"Bekämpfenswerte Unwissende"

Der arabische Gelehrte Sasson Somekh erläutert im Gespräch zentrale islamische Begriffe

Tsafrir Cohen

Sasson Somekh, 1933 in Bagdad geboren, emigrierte 1951 nach Israel. In beiden Ländern war er aktiver Kommunist und als Journalist tätig. Sein Doktorat machte er in Oxford und unterrichtete auch an der Princeton University. Er leitet unter anderem das Institut für Arabische Literatur an der Tel Aviv University und das Academic Israeli Centre in Kairo. Beim israelisch-arabischen Kulturaustausch spielt er eine wichtige Rolle. Er übersetzt selber Theaterstücke und moderne Gedichte aus dem Arabischen. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Genre and language in modern Arabic literature (O. Harrassowitz), The Changing Rhythm: A Study of Najib Mahfuzs Hardcover (Brill Academic Publishing Publ.). Im Gespräch mit unserem Autor äußert er sich über die fundamentalistischen Grundgedanken des Begründers der Muslimbruderschaften in Ägypten, Sayyid Qutb, die heute als ideologischer Gegenposten zur materialistischen Globalisierung des Westens eine Renaissance in der islamischen Welt erleben.

Tsafrir Cohen: Heute ist wieder viel die Rede von der moslemischen Einheit. Gibt es diese moslemische Umma noch in ihrer authentischen Bedeutung?
Sasson Somekh: Dieser Begriff hat sich über die Jahrhunderte hinweg stark verändert. Dabei handelt es sich um zwei Begriffswelten, die oft durcheinander geworfen werden: die ursprüngliche Bedeutung der Umma zu Zeiten Mohammeds und die moderne Interpretation.

Zu Zeiten Mohammeds war die Umma ein sehr breiter Begriff, der die Gesetze und Sitten einer politischen und religiösen Gemeinschaft umfasste und definierte.

Im 20. Jahrhundert änderte sich der Begriff: In der arabischen Welt reifte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, beeinflusst vom westlichen Gedankengut, sowohl vom Begriff der modernen Nation als auch vom Marxismus, die Idee einer einheitlichen arabischen Nation, der auch eine staatliche Einheit folgen sollte. Gamal Abd el-Nasser, der verehrte ägyptische Herrscher, versuchte die Gloria Arabiens zurückzuerlangen: nicht als islamische Herrschaft, sondern als eine moderne vereinte Nation. Im Zentrum sollte das größte arabische Land, Ägypten, stehen, darum herum die arabische Welt und dann die restliche islamische Welt sowie die Länder der blockfreien Welt. Im Laufe dieses Prozesses entschieden Syrien und Ägypten tatsächlich sich als Nationalstaat abzuschaffen und gingen in einem vereinten arabischen Staat auf. Doch das Experiment dauerte nur wenige Jahre und scheiterte an den Machtansprüchen der Herrscher des jeweiligen Staates.

Danach, in den Siebzigerjahren, fing ein umgekehrter Prozess an, auch durch die Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 bedingt, in dem die jeweilige nationale Identität gepflegt wurde. Nach einem halben Jahrhundert Unabhängigkeit hat jeder Staat sein "natürliches" Eigenleben entwickelt.

Doch es bleibt kompliziert: Fragst du einen Ägypter, ob er Araber ist, wird er bejahen. Minuten später wird er über die Araber, ihr Geld und ihr Öl sprechen und meint die Golfstaaten. Die gemeinsame Sprache und Religion werden hervorgehoben. Fragt man jedoch nach der Solidarität mit den Palästinensern, fällt die Antwort oft indifferent bis feindlich aus, und der Ägypter betont die spezielle "pharaonische" Tradition Ägyptens. Es ist eben wie mit Europa: Die Identitäten sind vielschichtig und verlaufen quer durch die jeweilige Gruppe.

In der heutigen Welt gibt es in der arabischen und der moslemischen Welt Gemeinsamkeiten vor allem religiöser Natur, insbesondere dann, wenn eine Macht von Außen jemanden aus ihrer Mitte attackiert, wie es jetzt die USA tun. Das verstärkt sich, wenn diese Macht von Kreuzzug spricht und religiöse Assoziationen weckt. Das weckt Solidarität bei den Moslems. Dabei geht es aber um eine religiöse Solidarität, nicht um das Verlangen nach einem Einheitsstaat. Das ist bei den Christen wohl ähnlich.

