Politischer Fundamentalismus und fundamentalistische Politik in den USA

Dick Howard

Bill Clintons Aussichten, die bevorstehenden Wahlen zum Präsidenten zu gewinnen, sind gut. Sicher ist daß die USA auch nach diesen Wahlen durch eine eigenartige Verknüpfung von Religion und Politik geprägt bleiben. Dick Howard nimmt die Einflußnahme fundamentalistischer Pressure-Groups auf den Vorwahlkampf und die Wahlplattform der Republikaner zum Ausgangspunkt seiner Analyse dieses paradoxen Verhältnisses, in dem religiöse Abtreibungsgegner nur den auffälligsten Aspekt bieten.

Die politische Mehrdeutigkeit des Religösen

Die "Demokratisierung" der Vorwahlen, in denen die Präsidentschaftskandidaten ausgewählt werden, hatte eine unbeabsichtigte und negative Konsequenz: Da nur die Wähler es für nötig halten, an diesen Wahlen teilzunehmen, die am engagiertesten (oder am wütendsten) sind, müssen die Vorwahlkandidaten ihre Wahlplattformen und Versprechungen radikalisieren. Für die eigentliche Entscheidung müssen sie dann einen Weg zurück zur Mitte finden, in der die Wahlen gewonnen werden. So war das mit dem Triumph und der Tragödie George McGoverns und der Antikriegsbewegung, und so ist das heute, wo ein eher gemäßigter und zentristischer Bob Dole polarisierende Positionen zu sozialen Themen (insbesondere zur Abtreibung, aber auch zur Reform der Einwanderungsgesetze, zur Sozialhilfe und Gesundheitsreform) unterstützen mußte, besonders um die Ansprüche derer zu befriedigen, die sich "Christian Coalition" nennen.

Unter dem Druck liberaler republikanischer Gouverneure wie Whitman, Weld und sogar Patacki versuchte Dole dann als Kandidat seine Haltung zu mäßigen. Das war keine leichte Aufgabe, wie schon der Aufschrei gezeigt hatte, den Doles Versuch hervorrief, beim Abtreibungsrecht einen "Schwerpunkt Toleranz" in das Parteiprogramm einzufügen.

Doles Dilemma veranschaulichte die Tatsache, daß "Fundamentalisten" eine wichtige Kraft in der republikanischen Partei darstellen. Aber ist das etwas Neues und eine Gefahr für die Demokratie?

Wenn wir an 1988 zurückdenken, so trat da Reverend Pat Robertson offen gegen die Nominierung des damaligen Vizepräsidenten Bush auf mit dem Anspruch, für die "moralische Mehrheit" zu sprechen. Das war etwas Neues, wenn auch kurzlebig. Seine Niederlage führte zur Rückkehr zum traditionellen Muster: der Einflußnahme, ohne direkt in Erscheinung zu treten. Tatsächlich konnte man seit Tocqueville die Religion gerade deshalb in Blüte sehen, weil sie von der Politik getrennt bleibt. In diesem Sinne will die "moralische Mehrheit" eher soziale Reform als politische Veränderung. Dieses Bild gewinnt man auch über die Predigten, die auf den verschiedenen Kabelkanälen der Tele-Evangelisten zu sehen sind. Im Negativen wird diese begrenzte Funktion auch durch die Finanz- (und Moral-)skandale solcher Medien-Prediger wie Jim und Tammy Bakker oder Jimmy Swaggart demonstriert. Reverend Robertsons Ziele waren dennoch nicht so eigenwillig oder außergewöhnlich. Die subtilere Rolle, die Ralph Reeds Christian Coalition spielt, ist keine Rückkehr zum traditionellen amerikanischen Muster. In Wirklichkeit könnte dieses durch die "liberale" Trennung von Öffentlichem und Privatem, Politischem und Sozialem gekennzeichnete Muster die Ausnahme sein.

