Terror und Moderne

Die eine Welt und ihre Schrecken

Gerd Koenen

Der neue Terrorismus ist keineswegs ohne historische Vorbilder, und die Terroristen sind uns leider weniger fremd, als uns selbst lieb ist. Es gibt eben, so unser Autor, eine Kette höchst realer Versuche, der Weltzivilisation – die "westlich" zu nennen schon längst eine Verkürzung bedeutet – eine äußerste Antithese gegenüberzustellen. Ihr zu entgegnen heißt, den humanen Kern in der einen Welt zu verteidigen – und sich dabei auf Fragen der Pluralität der Kulturen und Lebensformen einzulassen.

Die totale Feinderklärung, die in den Angriffen des 11. September 2001 enthalten war, kann weder verleugnet noch abgelehnt werden. Wir alle, wie wir eben da sind, waren für diese Attentäter nichts als fremde, verdorbene, der Vernichtung geweihte Materie, Mitträger eines Systems, in das sie sich eingenistet haben, um es mit seinen eigenen Mitteln von innen zu zerstören. Die Abwesenheit aller Forderungen oder auch nur Losungen macht diese Feinderklärung nur noch unbedingter, da sie bedeutet, dass es für uns und unsere gesamte Lebenswelt keine andere "Lösung" gibt, als atomisiert und verbrannt in den Staub zu sinken.

Natürlich können (und müssen) wir versuchen, die demonstrative Stummheit dieser Akteure eines globalisierten Massenterrors zu durchdringen, ihre kryptischen religiösen Formeln zu entziffern, mit denen sie sich zuvor imprägniert haben, und ihre tieferen Beweggründe aufzuspüren. Aber zunächst einmal muss man diese Akte des Massenterrors als das anerkennen, was sie sind und sein sollen: die denkbar totalste Negation unserer Existenz selbst. Bevor man auf irgendwelche Metaebenen der Diskussion wechselt, sollte man die Akteure und die Logik ihres Handelns näher in den Blick nehmen.

Wenn ihre Tat vom 11. September irgendeinem strategischen Kalkül folgte, dann offenkundig dem, durch Taten von schockierendem Extremismus die USA und ihre Verbündeten zu blindwütigen Reaktionen zu provozieren, die die Welt in eine Eskalation politischer Polarisierungen und militärischer Verwicklungen hineinzwingen und schließlich nicht mehr beherrschbar sind. Letztendlich handelt es sich um kaum weniger als das Szenario eines dritten und letzten Weltkriegs.

Dennoch sind alle Erinnerungen an Sarajevo 1914 oder Pearl Harbor 1941, die sich vielen aufgedrängt haben, verfehlt. Der globale "Krieg der Kulturen", den diese Hyper-Herostraten so fieberhaft anzuzetteln versuchten, wird nicht stattfinden. Er hat keine Grundlage. Die Kalkulationen ihres neuartigen Massenterrors, so sehr sie für den Moment aufzugehen scheinen, beruhen auf falschen Voraussetzungen.

Die Weltgeschichte kennt kein Libretto", hat Alexander Herzen vor anderthalb Jahrhunderten gesagt. Heute würde man sagen: sie folgt keinem Drehbuch. Gerade das gilt aber für die Aktionen des 11. September. Sie trugen alle Merkmale einer großen Inszenierung, hatten etwas durch und durch Ausgedachtes. Und die Täter, deren Profile und Charaktere sich allmählich entschlüsseln, sind uns vielleicht weniger fremd, als es uns und ihnen selbst lieb ist. Allmählich können wir uns ein Bild von ihnen machen.

Als Abkömmlinge der Ober- und Mittelschichten ihrer Länder sind sie von Kindesbeinen an mit jener Weltzivilisation groß geworden, die sie nun so fanatisch bekämpfen, und daher mit ihren informationellen Modi und technischen Apparaten bestens vertraut. Ihre Kommandozentralen liegen womöglich mehr in Internetcafés als in Moscheen. Das macht ihre aktuelle Gefährlichkeit aus – aber auch ihre soziale und kulturelle Bodenlosigkeit. Ihre ganze Dschihad-Folklore trägt Züge von Fantasy und bildet eine ähnlich virtuelle Welt wie der Neonazi- oder White-Resistance-Underground hierzulande oder in den USA selbst.

