Grüne Vernunft

Der Blick in die Abgründe des Weltgeschehens als politischer Realitätstest

Martin Altmeyer

Die Wirkungen der Globalisierung und das terroristische Projekt der Glaubenskrieger, beides fordert von den Grünen eine Abkehr von der Jagd auf die Gespenster der Vergangenheit und die Rückkehr in die Arena der politischen Auseinandersetzung.

Die Koalition ist wieder einmal in der Krise, die Opposition frohlockt, der Kanzler droht. Das rot-grüne Bündnis wackelt bedrohlich an der außenpolitischen Front. Streit in Fragen der inneren Sicherheit kommt dazu und die angekündigte Kriegsbeteiligung der Bundeswehr. Möglicherweise haben wir bereits eine neue Regierung, wenn dieses Heft erscheint. Nicht weil die Weltlage so angespannt ist (sie ist es), sondern weil sich die Grünen dieser neuen Lage noch nicht gewachsen zeigen. Ihr Schwanken ist ehrenwert. Sie schwanken schließlich stellvertretend für die Gesellschaft, die nach den Terroranschlägen immer noch um Fassung ringt und nicht weiß, wie auf die terroristische Bedrohung angemessen zu antworten ist. Aber dieses Schwanken verweist auch auf einen Mangel an politischer Analyse, der nicht durch eine selbstbezogene Identitätsdebatte behoben werden kann.

Bei den Grünen geht es, wieder einmal, um Identität. Abzulehnende Militarisierung der Außenpolitik oder anzustrebende Übernahme von Verantwortung lauten die abstrakten Alternativen, die an höchst verschiedene Selbst- und Weltbilder angekoppelt sind. Unterschiedlicher könnte die Wahl nicht ausfallen, an der sich so etwas wie das grüne Wesen entscheiden soll. Was die einen als katastrophischen Identitätsverlust beklagen, gilt den anderen geradezu als Überlebensstrategie in Zeiten neuer Bedrohungsszenarien und "asymmetrischer" Kriege. Stimmte man dem Krieg schon zu, kurz bevor er begonnen hatte, war das Erschrecken groß, als die ersten Bomben fielen und nicht nur zivile Gebäude, sondern auch unschuldige Menschen trafen – und wurde eine Feuerpause gefordert, als nach einer Woche das Taliban-Regime noch immer nicht besiegt und bin Laden immer noch nicht gefasst war. Als ob man nicht gewusst hätte, dass dieser Krieg lange dauern würde und Luftangriffe aus sicherer Höhe eine Gewähr für so genannte Kollateralschäden bieten. Als ob nicht überall verkündet worden wäre, für den Krieg gegen den Terrorismus brauche es einen langen Atem und etwas Opferbereitschaft. Einer Regierungspartei, die in der Verantwortung steht, bringt dieses Hin und Her, Ausdruck der inneren Zerrissenheit der Grünen, weder Vertrauen ein noch Glaubwürdigkeit. Selbst die kriegskritische tageszeitung bemängelte den Schlingerkurs.

Globalisierter Terrorismus oder terroristische Globalisierung

Wie aber soll das seit dem schwarzen Dienstag dramatisch zugespitzte Weltgeschehen gedeutet werden? Und was ist das Haupthindernis beim universellen Fortschreiten in die offene, durch Gleichberechtigung, wechselseitige Anerkennung und interkulturelle Toleranz gekennzeichnete Weltgesellschaft, dem sich die grüne Partei verpflichtet sieht: Die terroristische Globalisierung (unter den Vorzeichen einer neoliberal entfesselten Ökonomie mit ihren fatalen sozialen und kulturellen Nebenwirkungen), auf die der apokalyptische Terror bloß eine hilflose "Antwort der Schwachen" ist, oder der globalisierte Terrorismus (als Vernichtungskampf eines religiös verbrämten, den Islam missbrauchenden Totalitarismus gegen den gottlosen Westen), der mit allen Mitteln internationaler Ordnungspolitik, auch militärischen, bekämpft werden muss?