Schließlich ist die Trennung zwischen Religiösem und Weltlichem nicht wasserdicht und beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig der tatsächlichen oder eingebildeten Einmischung. Ein öffentliches Krippenspiel oder ein siebenarmiger Leuchter, auf einem öffentlichen Platz aufgestellt, können leidenschaftliche Liberale zur Klage vor dem obersten Bundesgericht veranlassen; fundamentalistische Eltern beklagen sich regelmäßig über den Inhalt von Schulbüchern, und Verleger geben - öfter als man gerne zugibt - lieber nach, als daß sie den Verlust von Marktanteilen riskieren. So dauern alte Debatten an, die in Frage stellen, was schon entschieden schien und die Grenzen in Zweifel ziehen, die schon abgesteckt schienen.

Zum Beispiel erklärt die New York Times vom 6. März 1996: "70 Jahre nach dem Scopes-Prozeß" lebe die Debatte um die Schöpfung als einzig zulässige Welterklärung in dem erneuten fundamentalistischen Versuch wieder auf, in verschiedenen Staaten den Darwinismus durch eine auf die Bibel gegründete "Wissenschaft" zu ersetzen.

Die Sache wird dadurch kompliziert, daß der Einfluß von Religion auf das politische Leben nicht auf die Rechte beschränkt ist. Wer kann sich zum Beispiel die Bürgerrechtsbewegung ohne Unterstützung durch Glauben und Kirche - nicht nur schwarze Kirchen übrigens - vorstellen? Martin Luther King war ein Baptistenprediger und seine Bewegung hieß "Southern Christian Leaderdship Conference". Zur Zeit seiner Emordung war Pastor King in Memphis, um seine Unterstützung für die streikenden Arbeiter der Müllabfuhr zu demonstrieren. Je intensiver man sich die amerikanische Geschichte ansieht, desto mehr findet man scheinbar paradoxe Allianzen von religiösem Glauben und populistischen demokratischen und egalitären Zielen. Dies sollte uns nicht überraschen: Schließlich rief das befreiende Wort Luthers sowohl die Anhänger Thomas Müntzers als auch Calvins Genfer Politik auf den Plan. So vertritt, um zur zeitgenössischen amerikanischen Politik zurückzukehren, der sehr amerikanische (und katholische) Verteidiger des Schöpferglaubens als Wissenschaft und zunächst überraschend erfolgreiche Kandidat für die Nominierung durch die Republikanische Partei, Pat Buchanan, heftig die Sache einer durch die ökonomische Globalisierung bedrohten Arbeiterklasse. Kurz gesagt kann Religion weder auf ein einstimmiges Phänomen reduziert werden noch wird Politik in einem, wie es ein religiöser Neokonservativer (Richard J. Neuhaus) ausdrückte, "nackten öffentlichen Raum" ausgeübt.

Die Wurzeln des Fundamentalismus

Die These von Max Webers Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ist wohlbekannt. Weber versucht das Entstehen eines "innerweltlichen Asketismus" zu erklären, aus dem ein Aktivismus entspringt, der die traditionelle Gesellschaft modernisiert. Die strenge Lehre der Prädestination und die Undurchschaubarkeit der göttlichen Gnade eines verborgenen Gottes halten das Individuum in einem Zustand des Zweifels, der Qual, der Furcht angesichts der Drohung ewiger Verdammnis. Daraus ergeben sich drei Konsequenzen:

1. Kein Zeichen gestattet es mir, mein Schicksal oder das meines Nachbarn zu kennen; im Ergebnis konnte der Calvinismus eine Religion der Toleranz werden, die eine Vielfalt des Glaubens und seiner Ausübung entstehen ließ.

2. Ebenso ergibt sich eine Verhaltensmethode, ein Wunsch, hier auf Erden so zu arbeiten, wie es zumindest vereinbar ist mit dem, was für den göttlichen Willen gehalten wird ... Und daraus entspringt der Geist und dann die Realität des Kapitalismus. 3. Aber gerade dessen Erfolg tendiert dazu, die religiösen Strukturen zu destabilisieren, die ihn hervorbrachten - und dies erklärt den Pessimismus von Webers Schlußfolgerung, wie er sich in seiner berühmten These von der Entzauberung der Welt ausdrückt.