Ihre angebliche islamische Orthodoxie haben sie als fanatisierte Laienkleriker und "reborn muslims" selbst erfunden, unter freihändiger Revision all dessen, was geschrieben steht. Auch ihre rituellen Waschungen und narkotischen Gebete sind nur äußerlich traditionell. Tatsächlich tragen sie alle Züge einer phobischen Imprägnierung gegen die beunruhigende und lockende Präsenz einer Lebenswelt, die längst keine bloß "westliche" mehr ist. Ihr vorgeblicher Puritanismus ist durch und durch dekadent; eine Manier, sich – auch ohne Sex’n’Drugs – zu dopen. Sie berauschen sich an ihren von jedem humanen Sinn entleerten religiösen Formeln wie an aufputschenden Pillen, und mit plattestem Hollywood-Realismus exekutieren sie, was nur die größten Künstler in ihren Nachtträumen je haben imaginieren dürfen:

"Nieder mit der Macht, dem Recht und der Geschichte! Das steht uns zu. Blut! Blut! Die goldene Flamme! – Alles für den Krieg, die Rache, den Terror. Mein Geist! Drehen wir das Messer in der Wunde um: Vergeht, Staaten der Erde! Kaiser, Regimenter, Bauern und Völker! Genug!"

Verse solcher Art hat Arthur Rimbaud hinterlassen, bevor er nach Aden floh und verstummte – aus Schrecken über den eigenen Hass. Sie hingegen inszenierten ihren "Independence Day" auf allen Kanälen und im Breitwandformat.

In einen größeren Zusammenhang gestellt, ist der politische Islamismus nur eine der totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts, produziert von Intellektuellen und Halbintellektuellen, die vom "Westen" abgestoßen waren und ihre traditionellen Eliten – einschließlich der religiösen Lehrer – als "unterwürfige Diener" fremder Mächte denunzierten. Was sie in ihren dünnen Schriften entwarfen, war die archaisch-moderne Vision einer von allen fremden Einflüssen "gereinigten" und sozial homogenisierten Gesellschaft, die als Basis einer panarabischen oder, besser noch, einer panislamischen Großmacht dienen könnte. Die Ursprünge dieses politischen Islamismus datieren auf die Zwanzigerjahre zurück. Politisch wirksam wurde er erst um das Stichjahr 1967 herum – die Zeit des "Sechs-Tage-Krieges" zwischen Israel und seinen Nachbarn.

Diese historischen und weltanschaulichen Bezüge wecken sofort Reminiszenzen, die nicht zufällig sind. Der politische Islamismus lässt sich durchaus mit den kommunistischen oder faschistischen Projekten gereinigter, homogenisierter, zu Machtblöcken neuen Typs zusammengeschweißter Staaten und Völker in eine Reihe stellen. Auch diese Projekte haben sich essenziell vom Widerspruch gegen die "westlichen Siegermächte" und die von ihnen ausgehende sozialökonomische "Globalisierung" und kosmopolitische Weltzivilisation genährt. Und als deren spiritus rector wurde immer zunehmend und immer fanatischer das "Weltjudentum" beziehungsweise der "Weltzionismus" identifiziert. So auch im Islamismus.

Noch deutlichere Parallelen lassen sich zu jenen völkischen Panbewegungen ziehen, in denen Hannah Arendt die Vorläufer und Wegbegleiter der modernen totalitären Massenbewegungen gesehen hat. Sie beschrieb sie als Produkte der "bodenlosen" Völker des Ostens und Südens, die niemals erfahren hatten, "was ,patria‘ und Patriotismus eigentlich bedeuten" – nämlich eine gemeinsame Verantwortung für eine territorial umgrenzte Gemeinschaft. Daher stellten sie den westlichen Staatsnationen und Bürgergesellschaften ihre auf die Mystik des "eigenen Blutes" und einer geschichtlichen Auserwähltheit gegründeten Kampfbewegungen und Volksgemeinschaften entgegen. Vieles davon findet sich auch im Panarabismus oder Panislamismus.

