Ereignisse & Meinungen

Alte und neue Ordnungen

Redaktion: Balduin Winter

Unter dem Titel "Islam, Islams" hat Le Monde am 6. 10. ein Dossier von Artikeln zusammengestellt, die seit dem 11. September erschienen sind. "Antiterroristische Weltkoalition, ‚Krieg der Zivilisationen‘, neuer ‚Faschismus‘, umgekehrter Spiegel der Globalisierung, ‚Gründungsereignis‘ des 21. Jahrhunderts ... Wenn die Begriffe Walzer tanzen, ist es nützlich genau nachzufragen: Wie lauten die Grundfakten? Worüber spricht man überhaupt?"

In einem Interview wehrt sich Mohamed Arkoun, emeritierter Professor der Islamwissenschaften an der Sorbonne nouvelle (Paris III), vehement gegen den Pauschalverdacht, dass die Gewalt ein substanzieller Bestandteil des Islam wäre: "Das bedeutet, den Islam von der ganzen anthropologischen Problematik der Gewalt zu isolieren. Längst bevor der so genannte Islam sich einmischte, gab es in allen primitiven Gesellschaften grausame Riten und Akte kriegerischer Gewalt. Und das setzt sich in unseren so genannten modernen Gesellschaften fort." Was den Islam betrifft, gab es eine geistige Entwicklung, die der europäischen weit voraus war. "Ja, es gab einen arabischen humanistischen Gedanken im ganzen Mittelalter, begründet auf der Philosophie, der Moral und der Religion. Was hat sich ereignet, weshalb können wir in der Gegenwart nicht mehr davon sprechen? Was ist aus diesem toleranten Humanismus geworden? Das ist ja kein Fehler des Korans, da er die humanistische Bewegung nicht an ihrem Praktizieren zwischen Cordoba und Teheran gehindert hat. Was ins Spiel kommt, ist die ökonomische und militärische Geschichte des Mittelmeerraums seit dem 12. und 13. Jahrhundert, seit jener Epoche, da Europa zu seinem intellektuellen, wissenschaftlichen und technischen Aufschwung ansetzt und dominierend wird. Die eingebildete Rivalität wird eine militärische und wendet sich insbesondere gegen die Handelsrouten." Arkoun beschreibt im Weiteren das allmähliche Verschwinden der politischen Zentren des Islams (er bezieht sich im Wesentlichen auf Nordafrika), die zugleich auch die Stätten des arabischen Humanismus waren. Die kolonisierenden Franzosen fanden schließlich islamische Bruderschaften, aber keine Staaten mit politischen Institutionen vor. Es war ihnen ein Leichtes, Fragmente ihrer Modernität einzuführen.

"Das Umkippen, das im letzten Teil des Jahrhunderts eintreten wird, sagen wir, zwischen 1960 und 2000, vollendet diese Periode, und es ist fürchterlich. All diese Gewalt wird dem Islam zur Last gelegt, dabei ist das eine Gewalt, die viel mehr gebunden ist an die Dialektik der politischen und ökonomischen Kräfte, die seit dem 13. Jahrhundert am Wirken waren, verstärkt durch die Kolonisation und durch die Befreiungskriege." Gewalttaten wie Selbstmordattentate sieht er durch keinerlei Auslegung des Koran gedeckt ("complètement décontextualisé ..."). Dem Islam billigt er aufgrund seiner Geschichte die Fähigkeit zu Entwicklung und Entfaltung zu: "Der Reformismus ist einer der Pfeiler in der Geschichte des Islam gewesen." Dem Verweis auf große historische Denkschulen folgt freilich eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart. Wiederum Algerien im Blick, fasst er zusammen: "Seit die nachkolonialen Staaten die Macht ergriffen haben, hat sich der Rahmen völlig verändert. Man hat einer Verstaatlichung der Religion beigewohnt, wobei der Minister für religiöse Angelegenheiten alle Beschlüsse unter der Kontrolle der Einheitspartei traf. Da kann man nicht länger von Reformismus sprechen. Die Oulemas sind die Stimmen ihres Meisters, der sie zahlt. Seit 1945 monopolisiert der nationale Diskurs alle Kräfte. Es gibt nur die Alternative zwischen der ideologisierten Ausformung und der fundamentalistischen Übertragung der Religion." Arkoun entwirft, in Anlehnung an Fernand Braudel, einen Völker und Kulturen übergreifenden "mittelmeerischen Gedanken". Man dürfe nicht einer Polarisierung der beiden Seiten des Mediterrans freien Lauf lassen, die Muslime dürfen nicht auf ihre Weise das "Fantasma des europäischen Blicks" auf den Islam betreiben. Braudels Gedanke allerdings, "demzufolge man alle Protagonisten beachten muss, die das Gesicht der Völker des Mediterrans gestaltet haben, ist jedoch noch nicht einmal bei den Franzosen selbst angekommen".

