Politischer Pazifismus

Die Grünen und die "einfachen Botschaften"

Michael Opielka

Im Angesicht deutscher Militäreinsätze im Ausland plante der grüne Vorstand, künftig den Beitrag der Grünen "mit einfachen Botschaften herausarbeiten" zu wollen. Einige führende Grüne sprechen so vom "politischen Pazifismus" der Grünen. Doch man weiß, dass das Politische, weil auf Kompromiss orientiert, den Pazifismus weit dehnt. Könnte es sein, dass der grüne, freundlich gemeinte Schulterschluss gegen den internationalen Terrorismus doch nicht jene "bedingungslose" Treue zur Regierung der USA erlaubt, derer sich die bundesdeutschen Politiker nach dem Attentat hingaben.

Die einfache Botschaft der Grünen: Worin könnte diese unter so verwirrenden Verhältnissen gefunden werden? Im Grunde sollte die Antwort nicht so schwer sein. Denn das grüne, leitmotivische Erbe lautet: "Gewaltfreiheit" als politisches Projekt. Dies legt dreierlei nahe: zum einen schließt Gewaltfreiheit den Einsatz von Gewaltmitteln in Notwehr nicht aus; sie lässt zweitens die Nutzung von Gewalt zur Aufrechterhaltung von allgemeiner Gewaltfreiheit durch die polizeilichen Organe zu, denen ein Monopol auf diese zugesprochen wird, gleichwohl unter restriktiven, der öffentlichen Kontrolle zugänglichen Bedingungen; und schließlich fordert eine Politik der Gewaltfreiheit eine umfassende Prävention von Gewalt, eine Zivilisierung der Welt, einen Abschied von Wildem Westen und Mafia, und notfalls – siehe Position zwei – die Anwendung von Gewaltmitteln gegen die Feinde der Zivilität. Gewaltfreiheit als grüne Leitidee lässt sich also in drei Elemente konkretisieren: das persönliche und kollektive Recht auf Notwehr, die Bejahung von öffentlicher Polizei und die Zivilisierung der Welt. Erst in dieser Trias, in dieser Verbindung kommt dem je fälligen Gebrauch von Gewalt Legitimität zu. Die Grünen fordern also große Vorsicht. Sie erinnern sich an die Opfer der Gewalt, sie sind die Anwälte des Mitleids. Gewaltfreiheit ist wie alle Freiheit kontextabhängig. Auch Gewaltfreiheit benötigt Gewalt um ihrer selbst willen.

Was folgt daraus als "einfache Botschaft" zu Krieg, Frieden und der grünen Rolle in der rot-grünen Bundesregierung? Bedenken wir die drei Elemente: Notwehr, Polizei und Zivilität.

Gewaltfreiheit und Notwehr

Jede Person und jede Kollektivität hat das Recht, sich gegen unmittelbare Gewalt zu wehren. Kann nun der Kampf gegen den internationalen, gerade auch den dschihadistischen Terrorismus angesichts des 11. September 2001 als Notwehr legitimiert werden? Notwehr hat immer den Charakter des Unverzüglichen, des Spontanen, des nicht alles Überschauenden. Das macht es schwer, wenn nicht unmöglich, einen Feldzug außerhalb des eigenen Territoriums als Notwehr zu legitimieren. Aus der militärischen Führung der USA wird deshalb mit dem Abstand von den grauenhaften Terroranschlägen das Argument der Selbstverteidigung bemüht. Damit entfällt jedoch die Unmittelbarkeit und es geht um die erweiterte Frage der Legitimität "gerechter" Kriege. Hier lehrt die Erfahrung der Geschichte allergrößte Zurückhaltung.

