Politikum Zivilisation

Weltkampf gegen den Terrorismus?

Helmut Fleischer (1)

Schrecken zu verbreiten ist Akt eines Herrschaftswillens, hinter dessen "Gegen" auch ein "Für" steht, ein "Worum-willen", das es herauszufinden gilt. Unser Autor möchte nicht auf das Rätselraten um die vermeintlichen ideellen Ursprünge des terroristischen Aktivismus in der Religion des Islam oder auch nur in den Randzonen eines "islamistischen Fundamentalismus" eingehen. Ganz generell findet er es ergiebiger, das vielfältige politische Innenleben von Religionen zu erkunden, statt umgekehrt ein religiöses Innenleben von Politiken als das Maß- und Richtunggebende dingfest machen zu wollen. Es soll im Folgenden darum zu tun sein, eine betont gesellschaftsgeschichtliche Sicht auf Guerilla-Aktivismen im nahöstlichen Verbreitungsgebiet des Islam zu gewinnen.

Zur geschichtlichen Ortsbestimmung der Gegenwart

In was für einer Art von Geschichte bewegen wir uns nach dem "Kalten Krieg", der beiderseits als ein "Kampf um die bessere Welt" gedeutet wurde, um die bessere und menschlichere Gesellschaftsordnung? Wir erinnern uns gerade noch, wie damals die ideologische Front mit ihren Sprachregelungen verlief, bis sich der "Sozialismus" so unspektakulär verabschiedete und Voreilige mit dem Sieg des Kapitalismus auch den Kampf um die Gesellschaftsordnung für entschieden erklärten. Doch "der Kapitalismus" und "der Sozialismus" – das waren Fetischbegriffe eines verspannten Epochenbewusstseins. Kapitalismus ist das Pseudonym für Gesellschaften, in denen – als Gesellschaften der "Großen Industrie" – kapitalistische Produktionsweise vorherrscht, aber keine Systemtotalität ist. Das Sozialistische macht sich ebenso wenig als Systemtotalität, sondern als eine arbeitsgesellschaftliche Korrektivpotenz geltend, bis jetzt mehr im Verteilungskampf als in der (defizitär gebliebenen) Selbststeuerung sozialökonomischer Prozesse.

Wenn somit die "moderne Gesellschaft" nicht ohne ihre kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren ist, dann erst recht nicht ohne das Potenzial ihrer zivilisatorischen Produktivkraft. Mit ihrem Fundus von lebendiger und vergegenständlicht akkumulierter Produktivkraft bewegt sich jede Gesellschaft auf einer bestimmten Stufe der Zivilisation. Statt vom "Kapitalismus" wäre also von den Gesellschaften der kapitalistischen Industriezivilisation zu sprechen.

Schon zu Hegels Zeit begannen aufgeweckte Köpfe über die epochale Wichtigkeit der "industriellen Revolution" nachzudenken und, trotz Napoleon und die über ihn triumphierende Heilige Allianz, die Gesellschaft als den Akteur ihrer Geschichte in den Blick zu nehmen. Besonders arrivierte Köpfe waren im Vorfeld der gesellschaftlichen Bewegung von 1848 bereits so weit gekommen, das Konzept einer komplex-synthetischen Gesellschaftsgeschichte zu umreißen, das sich organisch mit einem Rahmenbegriff der Zivilisation verband. Danach aber schien die Weltgeschichte in ihren alten Bahnen weiterzulaufen, von einem Konzert der "großen Mächte" dominiert. Die neue "englische" Geschichtslinie, auf der dann (1857-61) – in einer naturalistisch reduzierten Fasson) – Henry Thomas Buckle eine History of Civilization in England nachgezeichnet hat, konnten die Zeitgenossen als eine bloße Marginalie empfinden. Im Bannkreis der großen Mächte kam Europa auf die Bahn eines virulenten modernen Imperialismus, der im dreißigjährigen Weltkrieg des 20. Jahrhunderts kulminierte.

Wie weit, so lautet unsere Eingangsfrage daraufhin, sind wir nach gut einem halben Jahrhundert über diese Schreckenszeit hinausgekommen, nachdem auch noch deren Nachgeschichte im "Kalten Krieg" zwischen den Nachfolgemächten des alten Euro-Imperialismus zu durchlaufen war? Der Weltkrieg war nicht nur eine grandiose Katastrophen-Aussaat, von deren terroristischen Exzessen noch die Rede sein wird. Er brachte auch viel Irritation und Verwirrung in das Geschichts- und Gesellschaftsdenken der Zeitgenossen. Unmittelbar bestätigte er nicht nur den Mythos von den "großen Mächten", mit seinen terroristischen Ausläufern generierte er neue Ideologisierungen der gesellschaftlichen Koordinaten: in der Sowjetrevolution eine universalistische Ideologisierung ihrer regionalen Partikularität, in den Faschismen eine national-partikularistische Ideologisierung ihrer allgemeingesellschaftichen Charaktere. Beide zusammen wiederum erfuhren seitens der äußerst irritierenden Dritten, die sich zu einem "Kreuzzug für die Freiheit" herausgefordert sahen, eine sie übergreifende Wahrnehmung als Formation eines modernen "Totalitarismus".