Am 4.10. setzte sich Ali Laïdi in Le Monde mit der saudi-arabischen Frage auseinander. 1979 ist für ihn eine Art strategischer Wendepunkt. "Um die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien zu erklären, muss man bis zu den Ereignissen von 1979 zurückgehen. Auf dieses Jahr fällt der Beginn der Macht des Imam Khomeyni in Teheran, wodurch die Sicherheitsfrage in dieser Region völlig erschüttert wird. Mit dem Schah im Iran und dem saudischen Regime in Riyad hatten die USA epochal die Basen ihrer auswärtigen Politik im Golf aufgestellt, auch ‚die Theorie der zwei Pfeiler‘ genannt: der politische Pfeiler im Iran und der finanzielle Pfeiler in Saudi-Arabien." In der Folge erklärte Washington den Golf zu einer strategischen Zone ersten Ranges, ihr Hauptverbündeter Saudi-Arabien wurde enorm aufgerüstet. Grob gerechnet ein Viertel seiner Rohöleinnahmen zahlt das Land jährlich für militärisches Material aus den USA und ist höher gerüstet als Israel. Ali Laïdi beschreibt kurz das absolutistische Fürstenregime und die zunehmende Opposition, die oft durch islamistische Geistliche ausgeübt wird. Seit 1995 ist es auch zu einer Reihe von Attentaten gegen US-Einrichtungen gekommen. Nun kommen auch noch einige der New Yorker Attentäter aus Saudi-Arabien. Die US-Dienste haben zwar die saudische Spur nicht öffentlich erwähnt, aber die Beziehungen sind belastet, beide Verbündete haben viel zu verlieren. "Die Spannung, die zwischen den beiden Ländern entstand, könnte die Saudis dazu drängen, den Abzug der amerikanischen Truppen zu verlangen, was dem gegenwärtig fragilen Gleichgewicht der Kräfte in der Region einen Stoß versetzen und destabilisieren würde. Letztlich würde der zweite Pfeiler der amerikanischen Politik im Mittleren Osten fallen, zwanzig Jahre nach dem Fall des ersten."

Jenseits des Kanals wurde der 8. Oktober zum einschneidenden Datum, beteiligt sich doch Großbritannien gemeinsam mit den Vereinigten Staaten an den militärischen Aktionen in Afghanistan. Da wurden auch in der Publizistik Erinnerungen an alte Größe wach. Einigen Autoren geht es gleich um die Neuordnung der Welt nach alten kolonialistischen Mustern, freilich mit UNO-Mitteln, die sich diesem Zweck nicht so recht einfügen wollen. Martin Wolf schreibt in der Financial Times vom 10.10. unter dem Titel "Ein neuer Imperialismus wird gebraucht". Er fordert Tony Blair auf, die Situation zu nutzen, um "die Welt neu zu ordnen". Dazu bedarf es aber tief greifender Änderungen, etwa "unserer Auffassung von nationaler Souveränität". Wolf, Spezialist für Probleme der Weltwirtschaft, geht es in seinem Eifer um weit mehr als den Kampf gegen den Terrorismus. Er beruft sich auf die These eines britischen Diplomaten, der von der Herausbildung von "Chaoszonen" durch die Häufung "gescheiterter Staaten" spricht. Zu diesen gehören Afghanistan und Jugoslawien. "Soll ein gescheiterter Staat gerettet werden, müssen die wichtigsten Bestandteile einer ehrlichen Regierung – vor allem der Zwangsapparat – von außerhalb eingeführt werden. Genau das macht der Westen zurzeit im ehemaligen Jugoslawien. Um der Herausforderung zu begegnen, die ein gescheiterter Staat darstellt, bedarf es nicht frommer Wünsche, sondern offener und organisierter erzwingender Gewalt. Diese Vorstellung ruft aus zwei Gründen Ablehnung hervor: Weil der Imperialismus suspekt bleibt, und weil der Aufwand etwas kosten wird. Doch kann man dieser Kritik entgegnen. Irgendeine Form eines vorübergehenden Protektorats der UNO kann bestimmt errichtet werden."

