Zur sozialen und sozialpolitischen Dimension der Nachhaltigkeit

Offene Fragen und neue Herausforderungen

Michael Opielka

Die Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung moderner Gesellschaften erreicht erst in jüngster Zeit die Sozialwissenschaften und bislang noch kaum die wissenschaftliche Reflexion der Sozialpolitik.1 Dabei erscheint der Mehrheit der politischen und wissenschaftlichen Diskutanten der Sozialstaat deutscher (und westeuropäischer) Prägung als zu aufgebläht und seine künftige Entwicklung zu einem "schlanken" Sozialstaat unverzichtbar, wobei dessen Konturen allerdings noch undeutlich sind. In der parallelen allgemeinen Nachhaltigkeitsdiskussion wird gleichfalls die Rolle des Staates zunehmend problematisiert und ist in ihren künftigen Konturen kaum weniger undeutlich. Offen erscheint vor allem, ob die ökologisch nachhaltige Gesellschaft auch eine soziale Gesellschaft sein wird. Es liegt deshalb nahe, aus wissenschaftlicher – wenngleich darin politischer2 – Sicht Impulse für einen nachhaltigen Wohlfahrtsstaat zu leisten.

In der neuesten Studie, die sich dem hier erörterten Zusammenhang widmet, wird die soziale Dimension der Nachhaltigkeit innerhalb eines "triangulären Nachhaltigkeitskonzeptes" (Hans-Böckler-Stiftung 2000, S. 6) untersucht. Die drei auf ihren Gebieten führenden hiesigen Institute gehen von einer "gleichwertigen Berücksichtigung der drei Nachhaltigkeitsdimensionen" (ebd., S. 5) der "sozialen", "ökonomischen" und "ökologischen" Voraussetzungen und Folgen aus und wurden durch den gewerkschaftlichen Auftraggeber aufgrund ihrer Spezialisierung auf je einem dieser Gebiete in ein gemeinsames Forschungsboot gewonnen.3 Ohne diese umfangreiche Studie zu "Arbeit und Ökologie" an dieser Stelle angemessen auswerten zu können, möchte ich an der darin genutzten Konzeptionalisierung des Sozialen im allgemeinen und des Sozialpolitischen im Besonderen anknüpfen.

Die Gegenstandsklärung erfolgt – schon aufgrund der Organisation des Wissenschaftsbetriebes und trotz der ökologisch-theoretischen Aufforderung zu Inter- bzw. Transdisziplinarität – tendenziell entlang von ausdifferenzierten Disziplinen: die ökologische Dimension gilt als Feld der Natur- und Technikwissenschaften, die ökonomische Dimension als das der Wirtschaftswissenschaften, die soziale Dimension entsprechend als Aufgabe der Soziologie, Politikwissenschaft und Sozialpädagogik bzw. Sozialpsychologie. Diese pragmatische Abgrenzung erlaubt bereits einen ernüchternden Befund: Noch vor wenigen Jahren existierten weder in der internationalen noch in der deutschen Sozialwissenschaft systematische und institutionalisierte Forschungen zu ökologischen Fragestellungen. Nicht zuletzt als Folge der nachholenden Professionalisierung im Rahmen der nationalen und internationalen Umweltpolitik hat sich dies verbessert, wenn auch von einem ausdifferenzierten Forschungsgebiet sozialwissenschaftlicher Ökologie oder ökologischer Soziologie allerdings kaum die Rede sein kann.4

In der erwähnten Studie "Arbeit und Ökologie" wird das "soziale Leitbild der Nachhaltigkeit" allgemein beschrieben:

– "Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben für alle;

– intergenerative und intergenerationale Gerechtigkeit;

– ein anderer, ressourcenärmerer Wohlstand in den Industrieländern als Basis für Umverteilungspotenziale;

– Beteiligung aller gesellschaftlichen Akteursgruppen." (Hans-Böckler-Stiftung 2000, S. 71)

Im Anschluss daran werden "Kriterien sozialer Nachhaltigkeit" entwickelt, die – was durch die Autoren der Studie offensiv zugestanden wird – weder unumstritten noch widerspruchsfrei sind:

1. Als erstes und "wichtigstes" Kriterium gilt der Studie die "eigene Arbeit in verschiedenen Formen" als "Grundlage und Teil einer selbstbestimmten Lebensführung", die "verschiedene Einkommensarten und Fähigkeiten" verbindet. Dabei wird Erwerbsarbeit mit anderen Arbeitsformen ("Versorgungs-, Gemeinschafts- und Eigenarbeit") zu einem Konzept der "Mischarbeit" kombiniert und auch "gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit" als Arbeit anerkannt. Dass dieses Kriterium sozialer – nicht ökonomischer – Nachhaltigkeit ausdrücklich als "wichtigstes" deklariert wird, müsste gut begründet werden.