Ihren direkten Kontext bilden schließlich die "nationalen Befreiungsbewegungen" der Sechziger- und Siebzigerjahre, die den Prozess der Entkolonialisierung revolutionär beschleunigten, aber auch weit über sich selbst hinaustrieben. Viele Zitate, die die radikalen Linken des Westens damals elektrisierten, lesen sich im Widerschein der brennenden Türme und explodierenden Flugzeuge über Manhattan mit neuer Beklommenheit. Etwa Frantz Fanons Apotheose des befreienden Terrors, wonach der Kolonisierte sich "erst dadurch zum Menschen macht", dass er seinen Kolonialherren mit Weib und Kind eigenhändig abschlachtet. (Sartre hat diesen Akt der Menschwerdung im revolutionären Menschenopfer existenzialphilosophisch weiter vertieft.)

Oder man erinnere sich an Che Guevaras legendären Aufruf zur "totalen Vernichtung des Imperialismus" in einem globalen Völkeraufstand, einem Welt-Vietnam, und an sein Ruhmeslied auf die Soldaten der Revolution, die sich "in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt" haben, um im großen Endkampf, dem Armageddon, in den Tod zu gehen – den sie freudig willkommen heißen, wenn nur "eine andere Hand unsere Waffe ergreift und andere Menschen bereit sind, die Totenlieder mit Maschinengewehrsalven und neuen Kriegs- und Siegesrufen anzustimmen".

Was berechtigt uns anzunehmen, dass der Charakterschauspieler bin Laden für Jugendliche in der islamischen Welt nicht ein ähnlich attraktiver, heute gejagter und morgen märtyrisierter Film- und T-Shirt-Held ist wie damals der "Comandante Ché Guevara"? Der den jungen Revolutionären des Westens aus dem bolivianischen Hochland noch zurief, nun selber den Kampf "in der Brust der Bestie", dem Imperialismus, aufzunehmen. Viele von denen, die diese Botschaft erreicht hat, werden sich mit Beklommenheit fragen, wie sie damals wohl auf die Bilder des 11. September reagiert hätten.

Nein, Mouhammed Atta und Genossen sind uns so unvertraut nicht. Über Gudrun Ensslin sagte 1968 ihr Vater, der Pfarrer, beim Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess, er habe seine Tochter auf der Anklagebank in einem Zustand der "ganz, ganz heiligen Selbstverwirklichung" vorgefunden. Der Kampf der RAF-Kader, von ihrem existenziellen Sprung in den Untergrund über die immer wiederholten Hungerstreiks gegen "Vernichtungshaft" bis zum großen Finale in Stammheim, trug viele Züge eines einzigen, verlängerten suizidalen Amoklaufs.

Ulrike Meinhof schrieb in ihren letzten Gefängnisschriften vor dem Selbstmord: In einer vom Imperialismus markt- und machtmäßig total durchdrungenen Welt gebe es für die Guerilla "keinen Ort und keine Zeit, wo du sagen könntest: von da geh ich aus". Ihr Interpret Peter Brückner fand (zu Recht) gerade in dieser völligen Ort- und Bodenlosigkeit die Grundlage der besonderen, engen Affinität, die deutsche und palästinensische Kämpfer damals verband. Wie jene, lebten "auch die Genossen der RAF ... im ‚Niemandsland’" und war ihnen "jeder Ort ununterscheidbar potenzieller Kriegsschauplatz".

In den Texten der RAF (etwa in der Prozesserklärung von 1976) waren sämtliche inneren und äußeren, sozialen oder politischen Konflikte nur "Ausdruck des globalen Widerspruchs des internationalisierten Kapitals". Mehr als jede Form materieller Ausbeutung beschäftigte sie aber bereits das angebliche Bestreben der weltbeherrschenden USA-Imperialisten, "die Identität des unterworfenen Volkes zu vernichten, das Bewusstsein seiner historischen Existenz auszulöschen" – in Deutschland wie in der Dritten Welt. Es griffe viel zu kurz, darin einen "nationalrevolutionären" Subtext zu sehen. Vielmehr war es, in bester deutscher Tradition, eine totale Kriegserklärung an eine Welt von Feinden, die auch für die RAF in Wall Street, im Pentagon und in Tel Aviv saßen.