Man taufte das ganze Zeitalter kurz als das der Ideologien (oder weiter ausbuchstabiert des "Weltbürgerkriegs der Ideologien"). Weil die Geschichte der Ideologisierungen noch längst nicht zu Ende ist, wäre jetzt eigentlich eine Zwischenüberlegung zu dem noch immer strittigen Begriff von "Ideologie" fällig. Wenn ich von Arten der Ideologisierung von Geschichtlichem spreche und im Ideologischen den Widersacher einer historischen Sicht auf die Geschichte sehe, so zielt das nicht darauf, dass in dieser Geschichte eine "Ideologie" zur Herrschaft gekommen wäre. Ideologien herrschen nicht, sondern Herrschaften ideologisieren sich auf verschiedenerlei Weise. Das verweist auf einen bestimmten Denkform-Charakter ihres Selbstverständnisses, nämlich (wie es der Ausdruck ja anzeigt) dass sie ihre Geschichten und Geschäfte mit hoch-abstraktiven Ideentiteln deklarieren, also redselig darüber tönen, statt redlich und ausführlich Rechenschaft über ihr Tun zu geben. Genau das ist im heutigen Weltkampf gegen den internationalen Terrorismus wieder höchst aktuell geworden. Neue Welträtsel treiben neue Ideologisierungen hervor, Kanalisierungen des Wahrnehmens durch Einblenden und Ausblenden: Ideative Überhöhungen der eigenen Sache, plakative Reduktionen der fremden.

Zivilisation als Maßeinheit der historischen Wahrnehmung

Was könnte über die alten und neuen Ideologisierungen hinausführen? Noch im Ausgang der Weltkriegsepoche hat Arnold Toynbee – vorwiegend in der historischen Retrospektive, aber auch für die Gegenwart und prospektiv – die Frage nach der angemessenen, wirklichkeitsgerechten unit of historical study gestellt und enzyklopädisch abgehandelt. Die Zivilisation ist es, die sich als eine Pluralität von geschichtlich aufgetretenen, größtenteils untergegangenen Zivilisationen darstellt: Die Zivilisation ist diese synthetisch-komplexe "Maßeinheit" aus zivilisatorischer Ausstattung, Vergesellschaftung, Dynamik und Mentalität. Für die Wahrnehmung der Gegenwart nach dem Zweiten Weltkrieg schien diese Perspektivierung allerdings nicht viel für sich zu haben, war diese Wahrnehmung doch ganz durch den (gegensätzlich wahrgenommenen) Gegensatz der Gesellschaftsordnungen dominiert: Hier Sozialismus versus Kapitalismus, dort freie Welt versus Totalitarismus.

Erst mit dem Abklingen des Kalten (und dabei ideologisch überhitzten) Krieges gewann eine Sichtweise an Raum, welche die Pluralität der Sozialformationen von anders verlaufenden Einheiten und Grenzziehungen der Zivilisationen überlagert sieht und es unter anderem erlaubt, die moderne Industriezivilisation als etwas ebenso Verbindendes wie Unterscheidendes zu sehen. Selbst in der Gedankenwelt des niedergehenden Sowjetsozialismus wurde gegenüber der "Formationsperspektive" die "Zivilisationsperspektive" wieder zur Leitlinie der geschichtlichen Selbstverortung – bis zuletzt Michail Gorbatschow die "Unsterblichkeit der menschlichen Zivilisation" beschwor.

Die Luftpiratenangriffe vom 11. September, so hieß es, seien ein Angriff auf die menschliche Zivilisation und auf die zivilisierte Menschheit gewesen. Wer steht hier gegen wen und gegen was? Wie ist hier die moderne Zivilisation involviert? Wenn wir davon einen Begriff gewinnen wollen, werden wir zweifellos das Wort Zivilisation einzusetzen haben, jedoch nicht um daraus eine appellative Parole zu machen. Das kann leicht passieren, wenn man von Samuel Huntingtons 1996 erschienenem Buch lediglich den Titel The Clash of Civilizations aufnimmt und sich auch noch an dessen ungenaue deutsche Übersetzung "Kampf der Kulturen" hält. Gerd Held hat (im Oktoberheft) vorgeführt, welche Verwirrung deutsche Geistmenschen 1914 mit der Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation angerichtet haben. Ihre Gleichsetzung, zumal wenn die Zivilisation nur als eine Fußnote der Kultur erscheint, macht die Sache nicht besser. Huntington hat einige alte Konfusionen reaktiviert, indem er zwar auf gewichtige Indikatoren des "zivilisatorischen Prozesses" (den Kampf um das Erdöl im Golfkrieg und die Bevölkerungsexplosion) zu sprechen kommt, aber gleichwohl der gängigen Anschauung stattgibt, das Entscheidende in einer Kultur/Zivilisation sei letztlich die Religion.

Als Zivilisation verzeichnet die Lexikographie vor dem Hintergrund frühgeschichtlicher Daseinsweisen von "Wildheit" und "Barbarei" den Aggregatzustand von Menschengesellschaften, die über einen Kernbestand von Siedlungsräumen und stellenweise zu Städten verdichteten Ansiedlungen mit einer Population von "Bürgern" (cives) verfügen, die nicht mehr ständig und in ihrer Gesamtheit das Dasein von Kriegern führen; also Gesellschaften mit einem Kernbestand von Angehörigen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich aus eigener Arbeit gewinnen und die wenigstens für ihren Binnenraum eine Ordnung des befriedeten Zusammenlebens und Zusammenwirkens begründet haben.

Mit dem Titel "Zivilisation" ist eine synthetische Einheit bezeichnet, in der alle Allgemein- und Sonderfunktionen menschlichen Lebens vereinigt sind, Arbeit, Vergesellschaftung und Gesittung, Politik und Recht, Naturgebundenheit und Geistigkeit. Zivilisationen sind zugleich Kulturen, kardinal Kultivierungsweisen des Sozialen. Nur in der ideologischen Konstruktion kann man entweder einen Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation oder eine Dominanz der einen über die andere statuieren. Der von Norbert Elias geschilderte gesellschaftliche "Prozeß der Zivilisation" (als Zivilisierung) und der "zivilisatorische Prozeß" (Darcy Ribeiro, dt. Frankfurt 1974) aus gegenständlich-tätigen Leistungen und ihren Objektivationen sind ein komplementär-korrespondierender Verbund. Die komplex-synthetische Einheit (unit of perception) der "Zivilisation(en)" als das organisierende Zentrum anzusetzen ist eine Gegeninstanz zu den diversen analytisch-abstraktiven Separatismen im Gesellschafts- und Geschichtsdenken: Die ideo-kulturalistischen, politologistischen, ökonomistischen, ahistorischen und anderen Reduktionismen der Situations- und Prozesswahrnehmung verfehlen diese vital-organische Einheit.