2. Bevor die Widersprüchlichkeit dieses "wichtigsten" Kriteriums jedoch zum Thema werden könnte, führt die Studie ein eher grundrechtliches Teilhabekriterium ein: die "Befriedigung materieller Grundbedürfnisse", die "Sicherung physischer und psychischer Gesundheit", die "Möglichkeit lebenslanger Lernprozesse" sowie allgemein Selbstentfaltung und gesellschaftliche Teilhabe.

3. Als drittes wird ein durchaus spezifisches, wenn nicht einseitig der politisch-liberalen Tradition entlehntes Kriterium sozialer Nachhaltigkeit angeführt: "Insoweit die eigenaktive Versorgung für eine selbstbestimmte Lebensführung nicht ausreichend ist, wird sie durch ein gesellschaftliches Sicherungssystem ergänzt (soziale Gerechtigkeit)." Hier müsste nun begründet werden, warum das sozialpolitische Leitbild der individuellen beziehungsweise haushalts- oder familienbezogenen Subsidiarität ein Kriterium sozialer Nachhaltigkeit sein soll.

4. Schließlich werden noch drei weitere Kriterien sozialer Nachhaltigkeit angeführt: eine Förderung politischer Kultur der Teilhabe durch Infrastruktur, Beteiligungsrechte und Chancengleichheit auch zwischen den Geschlechtern; die Ermöglichung "sozialer Innovationen ... in Arbeit und Leben", was Kriterium eins – multiple Arbeitsformen – aufgreift; als letztes demokratische Regulierung und "soziale Verträglichkeit von Nachhaltigkeitsstrategien", also Akzeptanz der Beteiligten. Auch bei diesen Kriterien ist nicht ganz klar, warum es sich hier um Nachhaltigkeit handelt und nicht um schlichte Modernitäts- und systemische Stabilitätskriterien, deren ökologische Relevanz zunächst offen erscheint.

Diese durchaus kritisch gemeinte Darstellung der Programmatik soll im Folgenden an einer der Fragestellungen vertieft werden, nämlich der eingeschränkten Konzeptionalisierung der Sozialpolitik als "Ergänzung" der "eigenaktiven Versorgung", dem dritten der zitierten Kriterien.5

Kritik des Produktivismus als Wohlfahrtsstaatskritik

Konträr zu dieser radikal subsidiären Auffassung von Sozialpolitik als Kompensation primärer (eigentlicher) Formen der Wohlfahrtsproduktion – über den (Arbeits-)Markt und die (Familien-)Gemeinschaft – existiert auch eine "gemischte" Auffassung, die zunehmend für eine eigenständige Begründung staatlicher Wohlfahrtsleistungen eintritt. Besonders markant kulminiert diese Auffassung in den Vorschlägen für die Etablierung eines allgemeinen "Rechtes auf ein Einkommen" oder eines "Grundeinkommens". Neu ist, dass diese Forderung keineswegs als Element einer allgemeinen Durchstaatlichung der Gesellschaft und einer Be- oder Verhinderung marktlicher und gemeinschaftlicher Wohlfahrtsproduktion erhoben wird. Im Gegenteil, die – häufig liberalen – Vertreter dieser sozialpolitischen Perspektive behaupten, ein Grundeinkommen stehe für eine steuerungstheoretische Neuorientierung des (westeuropäischen) Wohlfahrtsstaatsmodells, die nichtstaatlichen Formen der Wohlfahrtsproduktion optimale Entwicklungsbedingungen bietet.