Das alles lässt sich nicht als eine Geschichte bloßer "ideologischer Verirrungen" abtun. Noch unsinniger wäre es, alles in einen Topf zu werfen. Saddam ist nicht Hitler, bin Laden nicht Che Guevara, die Taliban nicht die Roten Khmer und Mohammed Atta nicht Andreas Baader.

Wovon wir allerdings sprechen, das ist eine Kette vielfältiger, in ganz unterschiedlichen nationalen und kulturellen Milieus verankerter, höchst realer Versuche, der von den Kernstaaten des Westens her sich entfaltenden bürgerlichen Weltzivilisation eine jeweilige äußerste Antithese entgegenzustellen. Diese Versuche sind allesamt eklatant gescheitert, im Krieg oder im Frieden, auf heroische oder unheroische Weise.

Auch der Islamismus als das historisch letzte Unternehmen dieser Art befand sich vor dem 11. September 2001 längst auf dem Rückzug, ob im Iran oder im Sudan, wo er im Bündnis mit traditionellen Eliten die Staatsmacht okkupieren konnte, oder in Algerien und Ägypten, wo er durch Massenmobilisierungen und organisierten Terror nach der Macht griff. Das archaische Regime der Taliban hielt sich nur noch mit Hilfe massiver, rein taktisch gewährter militärischer und finanzieller Unterstützung von außen und um den Preis einer Massenflucht seiner städtischen Bevölkerungen. Umso mehr war das Land zur territorialen Basis und zum universellen Trainingscamp einer Internationale der extremsten, global agierenden islamistischen Terrororganisationen geworden. Mag "El Kaida" dafür nur eine Chiffre sein – der Krieg gegen den Terror hat sehr wohl seine Adressaten.

Die Anfänge dieser Versuche, sich "dem Westen" als radikale Antithese entgegenzustellen, reichen nach Deutschland und in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Noch ist keineswegs klar, ob wir es heute mit einem völlig neuartigen Weltbürgerkriegs-Szenario des 21. Jahrhundert zu tun haben oder nicht eher mit den letzten Eruptionen eines historischen Zyklus, der 1914 begonnen hatte.

Dieser erste Weltkrieg drehte sich nämlich keineswegs nur um den jeweiligen "Platz an der Sonne", das heißt um imperiale Einflusszonen und materielle Beute. Vielmehr wurde von radikalen Intellektuellen und entwurzelten Massen – zumal in Deutschland – die Kriegsmobilisierung selber als das Mittel einer volksgemeinschaftlichen Zusammenschweißung und eines neuartigen Kriegssozialismus begrüßt. Durch eine Kombination von Autarkie und Planung, im nationalen wie im internationalen Maßstab, sollte es gelingen, das immer dichter geknüpfte Netz einer einheitlichen und eng verflochtenen Weltwirtschaft, deren Zentrum damals noch London war, zu sprengen.

Die totalitären Massenbewegungen sowohl des kommunistischen wie des faschistischen Typus, die in den Ländern der Besiegten und Enterbten des Weltkriegs (Russland, Italien, Deutschland) sukzessive die Macht ergriffen, haben diese Impulse weiter radikalisiert und in hermetische Weltanschauungen, totalitäre Sozialprojekte und neue Weltkriegsszenarien überführt. Dass sie das in heftiger gegenseitiger Rivalität und auf ganz unterschiedliche Weise taten, ändert nichts daran, dass sie es vor allem als Antagonisten eines "Westens" taten, der selbst erst ab 1917 Gestalt angenommen hatte.

In ihrem Kampf gegen das "Versailler System" konnten sie sich im Übrigen auf Verbündete in den radikalen Revolutions- und Reformbestrebungen in den Ländern stützen, die aus europäischer Sicht pauschal als "koloniale Welt" firmierten, während sie selbst sich vielfach als Erneuerer historisch älterer und bedeutenderer Reiche und Kulturen sahen. Diese Bewegungen, von den Jungtürken über die arabischen Sozialisten bis zur chinesischen Kuomintang, verfolgten ihrerseits eine Politik radikaler Autarkie und Homogenisierung, die gegebenenfalls auch die Bereitschaft zur Deportation und Ausrottung ganzer Populationen mit einschloss und nur in einem sehr äußerlichen Sinne als "Modernisierung" bezeichnet werden kann.