Blick zurück auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts

Nach dem Geschichtswunder eines Halbjahrhunderts von europäischem Nachkriegsfrieden kann, wenngleich auch in dieser Zeitspanne die Welt weiterhin voller Morden und Schrecken gewesen ist, ein Gewaltakt vom Format einer Kriegshandlung im Zentrum der ersten Weltmacht die Bewusstseinslage tief greifend verändern. Er muss jedoch keine neue Weltlage signalisieren, auch nicht ganz und gar neue Erkenntniskategorien erfordern und eine Hochkonjunktur der Islamkunde befeuern. Sowohl die Konfliktproblematik, an der sich der höchst potenzierte Aktivismus der Täter entzündet hat, als auch eine Typik seiner Aktivierung sind, wenn man die gesellschafts- und zivilisationsgeschichtlichen Koordinaten bedenkt, auch als eine Nachsendung des 20. an das 21. Jahrhunderts zu begreifen. Es kann auch eine Verbindung von der Art einer "Zeitbrücke" zwischen zeitverschobenen Geschichtsräumen sein, von denen der eine etwas aus der Geschichte des anderen nachholt. Einen älteren Ausspruch umkehrend könnte man sagen: Mit solchen Charakterzügen erinnert ein industriell zurückgebliebenes Land das fortgeschrittene an das Bild seiner eigenen Vergangenheit. Wenn heute "der Terrorismus" als der Weltfeind anvisiert wird, könnten Europäer sich daran erinnern, wie die dreißigjährige Weltkriegsepoche des 20. Jahrhunderts eine der großen Schreckenszeiten des verflossenen Jahrtausends gewesen ist. Es ist noch immer eine in ihrer Tiefenschicht nicht einhellig beantwortete Frage an unser Geschichtsbewusstsein, was da in die kontinentalen Führungsnationen des industrialisierten Europa gefahren ist, als sie sich 1914 in das Feuer eines vierjährigen Weltkriegs stürzten und ihn in einer Weise beendeten, dass es zwei Jahrzehnte danach erneut und noch unvergleichlich wilder aufloderte. In diesen Tagen ist namentlich daran zu erinnern, wie der Weltkrieg des 20. Jahrhundert in seinen beiden Etappen einen seit dem Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhundert nicht mehr gekannten Massenterrorismus hervortrieb, dessen Anfang schon die Schrecken der ersten Kriegsrunde von 1914-18 waren. Der Weltkrieg mit seinen terroristischen Ausläufern war kein dynastischer Krieg der älteren Art, sondern in bestürzendem Umfang ein Krieg der Nationen, und je länger desto mehr ein Volkskrieg, der seine Energie aus einem breit gelagerten "Volksimperialismus" gewann.

Die russische Sozialrevolution von 1917 brach in einer Weise aus dem Krieg aus, dass sie selbst zu einer Fortsetzung des Krieges mit ähnlichen Mitteln geriet und das Staatswesen einer revolutionären Diktatur installierte, deren "Roter Terror" zum vollendeten System gedieh. Die Sozialrevolution erhielt einen nationalrevolutionär-imperialen Widerpart zuerst in Italien und 1933 in Deutschland in Gestalt von terroristischen Staatsregimes, welche die Wiederaufnahme des 1918 abgebrochenen Krieges betrieben und in diesem Krieg die terroristische Gewalt ins Unermessliche steigerten. In einer ungeheuren Massierung und unermesslich vergrößert sind Prototypen für alles Nachfolgende in Erscheinung getreten. Der Schlussakt der Weltkriegsepoche, der Abwurf von zwei Atombomben auf japanische Großstädte, bleibt auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 noch immer das unübertroffene Maximum an modernem Kriegsschrecken.

Sozial-zivilisatorische Mobilisationsdynamismen und ihre Anomalien

Die Weltkriegsepoche war ein Lehrstück über die Verspannungen und Brüche der modernen Industriezivilisation im Prozess ihrer weltweiten Ausbreitung. Das besondere Lehrstück, das uns Sowjetkommunisten und Nationalsozialisten in ihrem "Kampf um die Zivilisation" vermittelt haben, dürfte sich als ein Präludium zu einigen Erfahrungen erweisen, die wir mit der weiter gehenden Ausbreitung der modernen Zivilisation in verschiedenen "Schwellenländern" erleben.

Aus was für einer Energiequelle kam der Impetus bei den Angreifern, insbesondere auf der deutschen Seite? Aus keiner anderen, als sie auch in der Imperialität der Besitzstandswahrer im Westen lebendig war. Ein deutscher Politiker sprach allegorisch vom Ringen um einen "Platz an der Sonne", wofür damals in dem kühl-unbeständigen Deutschland noch die sonnenreichen Kolonialgebiete standen, über welche die Engländer und Franzosen so reichlich verfügten. Ein Kampf zwischen den Zivilisationen ist es nicht gewesen, aber sehr wohl ein Kampf um die Zivilisation, um die Quellen des höheren zivilisatorischen Reichtums. In Hitlers Krieg standen dafür die riesenhaften Ländereien Russlands mit ihren Bodenschätzen, möglichst ohne die dort lebenden Menschen, deren Dezimierung unter dem Besatzungsregime in aller Brutalität begann.