Wir scheinen in einer Weberschen Welt zu leben, in der die ältere methodische Rationalisierung der Welt zu einer Gesellschaft führte, die von einer mächtigen ökonomistischen Logik beherrscht wird. Für die Vereinigten Staaten, die Weber sehr gut kannte, beschrieb er ein "Rennen nach Reichtum ohne jeden ethischen und religiösen Sinn", das zu einer Art Sport geworden sei. Und daraus folge, daß "niemand weiß, ob das Ergebnis dieser phantastischen Entwicklung die Wiedergeburt alter Ideen und Ideale ist oder wir statt dessen einer mechanisierten Versteinerung entgegengehen, verschönert durch ein Verhalten, das sich selbst zu ernst nimmt." Bedeutet das, daß die Rationalisierung, die für Weber übereinstimmt mit der modernen (und kapitalistischen) Welt, zu ihrer eigenen Negation führt? In diesem Fall wäre der Fundamentalisten Wiederkehr des Religiösen eine "charismatische" Art und Weise, in der eine versteinerte Geschichte einen neuen Anfang nehmen würde. Oder sollte man dem späten Weber, dem, der die Bedeutung der "Politik als Berufung" in Frage stellt, folgen und zwischen der Gesinnungsethik (die im Grunde religiös ist) und der Verantwortungsethik (die sich auf einen bestimmten noch zu klärenden Begriff von Politik gründet) unterscheiden? Es ist zu früh, diese Frage zu beantworten. Aber wir sollten uns in Erinnerung rufen, daß Weber selbst einen "Krieg der Götter", den keine Rationalität lösen könnte, vorausgesagt hat.

Diese Webersche Lesart der Gegenwart bringt mich dazu, einen der innovativsten Aspekte des "Protestantischen Fundamentalismus" in den USA herauszustellen. Das jüngste Buch des amerikanischen Theologen Harvey Cox - Autor von Secular City (1968), ein Buch, welches eine beschleunigte Verweltlichung und Verstädterung der modernen Gesellschaften voraussagte - heißt Fire From Heaven - oder genauer in seiner französischen Übersetzung "Die Wiederkehr Gottes". Der französische Titel legt nahe, daß der Autor seine früheren Thesen bezüglich der Entwicklung der Moderne in Frage stellt. Aber tatsächlich verbirgt er die Stoßrichtung der vom Autor neu entwickelten Thesen, wie sie im Untertitel der amerikanischen Ausgabe angedeutet werden: "Der Aufstieg der Pfingst-Spiritualität und die Umgestaltung der Religion im 21. Jahrhundert."

Harvey Cox unterscheidet zwischen Fundamentalismus, der die Identität der Gläubigen durch den Rückgriff auf ein formales und geschriebenes Gesetz festlegt, und dem Pfingst-Geist, der sich der Zukunft und der Hoffnung öffnet. Die Fundamentalisten bekämpfen die Moderne in all ihren Formen, wohingegen die Pfingstler die kalten und leeren Buchstaben einer Kirche, die der individuellen Erfahrung des Religiösen fremd geworden ist und, mehr noch, die etablierten sozialen Strukturen heiligt, ablehnen. Impliziert wird damit, daß Fundamentalismus im Dienst einer konservativen Lesart des soziopolitischen Lebens benutzt werden kann und daß er sich von dem Traum eines reinen und gläubigen Amerika, welches angeblich einst existierte, fesseln läßt. Die von der Hoffnung aufs Millenium getriebenen Pfingstler sehen auf der anderen Seite in eine Zukunft, die von ihren Träumen mit Inhalt gefüllt wird. Harvey Cox besteht auf der Anziehungskraft einer solchen religiösen Erfahrung unter den Armen, den Ausgeschlossenen - jenen 87 Prozent der Weltbevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben.1