Für die Grünen ist das eine Zerreißprobe im wahren Sinne des Wortes. Und sie werden, wie in einer Beziehungsfalle des "double-bind", immer die falschen Entscheidungen treffen, wenn sie es im Blick auf sich selbst und nicht im Blick auf die Welt tun. Dabei steht die vor einer Generation entstandene Partei neuen Typs lediglich vor jener unvermeidlichen Aufgabe, welche die Entwicklungspsychologie auch für die Entwicklung persönlicher Identität beschreibt, nämlich sich auf eine verwandelte Wirklichkeit selbst so ein- und umzustellen, dass man sich auch als Verwandelter wiedererkennt: Nur wer sich verändert, bleibt sich gleich. Freilich ist diese prekäre Dialektik für eine Partei nicht einfach zu bewältigen, die, aus den bunten Strömungen der Kapitalismuskritik, der Frauen-, Friedens und Bürgerrechtsbewegung sowie der ökologischen Wende entstanden, eine Reihe moralisch begründeter, identitätsstiftender Positionen entwickelt hat.

Die grüne Partei hat sich bei ihrem Gründungsakt einem Wertekanon verschrieben, der immer wieder auf den Prüfstand der politischen Wirklichkeit geraten ist. Sie hat Ziele formuliert und Forderungen aufgestellt, die sich in den Niederungen des Alltags als unangemessen herausgestellt haben und korrigiert werden mussten. Und sie schleppt, neben und unter ihren manifesten Positionen, eine Reihe latenter Denkmuster mit sich, die, gerade weil sie unbearbeitet geblieben sind, umso wirksamer die innere Dynamik der Partei und ihr Handeln prägen. Anhaltende Vorbehalte gegenüber der Regierungsverantwortung, begleitet von einem tiefen Bedürfnis nach politischer Unschuld; die überdauernden Zweifel an der Westbindung und ein Generalverdacht gegen die NATO; das zählebige antiamerikanische Ressentiment und ein geheimer negativer Nationalismus; die stille Aufteilung der Welt in Täter und Opfer und die Vorstellung von Globalisierung als Verschwörung der Reichen gegen die Armen; der unerschütterliche Glaube an die moralische Überlegenheit des Sozialismus – affektiv besetzte Muster dieser Art gehören ebenso zum historisch angeeigneten Normenbestand der Grünen wie der Versuch, sich dieser Erblast durch eine Art Gegenbesetzung zu entledigen. Dann bilden auf einmal das unbedingte Mitregieren und die Lust an der Macht, die über jeden Verdacht erhabene NATO, die Vasallentreue gegenüber den USA, die Verherrlichung des Kapitalismus oder eine idealisierte Globalisierung den normativen Untergrund grüner Bekenntnisse.

Identität oder Politik

Solche moralisch kontaminierten Konflikte regulieren aber, hinter dem Rücken der Akteure, die Ökonomie im grünen Seelenhaushalt. Als vor- oder unbewusste Fixierungen sollten sie einer systematischen Selbstreflexion, die sich die Außenwelt zum Spiegel nimmt, zugänglich gemacht werden können. Es geht um die Anerkennung eines Realitätsprinzips, das im unverstellten Blick auf die Tatsachen hilft, auch die Innenwelt umzustrukturieren und die eigenen Fantasien, Wahrnehmungen und Überzeugungen an der Realität zu korrigieren. Weil Identität – sowohl individuelle wie auch kollektive – nicht von innen nach außen, sondern in einem Raum zwischen uns und der Welt entsteht, können wir uns ihrer nicht durch Besinnung auf einen essentialistischen Kern vergewissern. Aus demselben Grund können wir sie deshalb nicht verlieren wie eine Brieftasche oder ein Kleidungsstück. Identität umschreibt vielmehr eine Beziehung, die wir zu unserer intim-familiären, sozio-kulturellen oder auch politischen Umwelt haben. Sie ist weder souveräne Selbstzuschreibung noch reine Zuschreibung durch andere, sondern kennzeichnet die eigene Position in wechselnden Kontexten, die, weit entfernt von reiner Selbstbehauptung, auf Prozesse gesellschaftlicher Anerkennung angewiesen ist.