Aber das ist gewiss nicht die Sicht der Fundamentalisten, sie haben doch mit der Umma etwas ganz anderes im Sinn?
Aus der Sicht eines Fundamentalisten geht es um die Rückkehr zur moslemischen Einheit, zur glorreichen Zeit der islamischen Welt, zu dem in ihren Augen "reinen Zeitalter" während der Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten – das hat mit einem Nationalismus europäischer Prägung nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine gegensätzliche Bewegung, die sich gleichzeitig mit der Bildung nationaler Identitäten in den verschiedenen Staaten vollzogen hatte. Es entstand die fundamentalistische Fraktion, die sich kaum um die jeweilige nationale Identität schert, sondern über den Islam spricht. Führend waren dabei zwei fundamentalistische Vordenker: der Pakistani Syed Abul’Ala Maududi und der Ägypter Sayyid Qutb. Letzterer hatte den bedeutendsten Begriff für die Entwicklung des Fundamentalismus eingeführt: den Begriff "Jahiliyyah".

Dieser Begriff umfasste zu Zeiten Mohammeds auf der arabischen Halbinsel den Zustand, in dem sich diese Region befand, bevor Mohammed dort den Islam durchgesetzt hat. Er wird übersetzt mit "Unwissen" oder "Unkenntnis Gottes", umgangssprachlich könnte man "primitiv" sagen. In der Praxis hieß es, dass alle Heiden nur die Wahl hatten, entweder sich zum Islam zu bekehren oder zu sterben.

Qutb erneuerte diesen Begriff in Zusammenhang mit dem modernen Diskurs, sodass er jetzt die christliche Welt mit einbezieht. Damals galten Christen und Juden als Monotheisten, die zwar nicht das Rechte tun, doch mussten sie sich keinesfalls – im Gegensatz zur christlichen Praxis in Spanien – bekehren und sollten auch nicht bekämpft werden. Qutb politisierte die "Jahiliyyah" und dehnte diesen Begriff auf Christen und Juden aus. Damit sind sie nicht mehr ein nicht ganz vollwertiger, aber zu tolerierender Teil der monotheistischen Familie, sondern zu bekämpfende Heiden.

Die arabischen Staaten (und das gilt auch für den Iran) benutzen diesen Begriff nicht so, sondern betrachten die Welt in westlichen Begriffen wie Kolonialismus, westliche Hegemonie, Ausbeutung.

Ist die Feindschaft gegenüber den USA auf die gesamte westliche Welt ausdehnbar?
Aus der Sicht der Fundamentalisten: Ja und nein. – Drei Punkte sind wichtig:

Erstens ihr Argument, dass die westliche Welt, und hier vor allem Amerika, sie ausbeutet. Dieser Teil der Argumentation ist nur bedingt auf Europa anwendbar.

Wichtiger ist jedoch das Verständnis des Westens als Hegemonialmacht. Der Islam muss seine "Gloria" wieder erlangen, wie vor tausend Jahren. Doch der Westen ist zu stark und lässt dem Islam keine Möglichkeit, sich zu stabilisieren und zu entwickeln. Vor allem die USA stoppen die Entwicklung des Islam und machen ihn zum Zwerg. Das ist die Haupttriebfeder des Hasses auf die USA.

Drittens, und das ist sehr wohl auf die gesamte westliche Welt zu beziehen, wenngleich die USA auch hier den Hauptfeind darstellen: Die westliche Kultur ist – aus der Sicht der Fundamentalisten – eine rein materialistische Kultur ohne eine einzige positive Eigenschaft. Der Islam bietet eine andere Kultur: Hier finden sich Religion, Kultur, Zivilisation, Menschenliebe, Philanthropie und Reinheit.

Wie erfolgreich ist diese Argumentation?
Die Erkenntnis, dass der westliche Reichtum auch damit zusammenhängt, dass man sich von den Kirchen befreit, Universitäten gebaut, eine politische Emanzipation durchgemacht hat et cetera, wird von einigen zwar vertreten, doch in der breiten Öffentlichkeit hat diese Sichtweise keinen Erfolg. Der Westen ist böse: Die Jugend nimmt Drogen, ihre Welt entbehrt jedweder Geistigkeit, und alles in allem stellt er nur eine technologische Vormacht dar. Der Islam dagegen stellt die Kultur dar, die ein Gegengewicht zum Westen herstellen könne. Doch der Westen durchdringt die islamische Welt mit seinen Medien, bestimmt den Diskurs, korrumpiert die Jugend mit seinen Vorbildern.