Gewaltfreiheit und Polizei

Die Grünen sind die Partei des Weltbürgertums, der Weltgesellschaft. Sie wissen um die für eine Gesellschaft nötigen Institutionen. Die Polizei gehört dazu. Wer stellt die Polizei in der offensichtlich sich bildenden Weltgesellschaft, deren Staatsförmigkeit eine von den Nationalstaaten noch geliehene ist? Aus Sicht der Grünen ist die Lage bislang klar: die Vereinten Nationen sind der föderale Weltstaat in statu nascendi. (Im Übrigen heißt es auch im rot-grünen Koalitionsvertrag: "Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.") Als Polizei wirken die UNO-Truppen, diese erfahren Legitimität aus dem Konsens der Nationen, aufgrund des Souveränitätsrechts der Mitgliedsstaaten bislang allerdings ohne ein Kampfmandat gegen UNO-Mitglieder. Das völkerrechtliche Definitionsproblem zwischen Polizei und Militär, zwischen inner- und zwischenstaatlichen Konflikten, die Grauzone des Paramilitärischen, der Bürgerkriege und der Truppen, die wie der Bundesgrenzschutz oder die amerikanische Nationalgarde die Grenze zwischen Polizei und Militär verwischen, macht die politische Bewertung der aktuellen Lage komplex. Kuwait und Kosovo waren NATO-Kriege, ohne klares UNO-Mandat, geführt von den USA, die mit dem Fall der UdSSR die Rolle Weltpolizei beanspruchten. Das war für die Grünen zu Recht ein Problem und muss sie im Wiederholungsfall spalten: in den pragmatischen Mehrheitsflügel, der darauf hofft, dass die amerikanisch-britischen Aktionen in eine Evolution des UNO-Auftrages münden, dass Russland, China und andere Nationen die Notwendigkeit einer Weltpolizei anerkennen. Und in die skeptische Minderheit, die an dieser Evolution zweifelt, die eine US-amerikanische Hegemonie fürchtet.

Lässt sich dieses Problem objektiv, zweifelsfrei lösen? Wohl kaum. Es handelt sich um Risikoabwägung. Kluge grüne Politik wird darauf hinweisen. Sie wird die Weltpolizei einfordern und jede internationale Militäraktion und voran eine deutsche Beteiligung an ihrer polizeilichen Effektivität messen. Man wird zunächst fragen, ob es sich um Krieg gegen einen von der Völkergemeinschaft anerkannten Staat handelt, oder – wie es im Fall des Taliban-Regimes scheint – um ein international isoliertes Regime und damit um eine Art Putsch in einem Teil der Weltgesellschaft, der von einer Art provisorischer Weltregierung mit dem Ziel der Her- oder Wiederherstellung demokratischer Herrschaft bekämpft wird. Nur dann würde man einen Einsatz deutscher Truppen auch im fernen Asien bejahen können. Man wird auch das Scheitern der russischen Intervention in Afghanistan zwischen 1979 und 1989 erinnern und sich fragen müssen, ob die richtige Polizei am falschen Ort die falsche Polizei ist. Man wird weiter fragen, ob die grüne Polizeiintention im konkreten Kontext zur Geltung kommt, ob die von den USA definierten Ziele der Militärintervention weltpolizeilicher oder hegemonialer Natur sind.

Und schließlich sollte der Subtext des Militärischen nicht vergessen werden, jene schleichende Gewöhnung der kriegsmüden deutschen Bevölkerung an die Normalität internationaler Brutalität, wie sie seit den Neunzigerjahren über Kuwait und Kosovo erfolgte und in der Forderung kulminiert, die Bundeswehr in eine Berufsarmee zu verwandeln. Diese stünde der jeweiligen Exekutive mit verminderter demokratischer Einspruchslast zur Disposition. Der Kampf von Söldnerheeren wirft freilich die Polizeifrage in besonderer politischer Weise auf: Wie werden die Entscheidungen der Regierenden an den Souverän rückgebunden? Wer ist auf Weltebene überhaupt der Souverän? Und wenn für Geld gekämpft wird: Welche Instanz richtet politisch-ethisch zwischen dem bezahlten Terroristen, dem Söldner der afghanischen Nordallianz und dem britischen, lohnabhängigen Gurkha-Kämpfer oder seinem bundesdeutschen Soldatenbeamtenkollegen? Für einen politischen Pazifismus sind diese Fragen einfach: Weltpolizei ohne – und sei es provisorische – Weltregierung ist unmöglich. Die UNO ist ihr Nadelöhr. Wenn eine Institution "bedingungslose Treue" verdient, dann sie.