Nun unterscheiden sich die Menschen nicht nur nach ihrer Nationalität, und innerhalb dieser nach ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, sondern auch nach einem Spektrum des Typus und Tonus des Agierens, Reagierens und Kommunizierens im sozialen Feld. So treten in den Nationen bei internen und externen Interessendivergenzen nicht alle gleichermaßen mit dem ehernen Willen zu offensiver "Selbstbehauptung" und der Unterwerfung von Widerstrebenden an. Die in höherem und höchsten Grade "Entschiedenen" bilden eine "Nation in der Nation", die Ambitionierte aktivieren, Schwankende mitreißen, nötigen und einschüchtern kann (wie man das an den Hitlerdeutschen sehen konnte). Und ein weiteres: Sichtlich kann es in modernen Zivilisationsgesellschaften selbst in Phasen einer beachtlichen Steigerung ihrer produktiven Leistungskraft in bestimmten Gesellschaftsteilen (und durch sie vermittelt zwischen ganzen Nationen und Staatengruppen) zu einer überproportionalen bis exzessiven Steigerung von Ansprüchen auf ein komfortables und ansehnliches Leben kommen. Maß nehmend an herrschenden Machtträgern werden nachgeordnete Schichten zu Aktivisten eines imperialen Ausgreifens. So war die Weltkriegsepoche des 20. Jahrhunderts eine hochimpulsive soziale Groß- und Übermobilisation, die in ihrem "Glutkern" kein Kampf um überweltliche Sinnräume, sondern um höhere weltlich-irdische und gesellschaftliche Lebensmöglichkeiten im Großraum machtvoller Staatsnationen gewesen ist.

Die national- und sozialrevolutionären Ausläufer der ersten Weltkriegsphase sind offenkundig in eine Dynamik sozialer Mobilisationen eingelagert, die an Engpässe des zivilisatorischen Prozesses geraten sind und dabei ihren Impetus gesteigert bis übersteigert haben. Die Sozialrevolution in Russland, das aus einem kräftigen zivilisatorischen Aufbruch in den Feuersturm des Weltkriegs stürzte, wurde für das Jahrhundert – und wohl auch noch für das nachfolgende – in besonderer Weise zu einem Lehrstück. An ihm lässt sich studieren, wie ambivalent der Verbund des zivilisatorischen Prozesses mit den in ihn eingelagerten sozialen Mobilisationen sein kann.

Eine sozial-zivilisatorische Entwicklungsrevolution, wie es das Bürgerlich-Werden der europäisch-neuzeitlichen Gesellschaft gewesen ist, lebt aus einer Potenzierung von Gesellschaftsteilen, die Träger einer höheren zivilisatorischen Produktivkraft, einer höheren Stufe personaler "Selbstbetätigung" und zugleich kooperativen Integration sind. Es war die marxsche "Illusion der Epoche", dass die modern-bürgerliche Gesellschaft wegen ihrer kapitalistischen Produktionsweise bereits zur Fessel der produktiven Kräfte geworden sei und von einer neuerlichen Umwälzung der nämlichen Art abgelöst werde. Heraufgekommen ist stattdessen ein neues imperial-kriegerisches Zeitalter der kapitalistischen Industriezivilisation, durch das hindurch einige begünstigte Länder ihren leidlichen Stand der sozialen Integration bewahren konnten, einige jedoch nicht.

Die Kriegsrevolution von 1917 war als politische Umverteilungsrevolution erklärtermaßen ein außergewöhnlicher Vorgang in einer recht desperaten Lage von größter Drangsal und unter einem Andrang rebellischer Gesellschaftsteile verschiedenster Art, die ein strategisch agierendes Zentrum für einen kurzen geschichtlichen Augenblick zur Eroberung der Staatsmacht mobilisieren konnte. Auf einem Endpunkt der Ernüchterung sprach der erste Revolutionsführer aus, welchen tieferen situativen und finalen Sinn diese Conquista letztlich gehabt hat: "Wie aber, wenn Russland durch die Eigentümlichkeit der Situation in den Weltkrieg gestellt wurde ... Wie aber, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage ... uns die Möglichkeit eröffnete, auf einem anderen Weg daranzugehen, die grundlegenden Voraussetzungen für die Entwicklung der Zivilisation zu schaffen, als in den übrigen westeuropäischen Staaten." Lenin gibt damit zu erkennen, dass er sehr um die Wichtigkeit zivilisatorischer Voraussetzungen wusste, er gibt sich jedoch nicht davon Rechenschaft, was an seinem Regiment bei dessen allseitigem Mangel an Zivilisiertheit ein nicht mehr gutzumachendes Verhängnis gewesen ist. Durch keinerlei neue Wendung der Dinge konnte die Sowjetrevolution auf die Bahn einer sozial-zivilisatorischen Entwicklungsrevolution kommen, wie ihre fernen westeuropäischen Vorläufer es im Sinn hatten. Sogar die vorhandenen Bildungselemente zivilisatorischer Entwicklung hat sie im Strudel einer unproduktiven Umverteilungs-Revolution großenteils zerstört und damit sich selbst zur geschichtlichen Inferiorität verdammt.