An dieser Stelle ist relevant, dass die Forderung nach einem garantierten Grundeinkommen zunehmend ökologisch begründet wird (zu frühen Begründungen vgl. Opielka 1985, 1985a). Es stelle eine notwendige Bedingung für "nicht-produktivistische" Verkehrsformen, für eine Abkehr vom "Konsumismus" dar (vgl. u. a. BUND/Misereor 1996). Ein allgemeines "Recht auf Einkommen" gilt auch in der Studie "Arbeit und Ökologie" in Form einer "Negativen Einkommenssteuer" als "zentrales Element des ökologisch-sozialen Szenarios" (Hans-Böckler-Stiftung 2000, S. 441 f.) – in interessantem Konflikt6 zum erwähnten Kriterium drei des Primats der Eigenaktivität. Das Konzept des allgemeinen Grundeinkommens wird in den ökologischen Szenarien als wesentliches Element einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit betrachtet (als Ergänzung und zum Teil als Stärkung nichtmarktlicher Arbeit und Tätigkeit).

Eine Begründung dieser Thesen ist schwierig. "Vorkonsumistische", vormoderne Produktionsweisen kannten keinen Sozialstaat und daher kein staatlich garantiertes Grundeinkommen. Bisher wurden in keiner Staatsgesellschaft umfassende sozialpolitische Konzepte realisiert, die dem Prinzip des Grundeinkommens entsprechen. Insoweit bleiben Annahmen für eine positive Korrelation von Ökologisierung und Garantismus7 empirisch noch nicht prüfbar. Um beurteilen zu können, ob ökologische Begründungen für ein garantiertes Grundeinkommen zumindest beachtet werden sollten, ist eine Reflexion der gegenwärtigen Diskussion sinnvoll, denn: Ihr Einfluss auf den Arbeitsmarkt wäre nämlich erheblich.

Ökologische Gründe für sozialpolitische Reformen beginnen (wie jeder Reformvorschlag) mit einer Kritik der bestehenden Verhältnisse. Aus ökologischer Sicht überdeckt der positive Unterton der Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik deren bislang "produktivistische" (vgl. Offe 1992) Annahmen.8 Es sind insbesondere drei Annahmen, die vor dem Hintergrund einer sozialökologischen Krisendiagnose der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft neu reflektiert werden:

– Als Grundlage des Produktivismus gilt der "fordistische Gesellschaftsvertrag", die ungeschriebene Übereinkunft, steigender Lebensstandard und kontinuierliche Beschäftigung seien der Lohn für die Bereitschaft, entfremdende Arbeitsbedingungen ohne besonderen Widerstand hinzunehmen.

– Die zweite Annahme ist die erwerbsarbeitszentrierte Vorstellung, nur über den Markt vermittelte, in monetären Kategorien abgebildete Arbeit sei gesellschaftliche Arbeit.

– Als dritte Annahme des produktivistischen Wohlfahrtsstaatsmodells wurde seine systematische Verschleierung der sozialen Kosten des Industrialismus kritisiert. Negative Folgekosten der produktivistischen Lebensweise erscheinen beispielsweise im Gesundheitswesen als Wohlfahrtsleistungen, die zur Legitimierung des industrialistischen Komplexes beitragen. Unterstützt durch Forschungen wie die Zeitbudgetstudien des Statistischen Bundesamtes und den 5. Familienbericht der Bundesregierung – wird auch in der Öffentlichkeit jüngst die "strukturelle Rücksichtslosigkeit" (F. X. Kaufmann) der Gesellschaft gegenüber der Familie und ihrer Wohlfahrtsleistung in die ökologische Diskussion einbezogen (vgl. Leipert/Opielka 1998).

Die Kritik des Produktivismus, der Erwerbsarbeitszentrierung wie der Verschleierung sozialer Kosten des Produktionssystems klärte darüber auf, dass die konsumistischen Handlungsorientierungen in den führenden Wirtschaftsnationen und ihre problematischen ökologischen Konsequenzen in der modernen Sozialordnung tief verankert sind. Kaum untersucht ist die Rolle des Wohlfahrtsstaates in der institutionellen Befestigung produktivistischer Handlungsmuster. Das ist insoweit erstaunlich, als in der umfänglichen Literatur zur Analyse wie – vor allem – zur Legitimation des modernen Wohlfahrtsstaates die ersten beiden genannten Annahmen selbstverständlich zu den unverzichtbaren Bestandsvoraussetzungen gerechnet werden. Eine Konzeption des Wohlfahrtsstaates, die auf Produktivismus und Erwerbsarbeitszentrierung verzichten kann, liegt derzeit allenfalls in Umrissen vor.