Dieser Analyse zufolge würde Fundamentalismus zu rechter Politik führen, das Pfingstlertum zur einer linken Version. Aber Harvey Cox kommt, nachdem er diese These mit Hilfe einer Rundreise durch das Pfingstler-Welt-Universum zu festigen sucht, auf die Vereinigten Staaten zurück, wobei er zeigt, wie das Pfingst-Erwachen eine demokratische Revolte gegen die herrschenden Oligarchien ins Leben zu rufen scheint. Und hier muß er zugeben, daß die Pfingstler sich genauso in eine nationalistische und antisemitische, größenwahnsinnige und paranoide Politik einfangen lassen können. Tatsächlich ist einer der wichtigsten Sprecher der Bewegung kein anderer als jener Reverend Pat Robertson, der uns zuvor als Präsidentschaftskandidat von 1988 begegnete. Diese Bewegung, die sich "Dritte Welle" nennt, hat eine neue politische Kosmologie erfunden, nach der - was immer auch ihre bewußte Intention sein mag - Jimmy Carter, die Freimaurerlogen, der Rat für ausländische Beziehungen und sogar George Bush im Bündnis mit Wall Street und der Kommunistischen Internationale, Luzifers Arbeit tun, indem sie eine neue Weltordnung zu errichten suchen.2 Harvey Cox gibt zu, daß er "desillusioniert", "wütend", "verzweifelt" und wirklich beängstigt in die Zukunft sieht, falls solche Personen in den Vereinigten Staaten an die Macht kommen sollten. Der einzige Trost für ihn (und seine These) ist festzustellen, daß solche paranoiden Theologien nur in weißen Gemeinden Wurzeln schlagen. Das ist zugegebenermaßen ein ziemlich schwacher Trost in einem Amerika, das seit langem durch die Rassenfrage gespalten ist!

Warum Politik?

Wie soll man den Übergang vom Religiösen zum Politischen erklären? Sollte man nicht doch dem Kaiser geben, was des Kaisers ist? Tatsächlich war die Beteiligung von "Fundamentalisten" an der Wahlpolitik bis vor kurzem ziemlich niedrig. Für sie zählte die Vorbereitung auf die andere Welt, Gehorsam gegenüber den göttlichen Befehlen und die Demut der fleischlichen Wesen in diesem Jammertal.

Eine ökonomische Erklärung, die die zeitliche Koinzidenz zwischen der langen, mit dem Ölschock 1973 beginnenden Krise und der politischen Wendung zur neuen Religiosität betont, ist verlockend. Schließlich leiden die "kleinen Leute" unter diesen ökonomischen Bedingungen, während ungezügelte Spekulation Nichtstuer bereichert. Das würde die Dämonisierung der neuen Weltordnung erklären. Die Wendung ins Paranoide würde durch die Tatsache erklärt, daß die Präsidentschaft eines der ihrigen, Ronald Reagans, dieses Bild nicht viel verändert hat. Dieselbe Art der Analyse würde unterstellen, daß die Weißen, die in der neuen Bewegung aktiv sind, von deren Ablehnung eines Staates angezogen werden, der ihrer Meinung nach ihre Steuergelder an wertlose Kreaturen verschwendet, von denen sie (fälschlicherweise!) annehmen, sie seien in der Mehrzahl farbig. Dieser Anblick, Bereicherung einer Gruppe und Verarmung der anderen, würde erklären, warum "soziale" und "moralische" Fragen auf einmal eine politische Rolle spielen können: Wenigstens so, sagen die Leute sich, können wir uns Gehör verschaffen, unsere Werte zur Geltung bringen und uns als Mitglieder der Gesellschaft fühlen.

Diese sozioökonomische Analyse ist sicher nicht falsch, aber sie ist unvollständig. Mehr noch, sie anzunehmen, kann ein Gefühl der Ohnmacht angesichts der zu starken, nicht zu bewältigenden Mächte fördern. Tatsächlich könnte gerade diese Hinnahme einen weiteren Aspekt des Erfolges der paranoiden politischen Kosmologie der "Dritten Welle" erklären. Schließlich bekräftigt diese Kosmologie die Verschwörungsthesen und unterstützt so den Glauben mit einem scheinbaren Beweis, der auf Lucifers Agenten in den Kostümen der Spekulanten und ihrer Unterstützer zeigt.