Diese unterschiedlichen, von charismatischen Intellektuellen geführten Massenbewegungen und Projekte drückten allerdings mehr aus als die willkürlichen Ambitionen ihrer Führer und Eliten. Sie alle waren durchweg von aggressiven Vernichtungs- und Berührungsängsten getrieben, die teilweise den Charakter einer kollektiven Hysterie annahmen. So war "Versailles" für die deutschen Nazis eben nicht einfach ein ungerechtes, bedrückendes Friedensdiktat, dessen Konditionen zu revidieren waren. Sondern es war, in den Worten Hitlers, ein "Syphilisfrieden", der darauf abzielte, das deutsche Volk überhaupt mit seinen gesunden Selbstbehauptungsinstinkten und seinem künstlerischen Schöpfergeist zu zersetzen und zu vernichten. Versailles war das Synonym für eine totale Bastardisierung und Verjudung des deutschen Volkes als dem letzten Bollwerk der weißen Rasse und des "Ariertums" in der Geschichte.

Einer ähnlichen Logik aggressiver Berührungs- und Vernichtungsängste folgten auch die sowjetischen Säuberungsaktionen gegen die Millionen "Volksfeinde", die stets zugleich Agenten der kapitalistischen Mächte waren, bis hin zu den "Antikosmopolitismus"-Kampagnen der späten Stalinzeit. Aber auch die jungtürkischen Armenier-Massaker oder – um einen großen Sprung zu machen – die Ausrottung aller "Korrupten", das heißt mit der westlichen Kultur jemals in Kontakt gekommenen städtischen Bevölkerungen durch die Roten Khmer, waren von diesen Furien des Verschwindens getrieben.

Dazu hat Hannah Arendt in ihren Reflexionen über "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" einen irritierenden Gedanken beigesteuert. Tatsächlich, schreibt sie, habe die liberal-humanistische Schwärmerei von der einen, unteilbaren Menschenwelt "niemals den Ernst und den Schrecken erfasst, die der Idee der Menschheit ... zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind". Im dichten Völkergemisch des europäischen Südostens als dem Laboratorium der frühen völkischen Nationalismen, so Arendts Gedanke, habe sich womöglich nur erstmals gezeigt, was zur Signatur des Jahrhunderts werden würde: "Je besser die Völker einander kennen lernen, desto mehr scheuen sie begreiflicherweise vor der Idee der Menschheit zurück, weil sie spüren, dass in der Idee der Menschheit ... eine Verpflichtung zu einer Gesamtverantwortlichkeit mitenthalten ist, die sie nicht zu übernehmen wünschen."

Das gibt zumindest einen Begriff davon, welche dramatischen Reaktionen und Regressionen die immer dichtere Kommunikation und immer vielseitigere Abhängigkeit der Individuen, Nationen, Kulturen und Kontinente im 20. Jahrhundert als ihr Gegenstück zwangsläufig mit sich gebracht hat. Und es lässt ahnen, unter welchen Konvulsionen und Rückschlägen die Ausbildung einer tragfähigen Weltzivilisation von vornherein nur denkbar war und ist.

Die entscheidenden Impulse dazu sind unzweifelhaft vom "Westen" ausgegangen, der dabei allerdings seine eigene Gestalt unaufhörlich verändert hat und letztlich nur eine transitorische Größe ist. Vom "Westen" als einer politisch-ökonomisch-kulturellen Größe lässt sich ohnehin erst seit 1917 sprechen. Aber noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bildeten seine Hauptländer (Großbritannien, Frankreich und die USA) längst keine vorgegebene Einheit. Erst durch den Sieg von 1945, dann durch den Kalten Krieg mit dem "sozialistischen Lager", schließlich in den Konflikten mit der neuen "Dritten Welt", hat auch "der Westen" eine klar umrissene Gestalt angenommen – und sich gleichzeitig schon transzendiert.