In einer Zeit, in der marktwirtschaftliche Legitimationsmuster und insbesondere die "Finanzierungskrise" des Sozialstaats zum Fokus öffentlicher Konflikte werden, ist dieser Mangel folgenreich, da sich die politische Arena auf klassische Verteilungskämpfe innerhalb des fordistischen Konsenses verengt. Ökologische Problemlagen werden gegenüber dem "Beschäftigungs"-Problem als zweitrangig abgetan, wie dies – nach entsprechenden Diskursen zur Nutzung der Atomenergie in den Achtzigerjahren – gegenwärtig an der Diskussion um die wirtschaftliche Nutzung der Gen- und Biotechnologien sichtbar wird. Die Krise des erwerbsarbeitszentrierten Wohlfahrtsstaates und dessen produktivistische Annahmen scheinen somit vergleichbare Ursachen zu besitzen.

Konzepte für eine Reform der heutigen Produktionsweise mithilfe einer ökologischen Wirtschaftspolitik haben sozialpolitische Folgen, die bisher kaum untersucht wurden. Während die einkommensrelevanten Folgen einer ökologischen Steuerreform zumindest thematisiert werden, sind weitere soziale Voraussetzungen und (Neben-)Folgen einer Ökologisierung der Ökonomie ungeklärt. Dies gilt etwa für eine auf Reduzierung von Mobilität zielende Verkehrspolitik und ihre Folgen für den Arbeitsmarktzugang, für eine Strategie der Verteuerung ressourcenintensiver Produktion und ihre Auswirkungen für den Zugang unterer Einkommensgruppen zu darauf (noch) basierenden Konsumgütern oder allgemeiner für eine Veränderung von Konsumprofilen und ihre verteilungspolitischen Folgen für den Zugang zu Konsumgütern für breite Bevölkerungskreise.

Umgekehrt wäre zu fragen, welche sozialpolitischen Voraussetzungen eine ökologische Produktionsweise fordert: Dematerialisierung, Konsumreduzierung, auch eine Wende zur "Ressourcenproduktivität" (Bleischwitz 1998) im Sinne der propagierten Strategie "Faktor 4" (Weizsäcker u. a. 1996) sind kaum möglich ohne erhebliche Änderungen sozialer Handlungs- und Strukturmuster und der sie begleitenden sozialpolitischen Institutionen. Ähnliches gilt für die von Gerhard Scherhorn als zukunftsfähig benannten Leitbilder "Wachstumsneutralität" und "Zeitwohlstand" (Bakker u. a. 1999, S. 10). Noch voraussetzungsvoller wäre nur ein positives Konzept von "Schrumpfungen" (Hager/Schenkel 2000).

Nachhaltigkeit als sozialpolitisches Leitbild?

Im Rahmen des "Drei-Säulen-Modells" kommt im regionalen, nationalen und internationalen Maßstab sozialen Fragen – zunächst verkürzt auf Verteilungsfragen – eine immer bedeutendere Rolle zu. Mit dem Aufholprozess der so genannten Entwicklungsländer wird deutlich, dass die bisherigen Produktions- und Konsumtionsmuster der Industrieländer nicht verallgemeinerungsfähig sind.

Politische Interessenlagen und normative oder ethische Annahmen definieren wesentlich die Grenzen der Anpassungsmöglichkeiten des sozialen Systems. Während seit Jahren Forderungen nach einer wirksamen Politik der Verhinderung von Armut durch eine Einkommensgrundsicherung et cetera abgelehnt werden, erklärt die Politik gut organisierte Partikularinteressen wie diejenige der Landwirtschaft oder des Steinkohlebergbaus in Westdeutschland regelmäßig zur Belastungsgrenze und Grundlage ihres Handelns. "Ohne eine nähere Bestimmung dessen, was als Überforderung der sozialen Anpassungsfähigkeit angesehen wird, kann die soziale Säule zum beliebig nutzbaren Bremsklotz für eine Politik der Nachhaltigkeit werden" (Petschow u. a. 1998, S. 29), heißt es mahnend in einer neueren Studie im Auftrag der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der natürlichen Umwelt" des Deutschen Bundestages. Zu Recht wird dort weiter festgestellt, dass Nachhaltigkeitsprobleme ausgehend vom "3-Säulen-Modell" als ein "scale"-Problem angesehen werden müssen.