Aber wenn man dem Kaiser geben muß, was des Kaisers ist, muß man auch Gott geben, was Gottes ist. Harvey Cox betont den Übergang von einer prämillenarischen Theologie zu einem postmillenarischen Glauben. Der prämillenarische Glaube nimmt an, daß die letzten Tage durch eine Reihe von Katastrophen angezeigt werden, den Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Ankunft Gottes, der so zurückkommt, bevor sein Reich errichtet ist. In diesem Fall ist es nutzlos, seine Zeit in der profanen säkularen Welt zu verschwenden. Die postmillenarische Vorstellung geht davon aus, daß langsam Gerechtigkeit auf der Welt hergestellt und damit die Ankunft Gottes vorbereitet wird, der eine gereinigte Welt weihen wird. Diese Version der biblischen Geschichte fördert natürlich politisches Engagement. Dieses Engagement, "Herrschaftstheologie" genannt, basiert auf einer Passage der Genesis (1,27) in der Gott befiehlt, der Mensch solle seine Herrschaft "über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über jedes Leben, das sich über das Angesicht der Erde bewegt" errichten. Diese Passage scheint zu fordern, daß der Mensch jetzt und heute allem, was auf dieser Welt existiert, seine Gesetz aufzwingen soll: Institutionen genauso wie Männern und Frauen, die sich weigern, das göttliche Gesetz zu befolgen. Nur so kann die Ankunft Gottes vorbereitet werden.

Diese theologische Verschiebung hat gefährliche politische Konsequenzen. In seinem Buch Die neue Weltordnung erklärt Reverend Robertson: "Es wird keinen Weltfrieden geben, bis Gottes Haus und Gottes Volk ihre gerechte Führungsposition an der Weltspitze erhalten haben. Wie kann da Frieden sein, wenn Trunkenbolde, Kommunisten, Atheisten, New Age-Satansanbeter, weltliche Humanisten, unterdrückerische Diktatoren, gierige Geldwechsler, revolutionäre Mörder, Ehebrecher und Homosexuelle an der Spitze sind?" Mit dieser theologischen Verschiebung befinden wir uns im Heim der wirklich "politisch Korrekten". Wie kann man verstehen, was in ihnen vorgeht? Warum, wie Harvey Cox beschreibt, leben sie vor allem in den Vereinigten Staaten?

Sehr amerikanische Politik

Man muß die Beziehung zwischen dem, was die Religion von Amerika genannt wird, und der Religion in Amerika in Betracht ziehen, um diese neue theologisch-politische Haltung zu verstehen. Indem die Amerikaner aus Europa und vor dessen sozialer Hierarchie flohen, lehnten sie die Idee einer etablierten Kirche, welche eine neue soziale Elite gesalbt hätte, ab. Die amerikanischen Kirchen waren konfessionell und existierten in der soziologischen Form von Sekten. Das heißt, man gehört ihnen nicht durch Geburt an, sondern tritt ihnen durch die individuell freie Entscheidung basierend auf einer geistlichen Erfahrung bei. (Daher das "Wiedergeburts"-Phänomen heute). Aber diese individuelle Freiheit erklärt die Stärke der Sekten genauso wie deren Schwäche. Um Dauer zu erlangen, müssen diese Sekten ihre Liturgie rationalisieren und festlegen. Aber diese neue, an Regeln gebundene Form wird früher oder später als Einengung erfahren, als Herrschaft des Buchstabens über den Geist und als Heiligung einer sozialen Hierarchie, die jene auf den unteren Rängen der Gesellschaft ablehnen werden. Diese ausgeschlossenen Schichten werden daher die Sekte verlassen und selbst eine neue bilden, die nun ihrerseits gezwungen ist, Regeln zu entwerfen und ihre Doktrin zu versteifen, und sich damit selbst den lebendigen Quellen der Spiritualität verschließt.