Jene entstehende Weltzivilisation, die in Gestalt der Türme von Manhattan so tödlich getroffen werden sollte, ist tatsächlich nur in einem sehr vagen Sinne noch "westlich" zu nennen, und in einem noch viel eingeschränkteren Sinne etwa als "christlich" oder "christlich-jüdisch" zu bezeichnen. Mehr als jede andere historische Zivilisation vor ihr und neben ihr ist sie kosmopolitisch und multikulturell geworden – in einem ungleich nüchterneren Sinne allerdings, als solche schwärmerisch besetzten Leitbegriffe suggerieren.

Der mächtige Motor dieses Prozesses ist zweifellos noch immer die Einwanderergesellschaft der Vereinigten Staaten, die jeden Tag ihre Farbe ändert und in den letzten zwei, drei Jahrzehnten, seit der Aufhebung der Rassentrennung im Süden und nach dem Rückzug aus Vietnam, eine erneute stürmische Veränderung ihrer gesamten inneren Konstitution durchlaufen hat. Und gerade der für europäischen Geschmack so penetrante amerikanische Patriotismus ist der wirksame Emulgator dieser bis heute einzigartigen pluralistischen Zivilisation. Das offene Spiel der kulturellen, religiösen und ethnischen Konflikte, das diese Gesellschaft durchzieht und manchmal zu zerreißen droht, ist nichts anderes als der schwierige demokratische "Prozess der Zivilisation" und gegenseitigen Akkulturation.

Was im Kampfbegriff der "Globalisierung" als eine bloße Machination von westlichen Banken, Konzernen und Regierungen erscheint, ist in Wirklichkeit ein Prozess, der sich längst aus eigenen sozialökonomischen Dynamiken heraus entfaltet und dem sich kaum ein Land der Welt mehr entziehen kann, wenn es nicht gerade Nordkorea heißt.

Dieser Prozess ist so antagonistisch und brutal, aber auch so großartig, wie noch jeder Prozess der Zivilisation gewesen ist. Das stellt ihn nicht außer Kritik. Umgekehrt: Zum ersten Mal gibt es rings um die Vereinten Nationen und ihre Nebenorganisationen, die Weltbank, die regionalen Staatenbünde oder die Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter, überhaupt so etwas wie internationale Organe und Instrumente der Steuerung, Milderung und Abfederung, die praktischer Kritik und demokratischer Einflussnahme zugänglich sind. Gerade in den Aktionen der vielfältigen NGOs bilden sich neue, globale Öffentlichkeiten und Netzwerke.

Den militanten "Globalisierungsgegnern" geht es in dieser Hinsicht wie den "Alternativtouristen": Sie selbst sind die Wegbereiter vieler Entwicklungen, die sie pauschal ablehnen oder vehement leugnen. Wie überhaupt in ihren Ausbrüchen noch einmal deutlich zu vernehmen ist, was Pascal Bruckner vor fast zwanzig Jahren das "Schluchzen des weißen Mannes" genannt hat – ein letztes Revival westlicher und europäischer Omnipotenzfantasien im militanten Antiimperialismus oder einer romantisierenden Drittwelt-Solidarität.

Aus dieser emphatischen Anti-Position wird mit verblüffender Leichtigkeit verkannt, dass die "Menschenrechte" eben kein bloßer luxurierender Exportartikel oder heuchlerischer Interventionsvorwand der reichen Länder des Westens sind. Umgekehrt, die Notwendigkeit dieser Menschenrechte (ohne Anführungszeichen!) erweist sich als die elementare Voraussetzung jeglicher zivilisatorischen Höherentwicklung. Die Kriege, Bürgerkriege und Diktaturen in weiten Teilen der ehemaligen "Dritten Welt" sind nicht einfach das Produkt von Armut und Hunger. Sondern in viel größerem Maße sind Armut und Hunger das Ergebnis dieser hausgemachten Kriege, Bürgerkriege und Diktaturen. Alle verbesserten terms of trade<D>, alle Kredite und Entwicklungsprojekte verschwinden im Rachen finsterer Potentaten und Nepoten, wenn es keine Formen demokratischer Kontrolle und Mitwirkung gibt. An dieser Stelle muss der Zirkel des Elends in erster Linie durchbrochen werden.