Ein Lehrstück ist die Sowjetrevolution auf der theoretischen Ebene für eine Analytik von Sozialmobilisationen in den Grenzzonen und an der Peripherie des modernen Imperialismus. Wo die zivilisatorische Mobilisation zurückhängt oder an eine interne oder externe Staustufe gerät, wird die politische Mobilisation überschießend und in der gesellschaftlichen Gesamtbewegung dominant. Etwas von dieser Art zeigte sich schon im Vorfeld der Sowjetrevolution. Der zivilisatorische und kulturelle Aufschwung des "Silbernen Zeitalters" war alsbald weit überflügelt vom politisch-revolutionären Aufbruch unzufriedener bäuerlich-proletarischer Massen und städtisch-jugendlicher Aufsteiger-Aktivismen. Das ließ die Revolution in monomanischer Fixierung auf die Eroberung der Staatsmacht zu einer politokratischen Revolution werden, zu einer sozialrebellischen Conquista, die auf keiner neuen revolutionären Produktivkraft beruhte. Von Anfang an nicht imstande, sich 1918-23 zu einer Westrevolution auszuweiten, wurde die Sowjetrevolution zum Prototyp der "Revolutionen des Ostens", denen Lenin 1913 so erwartungsvoll entgegengesehen hatte.

Die "Revolutionen des Ostens"

Nachdem die Leninsche "Weltrevolution" zwischen 1918 und 1923 definitiv nicht in einer Westrevolution ein neues und mächtigeres Zentrum erhalten hatte, richteten sich die revolutionären Projektionen auf die Welt des kolonialen und halbkolonialen Ostens, besondere auf die in Gang befindliche chinesische Revolution, aber auch auf eine Revolutionierung der islamischen Länder. Als eine 1921 gegründete "Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens" ihr dreijähriges Bestehen feierte, warf der Festredner auch einen Blick auf Afghanistan: "In Afghanistan spielen sich jetzt dramatische Ereignisse ab." Ausgerechnet die britische Labour-Regierung unter J. R. MacDonald habe "den linken national-bürgerlichen Flügel, der das unabhängige Afghanistan europäisch gestalten will", zu Fall gebracht und bemühe sich, "dort die dunkelsten und reaktionärsten Elemente wieder zur Macht zu bringen, die von den ärgsten Vorurteilen des Panislamismus, Kalifats usw. durchdrungen" seien. "Nehmt diese beiden Kräfte bei ihrem lebhaften Zusammenstoße, und es wird sofort klar, warum der Osten immer mehr sich zu uns, zur Sowjetunion und zur Dritten Internationale, hingezogen fühlen wird." – Es verging danach ein Vierteljahrhundert, bis die chinesische Revolution ihren großen Durchbruch erzielte. Doch im islamischen Orient sind nur wenige von den kommunistisch-politokratischen Revolutionskeimen aufgegangen und zu spärlichem Wuchs gediehen (wie die Tudeh-Partei im Iran und die afghanischen Protegées von Breschnew).

Die politische Revolutionierung von Völkern des Nahen Ostens erfolgte größtenteils in anderen Sozialkoalitionen von nationalrevolutionärer und antikommunistischer Observanz. Doch zur eigentlichen Weltrevolution, an der die Region einen gewichtigen Anteil hatte, wurde die zivilisatorische Revolution des Erdöl-Zeitalters. Von ihr gehen die Kraftströme der Staaten- und Gesellschaftspolitik in der "islamischen Welt" aus, nicht von den geistlichen Inspirationen eines vielfach fraktionierten "Islam". So, wie man das auch vom Christentum und seiner Bibel im Wandel der Geschichte gesagt hat, liegt auch die kommunikative Tauglichkeit des Islam darin, dass seine Lehrschriften wegen ihrer Herkunft aus sehr unterschiedlichen sozialen Konfigurationen so viel Widersprechendes enthalten und zu vielerlei Legitimationsbedarf genutzt werden können. Die "Welt des Islam" erwuchs vom 7. Jahrhundert an aus ihrem arabischen Ursprung in Wellen militärischer Eroberungen in andere semitische, griechische und römische Siedlungs- oder Kolonialräume hinein und erreichte zwischen 1000 und 1300 eine zivilisatorische Höhe, die derjenigen der "christlichen" Residuen des Römischen Reiches in manchen ihrer Leistungen mehr als ebenbürtig war. Sie partizipierte jedoch nicht an der stadtbürgerlichen Revolution, die gegen Ende dieser Zeitspanne von Oberitalien ausging und sich ins nördlichere Europa ausbreitete. Mit der Manufaktur- und Industrierevolution, die hier ihren Siegeszug antrat, geriet der Orient vollends ins "Hintertreffen". Er konservierte die Archaismen und Härten einer herrschaftlichen Sozialkultur (auch im Mikrosozialen der Geschlechter- und Generationenverhältnisse), die im westeuropäischen "Prozeß der Zivilisation" nach und nach aufgebrochen worden sind. Nicht zu übersehen sind die Erniedrigungen und Opfer infolge der ethnischen Fremdherrschaft namentlich in der Zeit des Osmanischen Reiches. Diese Gesellschaftsgeschichte der Region führt näher an die Problematik der gegenwärtigen politisch-zivilisatorischen Anomalien heran.

Das gesellschaftspolitische Spektrum der nahöstlichen Gesellschaften ist nur in den negativen Hinsichten einheitlich, dass es darin keine libertären Verfassungsstaaten gibt, dass die Spanne der sozialen Unterschiede unvergleichlich größer als in den westlichen Industrienationen ist und dass bei der gegebenen mikrosozialen Konstitution das jährliche Bevölkerungswachstum in keinem der islamischen Länder weniger als zwei Prozent beträgt.