Diesen realitätsbezogenen Zusammenhang bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Identität ignoriert nun ausgerechnet der geschätzte Micha Brumlik in seinem Lamento über "Das Ende der Realpolitik" (taz, 9.10.01). Er hat den Grünen Identitätsverlust für den Fall prophezeit, dass sie dem Krieg gegen das islamistische Taliban-Regime in Afghanistan zustimmen, und räsoniert darüber, "ob die Partei die Koalition verlassen soll, um authentisch zu bleiben". Er sieht sie ohnehin auf einer abschüssigen Bahn, auf welcher die Partei bloß noch "den letzten Rest ihrer Identität verlieren" würde. Es nähere sich der Zeitpunkt, an dem "der Grenznutzen der viel beschworenen Verantwortungsethik aufgezehrt" sei. Die Beschwörung des abhanden gekommen Authentischen und die Trauer um die verlorene Identität münden nicht zufällig in einer Attacke auf die "viel beschworene Verantwortungsethik", der ja bekanntlich eine Gesinnungsethik gegenübersteht. Es ist die "linke" Gesinnung, die er hier einklagt und am Ende, durchaus konsequent, nur noch bei der PDS findet.

In Sachen Globalisierung waren die schläfrigen Grünen bereits im Sommer aufgewacht, und nicht nur ihre Sprecherin Claudia Roth sah sich zu einer nachdenklichen und selbstkritischen Position ermuntert. Als die Wogen des medialen Sturms sich zu glätten begannen, hatte man sich freilich gefangen und sein Heil wieder in der Selbstverteidigung gesucht. Auf dem Familientreffen mit Gästen – grüne "Sommerakademie" genannt – lamentierte Fritz Kuhn, die Arbeit der Partei dürfe von den Globalisierungskritikern nicht "einfach so weggewischt" werden. Uschi Eid, Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und neuerdings Afrika-Beauftragte des Bundeskanzlers, wehrte sich vehement dagegen, dass man sich "denen an den Hals" wirft. Es bedurfte keiner tiefenpsychologischen Diagnostik, um in den Metaphern der Berührung die Anzeichen einer emotionalen Irritation und zugleich den Versuch ihrer ängstlichen Eindämmung zu erkennen: Man muss sich etwas vom Halse halten, das einem zu dicht auf der Pelle sitzt.

In den Äußerungen der grünen Prominenz zeigten sich selbstbezügliche Facetten einer Seelenverfassung, die unter dem älteren Personal der zur Partei gereiften Alternativbewegung weit verbreitet ist – und Symptome politischer Unreife aufweist. Offensichtlich ging es gar nicht um Politik, sondern um Identität, allenfalls um Identitätspolitik. Die bedrohlichen Kontaktwünsche, die Berührungsängste und Distanzierungszwänge entstammten den Schichten einer ungeklärten Selbstbeziehung, die im Verhältnis zu den Globalisierungsgegnern ersatzweise bearbeitet wurde: Ihr seid, wie wir einmal waren und nicht mehr sein wollen. Die weltweit entstandene neue außerparlamentarische Opposition repräsentierte – mit ihrem kosmopolitischen Blick von unten, moralisch fundierter Kritik an der globalen Ungerechtigkeit, steilen Thesen zu den Ursachen des Übels, apokalyptischen Beschreibungen der Weltlage sowie überschießender, existenziell aufgeladener Militanz – ausgerechnet jene Mischung aus Widerstandsgeist, Theoriebegeisterung und Weltverbesserungsanspruch, von der man sich selbst doch längst emanzipiert zu haben wähnte.

Die Wirkungen der Globalisierung und das terroristische Projekt der Glaubenskrieger, beides fordert von den Grünen eine Abkehr von der Jagd auf die Gespenster der Vergangenheit und die Rückkehr in die Arena der politischen Auseinandersetzung. Dort müssen die schwierigen Fragen der neuen Weltordnung, die eng mit dem Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie, der Säkularisierung der Gesellschaften und der Entzauberung religiöser Weltbilder verbunden sind, beantwortet werden. Solche Antworten liegen nicht herum. Aber es könnte nicht schaden, das Tatsächliche wahrzunehmen, sich dabei auch mit den Tiefendiagnosen von Enzensberger oder Botho Strauß auseinander zu setzen – und Jürgen Habermas aufmerksam zuzuhören. Zwischen Glauben und Wissen muss auch die grüne Vernunft ihren Weg suchen.