Im Übrigen: Die Attentäter von New York haben sich nicht auf das Protokoll von Kyoto oder irgendwelche sonstigen Blockaden einer ausgleichenden Entwicklungspolitik durch die USA bezogen. Ihr paranoider, universalisierter Hass hat sich von allen sozialen und nationalen Substraten weitgehend gelöst. Bin Ladens Kriegserklärung gegen "Juden und Kreuzritter" mag in den Ohren der Bewohner westlicher Breiten bizarr klingen. Gemeint ist nichts anderes als das, was in den älteren totalitären Ideologien den "Juden" oder "Bourgeois" zugeschrieben wurde: die moderne, säkulare, pluralisierte, individualisierte, entzauberte Welt.

Hier kommt allerdings eine zusätzliche Komponente mit ins Spiel. Sosehr man "kulturalistische" Deutungen dieses Konfliktes als einen Clash der Zivilisationen zurückweisen möchte – der radikale Islamismus tritt nun einmal als globaler Kulturkämpfer in die Schranken. Die säkulare bürgerliche Kultur als solche verkörpert für ihn einen niederen, schamlosen Materialismus, der alles durchdringt und entweiht  – und gerade auch das Intimste: die menschliche Sexualität mit ihrem Urbild, dem weiblichen Körper.

Die säkulare Zivilisation unterminiert eben nicht nur ein für alle Mal die Herrschaft des Mannes über die Frau und ihre "Ehrbarkeit". Sie überschwemmt den Globus auch mit einer Flut aufreizend ausgestellter weiblicher Präsenz. Diese Profanierung der Sexualität – die mit heidnisch-antiker Nacktheit oder dem kultischen Erotismus alter Kulturen wenig gemein hat – bedeutet in der Tat die endgültige Entzauberung der Welt. Sie ist nicht nur eine Attacke auf die Sinne, die darüber abstumpfen, weshalb die Dosis ständig erhöht werden muss. Sie ist auch eine Herausforderung des Glaubens an die "Schöpfung" – in jenem kreatürlichen Sinne, der am Grunde jeder der großen menschheitlichen Religionen liegt.

Insofern ist es kein Zufall, dass die säkularisierte Weltzivilisation ihren vorläufig letzten globalen Widersacher in einem politischen Islamismus findet, der sich aus dem Fundus der islamischen Orthodoxie freilich nur bedient, um sich für seinen "Griff nach der Weltmacht" einen zusätzlichen affektiven Resonanzboden zu schaffen: den sexuellen Hass.

Das ist so widerwärtig und so bigott, wie jede puritanische Reaktion und Regression es von jeher war. Aber es rührt an Fragen, die eine säkulare und demokratische Zivilisation sich selbst zu stellen hat. Jürgen Habermas hat in seiner Paulskirchen-Rede dieses Dilemma angesprochen: Die aufgeklärte Wissensgesellschaft, die sich der experimentellen Reproduzierbarkeit und universellen Gestaltbarkeit des Menschen selber in seiner physischen Leiblichkeit und womöglich seiner psychischen, intellektuellen und affektiven Ausstattung beunruhigend angenähert hat, verfügt über keine Begriffe, die das Unveräußerbare beschreiben, das in den Weltreligionen als göttliche "Schöpfung" und "Ebenbildlichkeit des Menschen" bezeichnet wurde.

Diesen humanen Kern können die Religionen einer säkularen Gesellschaft allerdings nur weitervermitteln, wenn sie sich selbst der Pluralität der Kulturen und Lebensformen eingemeinden, das heißt zu Konfessionen werden und ihren eigenen Schrecken vor der Idee der Menschheit und der einen Welt überwinden. Einen Vorschein dessen haben die Trauerfeiern für die Opfer des 11. September in New York vermittelt. In der Sprache der Musik und in der Musik der Sprache haben dort die Religionen und Kulturen unmittelbar miteinander kommuniziert wie noch niemals bisher. Das war die erste und die stärkste Antwort von allen.