Auch im Wall Street Journal findet sich tags zuvor ein kämpferischer Artikel eines Briten, des Historikers Paul Johnson. In ehemaligen "Terroristenstaaten" entdeckt er "eine neue Art Kolonie", die der Westen sich einverleibt. "Amerika und seine Verbündeten werden vielleicht, zumindest vorübergehend, hartnäckige Terroristenstaaten nicht nur mit Truppen besetzen, sondern auch verwalten. Das wird voraussichtlich nicht nur für Afghanistan notwendig sein, sondern auch für den Irak, Sudan, Libyen, Iran und Syrien. Demokratische Regierungen, die die internationale Rechtslage respektieren, sollen möglichst eingerichtet werden, doch dürfte eine westliche Militärpräsenz in einigen Fällen unvermeidbar sein. ... Wenn alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der UNO in unterschiedlichem Maße die amerikanische Initiative unterstützen, wie das derzeit der Fall ist, dann sollte es nicht zu schwierig sein, eine neue Form eines UNO-Mandats zu entwerfen, das terroristische Staaten einer verantwortungsvollen Aufsicht unterstellt." Johnson denkt dabei an "die Wiederbelebung des Mandatsystems des alten Völkerbunds", denn "Syrien und Irak waren einmal äußerst erfolgreiche Mandatsgebiete, und auch Sudan, Libyen und der Iran waren durch internationale Abkommen besonderen Regierungsformen unterworfen worden". Da dieses System einmal "als ‚respektable‘ Form des Kolonialismus gute Dienste leistete", lautet Johnsons Generallinie auch: "Die Antwort auf den Terrorismus? Kolonialismus!"

Im Fall Afghanistan ist ein UN-Mandat durchaus denkbar, ohne dass man gleich ein kolonialistisches System für den halben Orient dazufantasieren muss. Eine andere Sichtweise des Krieges, unterlegt mit britischem Sarkasmus vom Feinsten, demonstriert John Le Carré in der FAZ (17.10.). Von den wilden Kampfesrufen seriöser englischer Blätter ausgehend fragt er, gegen wen die Schlacht geführt und wie sie ausgehen wird, auch, "wie man verhindert, dass unser Erzfeind ein Erzmärtyrer in den Augen all jener wird, für die er ohnehin schon eine Art Halbgott ist?" Kein Zweifel, bin Laden müsse bestraft werden, aber "nach den üblichen Gesetzen des Terrorismus ist dieser Krieg natürlich schon längst verloren. Und wir – welchen Sieg können wir überhaupt erringen, der unsere erlittenen Niederlagen wettmachte, ganz zu schweigen von denen, die uns noch bevorstehen?" Le Carré zieht kräftig vom Leder, es geht ihm um Menschenrechte, und es ärgert ihn, dass Putin und Tschetschenien plötzlich von der Agenda verschwunden sind, er ist gegen "Wirtschaftskolonialismus" (aha, ein Globalisierungsgegner ...), er fragt nachdrücklich, wo denn der Krieg gegen die "unspektakulären Feinde der Menschheit" geführt werde, "Armut, Hunger, Sklaverei, Tyrannei, Drogen, Krieg, Rassismus, religiöse Intoleranz, Habgier". Und es scheint, als passe ihm nichts an den Kriegsherren: "Und Mr. Bush – und Sie auch, Mr. Blair! –, kommen Sie uns bitte nicht mit Gott. Sich vorzustellen, dass Gott Krieg führt, hieße, ihm die schlimmsten Torheiten der Menschheit zuzutrauen. Wenn wir auch nur irgendetwas von Gott wissen (was ich von mir nicht behaupte), dann wohl, dass er eher für abgeworfene Lebensmittelpakete ist, eher für engagierte Ärzteteams, gute Zelte für die Flüchtlinge und Trauernden und ein aufrichtiges Eingeständnis unserer Verfehlungen und die Bereitschaft, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen."

Bei allem Pessimismus, bei aller Skepsis, bei aller scharfzüngigen Kritik landet Le Carré bei der Einsicht, dass es – "noch nicht" – um eine neue Weltordnung gehe. "Es ist eine furchtbare, notwendige, demütigende Polizeiaktion, die das Versagen unserer Geheimdienste wettmachen soll und unsere politische Blindheit, die uns dazu brachte, islamische Fanatiker zu bewaffnen und als Kämpfer gegen die sowjetische Invasion zu instrumentalisieren. Und sie dann in einem verwüsteten Land ohne Führer sich selbst zu überlassen. Nun ist es unsere elende Pflicht, ein paar modern-mittelalterliche religiöse Eiferer zu jagen und zu bestrafen ..."