Gewaltfreiheit und Zivilität

Terrorismus ist – wie Mafia und totalitäre Herrschaft – eine der größten Gefahren der Zivilgesellschaft. Der dschihadistische Terrorismus nährt sich aus Unterdrückungserfahrung und Minderwertigkeitserleben einerseits, zugleich jedoch aus einem Machismo, einer noch immer erschreckenden Geringschätzung der Frauen in der arabischen Kultur und einem kaum weniger differenzierten, oft apokalyptisch erhöhten Chiliasmus, einer Verachtung des Irdischen zugunsten einer von fanatischen Propheten in irdischen Bildern geschmückten göttlichen Zukunft. Den Grünen wie allen zivilisierten Menschen ist dies ein Gräuel: Sie respektieren beide Geschlechter und lieben die Welt gerade, wie sie ist. Glücklicherweise ist Fanatismus heilbar. Am besten heilt eine zivilisierte Gesellschaft, heilt eine Ordnung, die den Einzelnen respektiert, ihm Freiheiten für sein persönliches Leben sichert. Wir leben im Zeitalter der Individualität. Die Feinde unserer Zeit sind die Feinde der Individualität. Deshalb bekämpfen sie zivile Institutionen, streuen Salz in die Wunden der kleinen Opfer, damit sie zum großen Opfer bereit sind. Joschka Fischer stand, das war ein Glück, im rechten Augenblick den verwundeten jüdischen Jugendlichen zur Seite. Wann hat der letzte grüne Minister ein Lager der Palästinenser besucht? (Dass es sich um ein vermintes Feld handelt, das Diplomatie und Charakter erfordert, zeigt die Erinnerung an die damaligen grünen Bundestagsabgeordneten Otto Schily und dessen sich später als Stasispitzel enthüllenden Kollegen Dirk Schneider, beide Mitte der Achtzigerjahre im Zelt bei Gaddhafi, heftig kritisiert von Israelis und Terrorismusgegnern.) Die Grünen haben seit ihrer Existenz immer wieder Zeichen gesetzt für eine Verständigung der Kulturen, der Religionen (wenngleich dies viel zu selten) und der Menschen, die sie tragen. Politik ist auch Zeichensetzung. Die einfache Botschaft der Grünen wäre: Frieden statt Krieg. Verständigung statt Terrorismus.

Hier liegt die größte Chance der Grünen und zugleich ihr größter Mangel. Denn Zivilität erfordert eine Idee. Worin der spezifisch grüne Beitrag für eine Ordnung der Welt liegt, ist leider undeutlich. In der großen Debatte zur Globalisierung fehlt die Konkretion eines sozialökologischen Gesellschaftsvertrages, eines Wohlfahrts- und Ordnungsmodells, auf das wir stolz sein könnten, weil es sich verträgt mit der Verschiedenheit der Kulturen der Welt. Damit ist keine Blaupause gemeint und nicht allein Verfahren und Idee der Demokratie. Zivilität mit sozialökologischem Akzent wäre ein Projekt, das die ökologische Verletzlichkeit der Welt berücksichtigt, das eine sozialpolitische Vision der gerechten Ressourcenverteilung formuliert und das – gegen Fundamentalismen und ohne atheistische Ignoranz – die Geistigkeit des Einzelnen und die Existenz des Spirituellen respektiert. Damit begannen die Grünen vor zwanzig Jahren. Zivilität in diesem Sinn ist politisch und pazifistisch. Sie ist freilich anspruchsvoll. Denn sie wird bereit sein zur Konsequenz gegen die Feinde der Zivilisation, gegen diejenigen, die Menschenrechte verachten und Religionsfreiheit bekämpfen. Nach zwei Weltkriegen von deutschem Boden wird unser Beitrag zu diesem Kampf vor allem ein ziviler sein. Das ist kein Attentismus und keine Ängstlichkeit. Es ist die Folge eines historischen Realismus: Unser Weg muss unser Ziel sichtbar machen. Es gibt keinen abstrakten, nur einen konkreten Frieden. Ein Kriegsminister von grünen Gnaden trägt zum globalen Projekt der Zivilgesellschaft nicht bei.

Die einfache Botschaft der Grünen zwischen Krieg und Frieden lautet: eine Politik der Gewaltfreiheit. Das schließt die deutsche Mitwirkung an einer Weltpolizei ein. Ob der Kampf gegen den internationalen Terrorismus vor allem eine Polizeiaktion der Weltgesellschaft wird, ein militärischer Feldzug zur Sicherung amerikanischer Hegemonie auch in der islamischen Welt oder eine Konspiration der Geheimdienste im Dienste weltumspannender Oligarchien, ist noch nicht entschieden. Aus diesem Entscheidungsprozess dürfen sich die Grünen nicht entlassen. Gewaltfreiheit ist selbst ein Kampf um Freiheit.