Zwischen einer Oberschicht aus Stammesaristokraten oder Staatsursurpatoren und den Armutsmassen der volkreichen Länder (wie Pakistan mit 140 Mill. Einw.) vollzieht sich in den Mittelklassen (bzw. in sie hinein, oder auch hoch über sie hinaus) eine Sozialmobilisation, die sich wie in der russischen Revolution sowohl auf einer zivilisatorischen als auch auf einer politokratisch-aktivistischen Bahn ergeht – nach der Faustregel: Je niedriger die zivilisatorische Potenz, desto massiver gerät das politokratische Aufgebot. In hinreichend zivilisierten Gebieten wird das politokratische Medium marginal, in zivilisatorisch hoch-aktiven ist es rückläufig, in stagnierenden, gehemmten oder zerrütteten ist es dominant, und es bleibt dominant, wenn ein politischer Regimewechsel nicht von bedeutenden Kräften zivilisatorischer Aktivierung mitgetragen wird. Wo die zivilisatorische Potenz nicht auf ein breites arbeitsgesellschaftliches Fundament, sondern vorwiegend oder ausschließlich auf die Verfügung über monopolisierte Rohstoffvorkommen gegründet ist, sind diese das Fundament einer traditionalen oder usurpatorischen Politokratie.

Wie durch einen scharfen Messerschnitt wurde die "Welt des Islam" durch das Naturschicksal der Erdölvorkommen geteilt, auf die sich sogleich auch die westlichen Imperialmächte gestürzt hatten, um damit den Aufstieg ihrer eigenen Zivilisation zu alimentieren. Ein Spannungsverhältnis, das durch die Erschöpflichkeit dieser Ressource noch verschärft wird, besteht in dem magischen Dreieck aus monopolitischen Dynasten oder Usurpatoren, den ausländischen Oligopolisten und den Volksmassen der Region. S. Huntington sagt vom Golfkrieg: "Es ging darum, ob der Großteil der größten Erdölreserven der Welt kontrolliert würde von der saudi-arabischen und von Emiratsregierungen, deren Sicherheit von der westlichen Militärmacht abhing, oder von unabhängigen antiwestlichen Regimen, die imstande und wohl auch gewillt waren, die Ölwaffe gegen den Westen einzusetzen."

Das Musterland westlicher Zivilisation im Nahen Osten, der 1948 in einem Akt der Gegen-Reconquista neu gegründete Staat Israel, gehört in seiner Selbstzentrierung und in seinen inimicalen Nachbarschaftsverhältnissen mehr zu den Hypothekenlasten als zu den Aktiva des zivilisatorischen Prozesses in der Großregion. In seiner inneren Konstitution hat das politokratisch-militaroide Element mehr und mehr Raum gegenüber dem zivilgesellschaftlichen gewonnen. So ist das Land innerhalb der Großregion eher das Gegenteil von einer Missionszentrale der säkularen westlichen Zivilisation.

Weltkampf gegen den internationalen Terrorismus?

Ist die Sache einmal in ihren sozial-zivilisationsdynamischen Koordinaten erfasst, so stellt sich das Syndrom des "islamischem Fundamentalismus" und seiner terroristischen Ausläufer als eine der ideologisierenden Chiffren für Anomalien sozial-zivilisatorischer Mobilisationen dar. Die aktuelle Kampfszene versteht sich selbst als einen Krieg, und man muss ihr hierin nicht dogmatisch widersprechen, indem man sie in eine Rubrik der Gewaltkriminalität verweist. Wäre sie das, so wäre ihr mit polizeilichen Mitteln (und allenfalls militärisch-logistischer Assistenz) zu begegnen. Mit dem Wort Krieg ist nicht nur die Verschärfung einer Konfliktlage angezeigt, sondern nach unseren eigenen sozialkulturellen Maßgaben auch eine Eingrenzung der zulässigen Modalitäten von Kriegsgegnerschaft und Wahl der Mittel. Ein Krieg hat danach nicht die Ausrottung eines Feindes zum Ziel, sondern soll einen Gegner kampfunfähig machen und unter die Friedensbedingungen des obsiegenden Teils zwingen.

Dass es um einen Kampf zur Überwindung des "internationalen Terrorismus" zu tun sei, wie es die jetzige internationale Sprachregelung geworden ist, enthält eine mehrfache semantisch-gewaltsame Verschiebung der Kategorien. Wo immer ein Kampf stattfindet, muss es auf beiden Seiten möglich sein, die Kontrahenten in personalen und kollektivpersonalen Termini zu benennen. Auf der einen Seite bedeutet es eine ungute Fetischisierung, wenn man die vital-wesentlichen Belange der loyalen Bürger der USA und der assoziierten Nationen mit einem Sachverzeichnistitel wie "westliche Zivilisation" oder mit strukturalen Titeln wie "offene Gesellschaft" deklariert; oder mit ideativen Werttiteln wie "Verteidigung der Freiheit" gegen die "Feinde der Freiheit", die in der Sprache der Moralmetaphysik als Repräsentanten des radikal Bösen zu identifizieren sind. Eine anthropologische Sprache ist immer deutlicher als eine axiologische. Als die Widersacher sind die "Terroristen" wohl noch als Personen (allerdings in einer Außenperspektive von Betroffenen) benannt, meistens jedoch apersonal mit der abstrakten Essenz "Terrorismus", die von dem Schrecken abgeleitet ist, den sie unter ihren Opfern verbreiten. Als Benennung ihres "Kriegsziels" ist dies jedoch eine irreführende Verkürzung, weil es sich so mit archaischen Feindschaften assoziiert, nicht mit modernen Kriegsgegnerschaften.

Zu einer Gegnerschaftskultur gehört es, dass man auch in den inneren Handlungsraum des Gegners einzudringen sucht, um einiges, wenn nicht verstehen, so doch voller begreifen und ermessen zu können. Dazu gehört es, in seinen Aktionen zusammen mit der negativen Bedeutung für mich als seinen Gegner auch eine bestimmte Affirmativität seines eigenen Interesses wahrzunehmen. Wer ihm "Hass" als seine treibende Kraft zuschreibt (wie es jetzt wieder oft geschieht und wie es die eigenen Äußerungen des Widerparts oft genug nahe legen), verkennt, wie sehr dieser Hass nur die Pseudomorphose eines Neides ist. Damit ist abgeschnitten, dass man seine Aktionen möglicherweise auch als Reaktionen auf Misslichkeiten seiner Situation zu bedenken hat.

