Editorial

Balduin Winter

Zeitenwende, Krieg der Welten? Dschihad gegen die Moderne? Solcher Begrifflichkeit ist etwas Apokalyptisches unterlegt, das wohl mehr noch dem Schock als der Analyse entspringt. Wobei der Schock selbst zu den Wurzeln der Moderne rückverweist, zu den Endzeitvorstellungen des Mittelalters. Der Historiker Johannes Fried stellt die These auf, die mittelalterliche Apokalyptik sei eine der Hauptquellen totalitärer Bewegungen der Moderne. Ihre Symbolik träfe man an unerwarteten Orten wieder, die Ein-Dollar-Note nicht ausgenommen. Jeder Schein lässt ein Novus Ordo Seculorum beginnen, propagandistisch überhöht durch den Aufdruck "einer mit einem strahlenden Dreieck und einem göttlichen Auge gekrönten Pyramide". Fried sieht eine durchgehende Spur von der Reformation über die Pilgrim Fathers zur geschäftigen Welt der US-Banken: "In God We Trust." Bacon, Kepler oder Newton, deren Arbeiten moderne Wissenschaft begründeten, waren, so Fried, vom nahen Weltende fest überzeugt. Bringt es doch nicht nur die große Zerstörung, sondern auch die große Auflösung: die Große Ordnung, das Jüngste Gericht, die unverrückbare Teilung in Gut und Böse.

Dem unterliegen viele Bilder, die derzeit präsentiert werden. Krieg der Welten, wie der Spiegel am 15.10. titelte, ist nichts anders als Teilung der einen Welt in zwei sich bekämpfende, eine hoch entwickelte und eine marode, an der Entwicklung der anderen nur schmarotzende Welt, die sich gerade noch die Technologien der Zerstörung aneignet. Oder Dschihad gegen Moderne: Auch hier wird nur das Trennende, der Riss der Zeiten ausgedrückt, Mittelalter gegen Globalisierung, Religion gegen Zivilisation. Kein Zweifel, wir befinden uns – gleichgültig, ob man das militärische Eingreifen der USA und Großbritanniens in Afghanistan nun als "Polizeiaktion" verstehen will oder nicht, die Kriegserklärung kam vom al-Qaida-Netzwerk mit Unterstützung des Taliban-Regimes – in einer Phase, in der sich an den Bruchstellen der Globalisierung Fronten aufstellen; in der klare Aussagen zu Terrorismus und terroristischen Methoden verlangt werden; in der sich der Spielraum für Neutralität erheblich verringert hat. Aber auch nach dem globalisierten Massenterror vom 11. September leben wir in einer Welt (siehe Gerd Koenen zu "Terror und Moderne", S. 6).

In einer Welt, die zu beschreiben und zu analysieren immer schwieriger wird, weil ihre verschiedenen Entwicklungsstandards noch zunehmen und ihre Verwerfungen noch tiefer werden. Man muss nicht so tun wie Herr Mosdorf, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, der in der FR am 18.10. ganzseitig unter dem Titel "Die Globalisierung bietet Entwicklungsländern enorme Chancen" die Freuden der kapitalistischen Produktionsweise lobpreist wie ein Pfarrer beim Te Deum laudamus den lieben Gott. Dass und wie sie sich durchsetzt, hat ein in Trier geborener Universalgelehrter im 19. Jahrhundert schon wesentlich wissenschaftlicher und wesentlich literarischer dargelegt. Das historische Intermezzo des Sozialismus und die darauf bauende politische Bipolarität waren nur eine vorübergehende Modifikation. Mit 1989/91, dem Ende der relativ stabilen Blockordnung, erfolgt eine Entgrenzung der Wirtschaft, die sich weltweit nahezu ungehindert vernetzt. Gleichzeitig werden die Staaten geschwächt, in manchen Weltregionen nahezu aufgelöst. Im Zuge der Globalisierung treten auch die Bruchstellen der Zivilisation stärker hervor, bedingt durch die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Länder und Regionen, ein Prozess, den Helmut Fleischer in seinem geschichtsphilosophischen Essay (siehe S. 46) darlegt. In dieser Phase befindet sich die Welt nach wie vor. Mit dem globalisierten Terrorismus, der in Gestalt der al-Qaida bin Ladens "wie ein transnationales Unternehmen" (Joscha Schmierer im Tagesspiegel, 8.10.) wirkt, hat sie einen Kontrahenten gefunden, der ihr den Krieg erklärt hat. Der globale Konzern bin Ladens nutzt in diesem Konflikt eine Reihe von Widersprüchen aus: Wenig oder nicht regierbare Weltregionen, die extremistische und totalitäre Auslegung einer Weltreligion, einen zentralen politischen Brandherd, die zahlreichen, oft ineinander verschachtelten politischen und sozialen Widersprüche der Region, ethische Grundfragen, die er für seine Zwecke instrumentalisiert. Im Kern der Auseinandersetzung selbst geht es, bei allen religiösen, kulturellen und ethischen Verbrämungen, um Zivilisationsvorsprünge und -rückstände. Umgekehrt bedeutet Kampf gegen den Terrorismus, dass militärische Maßnahmen gegen das Terrornetzwerk und seine Geschäftsfreunde das eine sind, ebenso wichtig aber ist die Besetzung der politischen und sozialen Felder, auf denen dieser Konzern agiert. Der arabische Gelehrte Sasson Somekh, der in Tel Aviv lehrt, sieht bin Laden und Co. in einer defensiven Position: "Eigentlich zittern die fundamentalistischen Kreise vor Angst, weil der Boden unter ihren Füßen entzogen wird. Die westliche Kultur ist stärker, und deshalb muss die jetzige Entwicklung nicht als ein historischer Wendepunkt betrachtet werden" (siehe S. 59).

Als "historischer Wendepunkt" stellt sich die Situation, zu der Golfkrieg und Kosovo als Präliminarien gesehen werden müssen, bei den Grünen dar. Der trügerisch beruhigende Wahlausgang in Berlin ändert daran nichts. "Grüne Vernunft" fordert daher Martin Altmeyer in seinem Debattenbeitrag ein (siehe S. 42) und warnt, dass der Mangel an politischer Analyse nicht durch eine selbstbezogene Identitätsdebatte behoben werden kann. Die Frage um Krieg und Frieden hat schon ganz andere Parteien zerrissen.