Das Problem des Ausmaßes – "scale" – ökologischer Begrenzungen besteht aber nicht ausschließlich in naturwissenschaftlich bestimmbaren Begrenzungen. Vielmehr fließen in hohem Maße Vorstellungen über die "Qualität des Lebens" ein (vgl. ebd., S. 31). Dabei handelt es sich um originär anthropogene Sichtweisen, in die vor allem Vorstellungen über intra- und intergenerationale Gerechtigkeit einfließen müssen. Über solche Gerechtigkeitsvorstellungen muss freilich ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, damit sie über eine gewisse Dauer verfügen, insoweit überhaupt nachhaltig wirksam werden können. Die Institutionalisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen ist vielleicht die wichtigste Konsensleistung moderner Sozialstaatlichkeit (vgl. Mau 1997) – wenngleich der Konsens mit Differenzen einhergeht (vgl. Pioch 2000). Zentral bleibt die Frage, wie das geschieht, mit welchen Steuerungsinstrumenten beispielsweise. Auch in der Sozialpolitik wirken ökonomische Anreizsysteme (z. B. Lohndifferenzen, Freibeträge), rechtliche Setzungen (z. B. Altersgrenzen) und gemeinschaftliche Bindungen (z. B. Familiensolidarität) in komplexer Weise ineinander. Sozialpolitische Interventionen des Staates sind jedoch zunächst rechtlicher Natur – und müssen deshalb die Chancen und Grenzen dieser Steuerung wie ihre Wirkungen auf wirtschaftliche und gemeinschaftliche Zusammenhänge berücksichtigen.10

Die Vagheit des Nachhaltigkeitsbegriffs kann zwar zur Hineininterpretation des jeder Interessengruppe Genehmen führen. Allerdings ist zu beobachten, dass alle Interessengruppen versuchen, die Leitvision sowohl mit je partikularen Zielen als auch mit universalen Werten (der Gerechtigkeit, Gleichheit, internationalen Solidarität usf.) aufzuladen. Optimistisch beobachten die Autoren der Studie der Hans-Böckler-Stiftung: "Die Tendenz geht zu einem universalen, vorsorglichen und ökologisch aufgeladenen Gemeinwohlbegriff" (WZB-Mitteilungen, a. a. O.). Die "ökologische Aufladung" ist freilich in Hinblick auf die Sozialpolitik noch kaum operationalisiert. Die aus ökologischer Sicht nahe liegende These nämlich, dass der klassische deutsche Sozialstaat von quantitativem Wirtschaftswachstum nur in Hinblick auf sein produktivistisches Leitbild abhängig wäre, das Quantität vor Qualität setzt, harrt noch der Begründung.