Eine der kardinalen Misslichkeiten von Partisanen oder Guerillakämpfern ist es, dass sie fast immer gegen eine weit überlegene Macht stehen und aus einem Hinterhalt agieren. Wie die Sphäre der Freibeuter agieren sie in einer fatalen Gegenbildlichkeit zu den Extremismen der herrschenden Macht. Doch nur in Ausnahmefällen sind sie nichts als die "Banditen", zu denen man sie so oft erklärt. Wo sie nicht (wie im klassischen Partisanenkrieg) abgetrennte Außenabteilungen einer kämpfenden Armee sind, agieren sie doch als "exponierte Exponenten" eines sozialen Bezugsfeldes, einer "Kriegspartei". Ihre zu vermutende Anzahl, ihre internationale Vernetzung und das Echo, das sie in Schichten (und Generationsteilen) der nahöstlichen Gesellschaften finden, legen dies nahe. Damit kommt ein beträchtlich erweiterter Motivraum in den Blick, der neue Vorgaben für ihren Antagonisten enthält, auch solche für eine mögliche positive Überwindung des Kriegszustandes.

Diese positive Überwindung ist das eigentliche Telos der Kriegsgegnerschaft in einem Kampf, der zuinnerst der Kampf um die Zivilisation, um die Teilhabe an mehr Zivilisation ist. Dieser Kampf wird allerdings nicht unmittelbar für ein gesellschaftliches Ganzes auf ein Gesamtziel hin geführt, sondern gesellschaftlich partikularisiert. Selbst wo "letzten Endes" auch Gesellschaften in ihrer Gesamtheit "etwas davon haben" – oft weniger, manchmal mehr –, sind die Avantgardisten solcher Kämpfe erst einmal "unmittelbar zu sich selbst". Das war so schon für Lenin und die Seinen, die als politokratische Avantgarde eine "Kommandohöhe" erobert haben, von der aus sie die gesellschaftlichen Massen "organisierten", zu ihren Organen machten, wenn nicht zu ausführenden Organen für sich, dann zu ihren Feinden, deren Bekämpfung sie in ihrem höheren Beruf bestätigte. Nicht anders wird es sich bei den "Freiheitskämpfern" verhalten, die den Kampf um die Zivilisation politokratisch gegen die Herrschaftspositionen der westlichen Zivilisation führen. Man sieht es an Emporkömmlingen der Macht wie dem irakischen Diktator. Nach den Präzedenzfällen des 20. Jahrhunderts versteht es sich, dass die politischen Aktivismen nicht von den "Verdammten dieser Erde" ausgehen, sondern sich von vornherein auf einer höheren oder höchsten Anspruchsstufe bewegen. Die Machtprojektion eines "Hintermannes" der Partisanen-Luftangriffe könnte es sein, auf der Klaviatur von dynastischen Rivalitäten und Volks-Oppositionen die Herrschaft über eine weitere Erdölregion zu erringen und die Energiequelle nicht nur als Waffe, sondern vor allem als Ressource in die Hand zu bekommen.

Ein zu annähernd gleichen Teilen in seinem heimatlichen Athen und in Deutschland wirkender Geschichtsdenker, der leider schon 1998 mit 55 Jahren verstorbene Panajotis Kondylis, veröffentlichte 1992 ein nicht sehr umfangreiches, aber gedankenreiches Buch mit dem Titel Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg (im Akademieverlag Berlin). Es enthält ein Kapitel über die neue Qualität des "warmen" Krieges, und darin heißt es: "Es ist damit zu rechnen, dass Länder, die wegen ihrer allgemeinen Wirtschaftslage keine Hoffnung hegen können, sich die hochmoderne Technologie in ihrer ganzen Breite aneignen können, zumindest die Anschaffung von Waffen anstreben werden, die auch auf Großmächte ihren Abschreckungseffekt nicht verfehlen würden." Auch auf einer technologisch niederen Stufe dürften "terroristische Aktionen und Kommandounternehmungen gerade unter den Umständen einer Übertechnisierung an militärischer Bedeutung gewinnen".

Die Angriffe von Selbstmord-Guerilleros auf Zentren der westlichen Zivilisation könnten also ein Menetekel sein. Wenn man die unmittelbaren Täter als Kriegsgegner in diesem Kampf zu sehen bereit ist, also zusammen nicht nur mit Kompanien von Aktivisten, sondern auch den "Resonanz-Massen", die ihre traditionalen Lebensrahmen verloren haben und in keinen modernen hineingelangen können, verteilt sich der Kampf auf mehrere Ebenen. So wie der Nazismus ab 1939 nur militärisch zu bezwingen war (übrigens mit weniger nächtlichem Terrorismus gegen die Zivilbevölkerung), so werden auch die übermobilisierten Aktivisten der Guerilleros nicht ohne militärisch bestückte Polizeigewalt kampfunfähig zu machen sein. Die Annahme von S. Huntington, sie könnten ein limitiertes Generationsphänomen sein und, von einem wirtschaftlichen Aufschwung befördert, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ausgebrannt sein, dürfte bei der anhaltenden Neurekrutierung allzu tröstlich klingen. Doch wenn der "Terrorismus" (anders als der sektiererische Wahn der RAF) wirklich wie eine Hydra fortwährend neue Köpfe bekommt, verlagert sich die Hauptanstrengung auf die sozial-zivilisatorische Sanierung der kritischen Region. Wir haben dafür ein geschichtliches Beispiel vor Augen: Die gewiss nicht rein uneigennützige, aber doch auf gegenseitigen Nutzen abgestellte und auch human rücksichtsbereite Hilfe, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem darniederliegenden Europa zuteil wurde. Das war die positive Überwindung des Kriegszustandes. Wie wäre es möglich, etwas von dieser Art zur Maxime im "Kampf um die Zivilisation" zu machen?

