontakte Gelder einwerben konnte, war sie der Bank besonders wichtig.

Sie war darüber hinaus Vorgesetzte der stellvertretenden Chefin der Londoner Filiale der Bank, Lucy Edwards, die dort das Osteuropa-Geschäft betreute. Lucy Edwards wurde sofort fristlos entlassen. Britische und amerikanische Ermittler waren bei ihrer Suche nach veruntreuten Milliarden zunächst auf sie gestoßen. Es wurde ihr vorgeworfen, Unterlagen gefälscht, interne Richtlinien überschritten und sich geweigert zu haben, bei den internen Untersuchungen der Bank zu kooperieren. Auch Lucy Edwards stammte als Ljudmila Pritzker ursprünglich aus der Sowjetunion. Sie ist mit dem Geschäftsmann Peter Berlin verheiratet, der für Überweisungen das Konto seiner Firma "Benex", wahrscheinlich eine Scheinfirma, zur Verfügung stellte. Berlin wiederum hatte enge Beziehungen zu dem obskuren Semjon Mogilewitsch, der als Mafiaboß mit den "Spezialgebieten" Waffenhandel und Prostitution gilt.

Die Untersuchungen führten in ein Gestrüpp, in dem Beweise, Plausibilitäten und Verdächtigungen durcheinanderlaufen. Ein großer Teil der politischen Führungsschichten soll involviert sein, so die früheren Stellvertretenden Ministerpräsidenten Anatolij Tschubajs, Wladimir Potanin, Aleksandr Liwschiz, Oleg Soskowez und schließlich sogar Wiktor Tschernomyrdin; ihm wirft die CIA Geschäftsverbindungen zu Semjon Mogilewitsch vor.

Die Schattenwelt der Thriller und die scheinbar vom Licht der Öffentlichkeit durchflutete Welt der Politik scheinen sich zu mischen. Sicherlich wird kaum etwas zu beweisen sein und damit kaum juristische Konsequenzen haben.

Eine der Plausibilitäten ist die, daß westliche Kredite über die Bank of New York privatisiert wurden. Denn die normale Korruption und das organisierte Verbrechen können kaum solche Beträge anhäufen. Bei einem Konto, das der amtierende Generalstaatsanwalt Ustinow untersuchen ließ und neben vier anderen sperrte, handelt es sich angeblich um ein Sonderkonto der russischen Regierung, das für Gelder bestimmt war, die aus dem Verkauf amerikanischer Nahrungsmittel auf dem russischen Markt stammen. Der Skandal setzt sich so in die amerikanische Innenpolitik hinein fort und beeinträchtigt die Chancen von Al Gore, amerikanischer Präsident zu werden. Er ist immerhin für die Kontakte nach Rußland zuständig und sollte einiges gewußt haben.

Aber es wird schwer sein, gerichtsfähige Beweise zu erbringen. Auch die westlich-russischen Finanztransaktionen werden nach kurzer Irritation weitergehen. Dutzende von seriösen internationalen Banken aus Großbritannien, Rußland, Japan, Australien, Deutschland, der Schweiz und den USA waren beteiligt; sie werden sich jetzt nicht zurückziehen. Überdies würde eine Sperrung der westlichen Kredite Rußland destabilisieren; der IWF zahlt auf jeden Fall weiter; immerhin bucht er seine Kreditzahlungen inzwischen nur noch auf eigenen Konten um.

Natürlich steht die Gegenseite nicht blütenweiß da. Das wäre sogar unwahrscheinlich. Was sich in Rußland an strukturellen Plausibilität erschließen läßt, ist Teil einer politischen Kultur, die sich zu globalisieren scheint.

Erhard Stölting schrieb in Kommune 5/99: "Rußland: Gleitende Macht vor dramatischem Hintergrund".