Zwar gibt es keinen Grund zur Annahme, dass eine solidarisch strukturierte, sozialstaatlich vermittelte Distribution der jeweils vorhandenen Güter und Einkommen nicht auf allen denkbaren Wohlfahrtsniveaus erfolgen könnte. Verteilung – als sozialstaatliche Kernaufgabe – wäre insoweit vor allem eine politisch-rechtliche, zugleich normative und ethische Frage nach Gerechtigkeitsvorstellungen. Doch für eine entsprechende Neuorientierung in Richtung sozialer Nachhaltigkeit, eine "nicht-produktivistische" Sozialpolitik (vgl. Offe 1992) müsste ein alternativer Wachstumspfad noch formuliert werden: beispielsweise in Richtung einer Relativierung der Erwerbsarbeit mit einer tendenziellen Entkopplung der individuellen Produktion und Konsumtion, damit auch einer partiellen Entkopplung der gesellschaftlichen Sphären von Produktion und Distribution. Erwerbsarbeit als Berufsarbeit entstand mit der Marktgesellschaft durch die Tauschlogik von Arbeitsleistung für Lebensunterhalt. Die äquivalente Tauschkonstruktion nährt die Illusion, nur für sich zu arbeiten. Damit wurde Egoismus wie funktionalistisches Endzweckdenken als zweckrationales Handeln vorprogrammiert. Auch innerhalb der gegenüber diesen Leitmotiven des Kapitalismus bislang skeptischen ökologischen Bewegung gewinnen jene verkürzten Denkmuster erstaunliche Akzeptanz. So fordert etwa Joschka Fischer (1998) eine "Neubewertung des Unternehmers": "Dessen überwiegend besitzegoistische Motive sind nicht nur völlig legitim, sondern darüber hinaus schlicht unverzichtbar, ... sofern die politischen und sozialen Rahmenbedingungen stimmen". Nun beansprucht sozialpolitischer Garantismus eine Seite solcher Rahmenbedingungen zu konstruieren. Ein allgemeines Lob des "Besitzegoismus" ist allerdings riskant. Denn neben dem (nicht immer "überwiegenden") Besitzegoismus bestimmt sich unternehmerisches Handeln wesentlich über den Wunsch der unternehmerischen Persönlichkeiten nach Selbstständigkeit, Freiheit und Selbstverantwortung. Eine nachhaltigkeitspolitische Frage wäre, welche dieser Motive stark gemacht werden: die Kasinomentalität, der Freiheitswille und/oder die gemeinschaftliche Verantwortung? Die sozialethische Diskussion der letzten Jahrzehnte markiert ein gesteigertes Bewusstsein für Fragen der Gerechtigkeit unter komplexen Bedingungen, wie die rege Kontroverse zwischen liberalistischen und kommunitaristischen Begründungen im Anschluss an John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit" belegt. Welche Folgerungen können aus diesen gemeinwohlorientierenden Diskursen für eine Entwicklung sozialstaatlicher Institutionen, der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und so fort gezogen werden?

Eine Voraussetzung nachhaltiger Sozialpolitik wäre, die Produktionsleistungen möglichst vollständig wahrzunehmen und gesellschaftlich anzuerkennen, auch diejenigen, die außerhalb (aber nicht unabhängig) von der Marktsphäre erbracht werden: vor allem die Haushaltsproduktion und die Familienarbeit, aber auch gemeinschaftliche (nicht oder gering bezahlte) Arbeitsleistungen in Nachbarschaft oder gemeinnützigen Organisationen. Eine zweite Voraussetzung wäre, Erwerbsarbeit nicht mehr als die vorrangige und für die Mehrheit der Bevölkerung ausschließliche Quelle individueller (nicht der gesellschaftlichen!) Subsistenzsicherung zu begreifen, insoweit die Einführung eines Grundeinkommens. Überlegungen dieser Art stoßen in der gegenwärtigen sozialpolitischen Reformdiskussion zunehmend auf Interesse, bilden jedoch – realistisch betrachtet – noch kein konsistentes und mehrheitsfähiges Projekt.

Fazit

Das Projekt sozialer Nachhaltigkeit fordert eine Sozialpolitik, die den gemeinschaftlichen und sozial-kulturellen Werten und Qualitäten des Lebens einen realen und – soziologisch gesprochen – institutionalisierten Platz einräumt. Der wissenschaftliche und der politische Diskurs darum sollte ernsthaft geführt werden. Eine eigenständige, aus den sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen entwickelte Theorie der sozialen Nachhaltigkeit ist ein Desiderat. Sie wird die Breite des sozialwissenschaftlichen Wissens – einschließlich der Wirtschafts-, Rechts-, Politik- und Verhaltenswissenschaften – einschließen müssen. Die Autoren der Studie "Arbeit und Ökologie" der Hans-Böckler-Stiftung haben vor allem moniert, dass "nahezu völlig unklar ist, wie die drei Grundelemente der Leitvision – Ökologie, Ökonomie und Soziales – konsistent miteinander verbunden werden können". Sie machen dafür verschiedene Gründe aus: "Hierzu gehören vor allem zahlreiche ungelöste wissenschaftlich-kognitive Grundlagenprobleme; weiterhin das Bestreben der Diskussionsbeteiligten, ihr Interessenfeld voranzustellen, wobei es aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht nur natürlich ist, dass besonders vehement auf einen Spitzenplatz von ökologischen Zielen gedrängt wird, und schließlich, dass über die Bedeutung und Funktion der ‚sozialen Säule‘ weitgehend Unklarheit besteht" (WZB-Mitteilungen, ebd.).