Was könnte der Westen tun? Hat die Existenz Israels die Radikalisierung in der islamischen Welt Vorschub geleistet?
Ja, in der arabischen Welt schon. Es ist doch verständlich, dass sie nach solch einer immerwährenden Niederlage bitter geworden sind. Das gilt aber nicht für die gesamte moslemische Welt oder für alle Entwicklungen. Iran benutzt den Konflikt nur als Mittel zum Zweck. Die Iraner hatten eine lange eigene Geschichte, die damit nichts zu tun hat. Seite den Vierzigerjahren hat Khomeini agitiert. Das gleiche gilt für den Irak: Saddam Hussein ist nicht religiös, er beabsichtigt die Mobilisierung der Massen, um politischen Druck auf seine Gegner in der arabischen Welt zu üben. Ich gebe Ihnen ein typisches Beispiel: Alle sagen, dass Sadat wegen des Friedens mit Israel ermordet wurde. Doch seine Attentäter haben auch zwanzig Mal versucht, Gamal Abd el-Nasser, der gewiss kein Freund Israels war, umzubringen. Vielmehr ging es um das weltliche Regime von Nasser und Sadat. Während des Prozesses wurde die Sache jedoch so gedreht, dass es um den Frieden mit Israel geht, um zu verdecken, welcher Konflikt tatsächlich im Land brennt.

Dann könnte man eher über einen gewissen weiter bestehenden Kolonialismus oder Imperialismus des Westens sprechen?
Hegemonie ist das Wort, das ich benutze. Damit meine ich das Vorschreiben von Lebensnormen und Spielregeln. Das lässt sich aber kaum ändern. Beeinflussen lässt sich zweierlei:

Erstens die westliche ökonomische Ausbeutung: Das ist der wirklich reellste Punkt dieses Konfliktes.

Zweitens die bestehenden Verhältnisse: Die Bevölkerungen in der moslemischen Welt sind einfach unzufrieden, die Antworten und Hintergründe sind einfacher als die Erklärungen von bin Laden und anderen fundamentalistischen Führern. Der einfache Mann lebt in Armut und sieht im Fernsehen den Reichtum des Westens, er ist unzufrieden mit seinen korrupten Führern. So nähert er sich langsam der Religion, die ja handfeste Vorteile hat: Im Islam werden Philanthropie und gegenseitige Hilfe groß geschrieben. Er ist ein warmes Haus, und die Außenwelt wird einfach kategorisiert durch Schlagworte wie Drogen oder Egoismus. Die fundamentalistischen Führer nutzen das für ihre Zwecke aus. Das hat sich stark entwickelt und wäre vor fünfzig Jahren noch undenkbar gewesen.

Die Entwicklungen sind jedoch rasant ...
Das stimmt, es gab in der gesamten Geschichte des Islam keinen solchen Fundamentalismus wie heute. Neu ist die Rekrutierung von Menschen aus den höheren Klassen (daher auch die neue Schlagkraft). Die technisch-akademischen Berufe (wie Ärzte und Ingenieure) waren schon immer gut vertreten bei der fundamentalistischen Führerschaft. Doch mit der verstärkten Präsenz von gebildeten Schichten werden ihre Möglichkeiten, komplizierte Vorhaben zu realisieren, immens erweitert. Im Klartext: keine Autobomben, sondern Biowaffen oder komplizierte und verheerende Operationen wie am 11. September.

Das hört sich sehr pessimistisch an, stehen wir vor einer historischen Wende?
Da sind Lichtblicke. Iranische Filme zum Beispiel: Da sucht man einen dunklen Islam – vergebens. Es sind kritische, soziale und menschliche Themen, die diese Filme zu den besten unserer Zeit machen.

Nein, die Geschichte entwickelt sich anders, als wir denken. Anfang des Jahrhunderts entwickelte sich in den arabischen Ländern ein breiter Diskurs, der auf rationalen Begriffen basierte, und moslemische Menschen gehörten zu den wichtigen Befürwortern der modernen Zivilisation samt Begriffen wie Emanzipation und Rationalität. Eigentlich zittern die fundamentalistischen Kreise vor Angst, weil der Boden unter ihren Füßen entzogen wird. Die westliche Kultur ist stärker, und deshalb muss die jetzige Entwicklung nicht als ein historischer Wendepunkt betrachtet werden. Die islamische Welt (vor allem die so genannte Straße) steht zwar solidarisch hinter ihren Glaubensbrüdern. Die Gesamtsituation kann aber in zwei, drei Jahren ganz anders aussehen.