Aussichten im Kampf um die Zivilisation

Wie weit und wie konkret-anschaulich (statt nur "prinzipiell") können wir wohl über die jetzige "Lage der Menschheit" hinausdenken? Schon im ausgehenden europäischen 18. Jahrhundert war der Gedanke an eine korporativ und kommunikativ auf derselben Ausbildungsstufe vereinigten Menschheit lebendig. Die Wirklichkeit der Menschenwelt hat sich davon aber gerade in der Weltrevolution am Ausgang jenes Jahrhunderts mit der Ära Napoleon noch einmal weit, sehr weit entfernt. Von den Befunden des 20. Jahrhunderts aus einen neuen Erwartungshorizont zu eröffnen ist noch einmal schwieriger geworden als im ausgehenden 18. und um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Eine realistische Prospektion ist kaum noch als Vision oder Postulation eines Zukünftigen möglich, sondern nur als eine Fortschreibung von geschichtlich Gewordenen sub specie von formativen Energien, die darin wirksam sind, und als Vorblick auf mögliche Verschiebungen der Kraftlinien in einem Kräfteverhältnis. Die Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts kann es nahe legen, eine Heuristik auf die Stärke- und Reichweitenverhältnisse von imperial-kompetitiven und zivil-kooperativen Potenzialen der Vergesellschaftung anzusetzen. Dabei wird es nicht um denkbare Maxima zu tun sein, sondern um hinreichende Minima von Ermöglichung und Gewährleistung eines Standes der menschlichen Dinge, bei dem die gesellschaftlichen Evolutionen nicht mehr unvermeidlicherweise in der Art von gewalttätigen Kollisionen und Eruptionen verlaufen. Und man wird nicht mehr der "Illusion der Epoche" erliegen, dass dieses Reich schon nahe herbeigekommen sei.

Ein Erstes ist schon im Methodischen der Problemerfassung, dass man die untergründige Problematik als eine der Zivilisation wahrnimmt, die aus ihrer zivilisatorisch-produktiven Arbeit lebt und durch sie eine zivilisatorische Ausstattung gewinnt, ohne die es auch keine freiheitliche Sozial- und Geisteskultur geben kann. Das factum brutum, das die Lage der heutigen Weltzivilisation bestimmt, ist das enorme zivilisatorische Gefälle zwischen ihren Avantgardisten, denen sich wenige Aufsteiger zugesellt haben, und den Niederungen zivilisatorischer Zurückgebliebenheit verschiedenen Grades. Der Ruf nach mehr Zivilisation kommt heute vor allem von den Nachrücker-Kandidaten; und er setzt sich bei ihnen in die Anforderung um, dass man ihnen die Wege freihält und sie wenigstens nicht behindert. Noch aber zeigt die westliche Zivilisation einigen Ländern das Bild einer Zukunft, die ihnen versperrt zu bleiben droht. Das Bild jener Zivilisation vor Augen kommen sie an ihrer überhohen Schwelle zu Fall.

Es ist längst ausgemacht, dass die wichtigste Hilfe die zur Selbsthilfe ist. Die Nachrücker-Zivilisationen können in der Hauptsache nur das Werk von animierten Arbeitsgesellschaften sein, die nicht wie in der Kolonialzeit wesentlich Zulieferer für Länder der Hochzivilisation sind. Eine integrierte Weltzivilisation entsteht nicht als eine Weltplanwirtschaft, aber der marktwirtschaftliche Absolutismus wird nolens volens einer aufgeklärten Marktwirtschaft weichen müssen. Voraussetzung dafür ist, dass die Kandidaten-Regionen die Bildungselemente autonomer Öffentlichkeiten in Freiheit setzen und die Öffentlichkeiten der Hochzivilisation dafür die Patenschaft übernehmen. Der am meisten kritische Punkt für die halbseitig überaktivierten, halbseitig gelähmten Länder der arabischen Zivilisation ist (wie für die Welt insgesamt) die ungleiche und monopolitische Verfügung über die fatal wichtigen Erdölvorkommen. Sie sind bis jetzt eine Domäne archaischer, modern-industrieller und politokratischer Absolutismen. Der positive Ausgang des Kampfes um die Zivilisation läge darin, dass nicht sie das Gegenlager zur terroristischen Kriegspartei bilden, sondern ein internationales Konsilium der Zivilisationsreform. "Unsere Zivilisation wird sich entweder ändern oder wir gehen an ihr zugrunde", schrieb Eugen Kogon 1984. Es steht noch dahin, mit welchen ihrer Attribute und Maßbestimmungen sie universell werden kann und mit welchen nicht. Sie ist ein Politikum, doch gibt es bis jetzt kein Medium oder auch nur konzeptives Netzwerk einer integralen Zivilisationspolitik.

(1) In der Kommune 2/91 veröffentlichte ich einen Artikel gleichen Titels, als eine prominente Grünen-Politikerin im Rahmen der Golfkriegs-Debatte in der Zeit geschrieben hatte: "Soziologisch gesehen ist die (politische) Generation die letzte verbliebene Heimat – nach der Auflösung der Klassen, Religionen, Kultur- und Sprachregionen". Ich wies dezent darauf hin, um wie viel bedeutsamer auch für diese Generation ihre Eingemeindung in eine üppige Hochzivilisation sein dürfte. Das nahm ich zum Anlass für den Versuch einer etwas weiter ausholenden geschichtlichen Ortsbestimmung.