Mit den hier vorgelegten Überlegungen können diejenigen noch nicht zufrieden sein, die ein geschlossenes, vor allem aber ein operationalisiertes Konzept "sozialer Nachhaltigkeit" suchen. Die Suche ist notwendig. Es bleibt zu hoffen, dass die hierzu nötige Unterstützung der grundlegenden wie der empirischen Forschung durch Stiftungen, Regierungen und Forschungsinstitute künftig erfolgt.

Literatur

Bakker, Liesbeth/Loske, Reinhard/Scherhorn, Gerhard (1999): Wirtschaft ohne Wachstumsstreben – Chaos oder Chance?, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung

BUND/MISEREOR (Hrsg.) (1996): Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung (Studie des Wuppertal Instituts), Basel u. a.: Birkhäuser

Fischer, Joschka (1998): Für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Eine politische Antwort auf die globale Revolution, Köln: Kiepenheuer & Witsch

Hager, Frithjof/Schenkel, Werner (Hrsg.) (2000): Schrumpfungen. Chancen für ein anderes Wachstum. Ein Diskurs der Natur- und Sozialwissenschaften, Berlin u. a.: Springer

Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg.) (2000): Verbundprojekt Arbeit und Ökologie. Abschlussbericht, Düsseldorf: Der Setzkasten

Leipert, Christian/Opielka, Michael (1998): Erziehungsgehalt 2000. Ein Weg zur Aufwertung der Erziehungsarbeit, Bonn: Institut für Sozialökologie

Mau, Steffen (1997): Ungleichheits- und Gerechtigkeitsorientierungen in modernen Wohlfahrtsstaaten. Ein Vergleich der Länder Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, FS III 97-401, Berlin: Wissenschaftszentrum

Offe, Claus (1992): A Non-Productivist Design for Social Policies, in: Parijs, Philippe van (ed.), Arguing for Basic Income. Ethical Foundations for a Radical Reform, London/New York: Verso, S. 61-78

Opielka, Michael (Hrsg.) (1985): Die ökosoziale Frage. Entwürfe zum Sozialstaat, Frankfurt/Fischer

ders. (1985a): Sozialreform ohne Wirtschaftswachstum. Das garantierte Grundeinkommen und die Umverteilung der Arbeit, in: Leibfried, Stefan/Müller, Rainer (Red.), Sozialpolitische Bilanz, Bremen: Universität Bremen, S. 127-161

ders. (1999): Endbericht zum Teilgutachten "Hintergrund der Diskussion um ein Grundeinkommen" (im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Republik Österreich), Bonn: ISÖ 1999

Petschow, Ulrich/Hübner, Kurt/Dröge, Susanne/Meyerhoff, Jürgen (1998): Nachhaltigkeit und Globalisierung. Herausforderungen und Handlungsansätze, Berlin u. a.: Springer

Pioch, Roswitha (2000): Soziale Gerechtigkeit in der Politik. Orientierungen von Politikern in Deutschland und den Niederlanden, Frankfurt/New York: Campus

Weizsäcker, Ernst Ulrich von/Lovins, Amory B./Lovins, L. Hunter (1996): Faktor vier. Doppelter Wohlstand – halbierter Naturverbrauch. Der neue Bericht an den Club of Rome, Frankfurt/Wien: Büchergilde Gutenberg

1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag am Wuppertal Institut am 5. September 2000.

2 Der Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin, der Soziologe Friedhelm Neidhardt, hat das so formuliert: "Auch mit dem Nachhaltigkeitsbegriff kann die Sozialwissenschaft nicht mehr umgehen, als ginge es nur um akademische Angelegenheiten. Er ist ein politisch gewordener Begriff, und man würde sich selber vom öffentlichen Diskurs isolieren, wollte man ihm den ganzen Überschuss an Bedeutungen nehmen, der ihn politisch so attraktiv macht." (F. Neidhardt, Querschnittsgruppe "Arbeit und Ökologie", in: WZB-Mitteilungen, 89, September 2000.)

3 Erfreulich ist an dieser kollektiven Forschungsaktion vor allem der Versuch, die noch vor zehn Jahren abstinente, wenn nicht ignorante Haltung der institutionalisierten Sozial(politik)wissenschaften gegenüber ökologischen Fragen zu überwinden.

4 Erste Schritte bildet beispielsweise die Mitte der Neunzigerjahre erfolgte Etablierung eines Research Committee (RC 24) "Environment and Society" der International Sociological Association.

5 Damit soll nicht ausgesagt werden, die anderen Kriterien seien wissenschaftlich oder politisch unwesentlich oder gar "falsch". Ich vermute zunächst nur, dass die Komplexität "sozialer Nachhaltigkeit" in dieser und anderen Studien kaum wirklich erfasst wurde. Das wird von den Autoren der Studie auch so gesehen. So bemerken sie in den "WZB-Mitteilungen" (September 2000), "dass über die Bedeutung und Funktion der ‚sozialen Säule‘ weitgehend Unklarheit besteht" und weiter: "Ihr Schattendasein in der Nachhaltigkeitsdiskussion wird ebenfalls in der wissenschaftlichen Literatur deutlich, wo sie selten gleichwertig zu den ökologischen und ökonomischen Fragen bearbeitet wird" (S. 24).

6 Dagegen könnte eingewendet werden, dass das Grundeinkommen in der technischen Form einer negativen Einkommenssteuer eine originär subsidiäre Leistung insoweit bildet, als die staatliche Einkommensgarantie "primäre" Einkommen (Erwerb, Unterhalt) nur ergänzt. Die Tatsache jedoch, dass auf die "negative" Steuer – die Transferleistung des Grundeinkommens – ein originärer Anspruch besteht, weist auf den "primären" Charakter dieser Versorgungsleistung hin.

7 Der Begriff "Garantismus" – als Differenzbegriff zu den klassischen sozialpolitischen Steuerungsprinzipien "Sozialversicherung", "Fürsorge" und "Versorgung" – wurde erstmals von Claus Offe in die sozialpolitische Diskussion eingeführt (Claus Offe, Akzeptanz und Legitimität strategischer Optionen in der Sozialpolitik; in: Sachße/Engelhardt/Tristram (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfur 1990).

8 Das hier verwendete kritische Konzept von "Produktivismus" bezieht sich auf ein verkürztes ökonomisches Produktivitätsverständnis. Jüngere Überlegungen von einer einseitigen Fixierung auf "Arbeitsproduktivität" hin zu einer umfassenden "Ressourcenproduktivität" dürften für die hier skizzierte nachhaltige Wende der Sozialpolitik von hoher Bedeutung sein.

9 Es mag auch kein Zufall sein, dass in der mit diesem "triangulären" Drei-Säulen-Modell arbeitenden, schon erwähnten Studie "Arbeit und Ökologie" angesichts der "anspruchs- und voraussetzungsvollsten Gestaltungsidee für nationale Gesellschaften und die Weltgesellschaft" (Hans-Böckler-Stiftung 2000, S. 585) eine verständliche Zusammenfassung der Ergebnisse nicht zu finden ist – auch wenn der bescheidene Hinweis auf den "Prozesscharakter" (ebd.) des Unterfangens sympathisch wirkt.

10 Am Beispiel des Umweltordnungsrechts hat Christoph Engel herausgearbeitet, dass die spezifisch deutsche Rechtstradition keineswegs leistungsschwach ist: das Ordnungsrecht wirkt erheblich prozessualer und kommunikativer als manche politikwissenschaftliche Kritik annimmt, beispielsweise was die Sicherung eines "ökologischen Existenzminimums" betrifft – zumal sich die Steuerungswirkung des Rechts nicht auf seine Positivität reduzieren lässt. Die Suche nach einer nachhaltigen Konzeption von Sozialpolitik könnte daran unter anderem lernen, was klare Rechtsregeln für die Sicherung von Gemeinschaftsgütern (common goods) bedeuten.

 

 

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Ausgabe November 2000 (18. Jg., Heft 11/2000)