Diese religiöse Spaltbarkeit würde sowohl den verschärften Individualismus der Amerikaner als auch ihren populistischen Antietatismus erklären.3 Auf die gleiche Weise würde der amerikanische Egalitarismus aus der Betonung der Gleichwertigkeit der spirituellen Erfahrung jedes Individuums entspringen. Daher konnte Gleichheit eine Bedeutung erlangen, die nicht eine reale Gleichheit der Bedingungen meint, sondern nur die Garantie der Möglichkeit, in den sozialen Wettbewerb ohne vorgegebene Handicaps einzutreten. Hiermit ist impliziert, daß jeder sich kontinuierlich verbessern kann - und also muß! - und daß die Person, die damit nicht zu Rande kommt an der eigenen Niederlage selbst Schuld hat und für ihre Fehlschläge kritisiert werden kann; mehr noch, daß sie unmoralisch ist und weder unser Mitleid noch unsere Hilfe verdient... Schließlich hätte sie in der gleichen Weise, wie sie ihre Konfession wählen konnte, auch ihren Weg zum Heil wählen können, wenn sie nur gewollt hätte.

Diese Art, seinen religiösen Glauben in Amerika zu leben, hat Konsequenzen für das, was die Religion von Amerika genannt werden kann. Amerika wurde als das neue Israel angesehen: Europa war Ägypten, Amerika würde das gelobte Land sein. Das unabhängige Amerika wurde so eine Art Kirche, dessen Liturgie von der Verfassung formuliert wurde... aber diese Kirche wird von individualistischen und egalitären Protestanten bewohnt. So wird Amerika als die Verkörperung des Guten gelebt, ein Gutes, das keine Kompromisse mit dem Bösen eingehen darf. Deshalb kann man nur in den Vereinigten Staaten seinen Mitbürger mit einem Vorwurf beschuldigen, er sei "unamerikanisch". Amerika ist eine Art lebendiger Ideologie, die man in der gleichen Weise wählt wie seine Konfession. Man glaubt oder glaubt nicht - so einfach ist das. Aber da der Glaube Ausdruck eines Willensaktes ist, ist auch das Böse Ergebnis eines Willensaktes - ein Böses, das mit aller verfügbaren Energie bekämpft werden muß. Und da der Wille durch ja oder nein ausgedrückt wird, muß alles, was in die Grauzone der Unsicherheit fällt, zurückgewiesen werden. Das paradoxe Resultat: Ein Individualismus, dessen Wurzeln sowohl populistisch als auch demokratisch sind und der sich in einer Vielfalt religiöser Sekten ausdrückt, wird messianisch: steif, exklusiv und doktrinär.

Diese US-amerikanische Form religiösen Lebens könnte erklären, warum US-amerikanische Pfingstler sich in paranoiden religiösen Kosmologien verfangen können. Diese Religion der Nation hilft, die Verwandlung von Prä- zu Postmillenaristen zu verstehen. Der individualistische und egalitäre kritische Geist, der sich im Leben amerikanischer Sekten zeigt, wollte Tugend institutionalisieren. Dabei verwandelte er individuelle Religiosität in eine Art politische Moral. Aber der voluntaristische Aspekt, der zur Religiosität der protestantischen Sekten gehört, und der Perfektionismus, den er voraussetzt, verliehen dieser politischen Moral eine jeden Kompromiß mit dem Bösen ablehnende, utopische Orientierung. Deshalb kann der Pfingst-Geist (in Amerika) eine neue Form dessen werden, was Cox als fundamentalistischen Konservativismus beschreibt.

Wie mit dem Religiösen umgehen?

Sollte man den fundamentalistischen Gebrauch der Religion durch einen besseren ersetzen? Die Gefahr wäre, daß die Politisierung der Religion keinen Raum für Politik im eigentlichen Sinn lassen würde, und das sollte an der Politik der Fundamentalisten welcher Schattierung auch immer kritisiert werden.

Es wäre besser, sich selbst zu fragen, was diese neue Erfahrung des Religiösen uns über die Natur von Politik lehrt. Hier sollte man sich der Rolle des Religiösen in der Bürgerrechtsbewegung erinnern. Es war eine Bewegung, die auf Glaubensakten basierte, auf Zeugnis-Ablegen. Diese Akte zeigten die Kraft eines Glaubens und die Entscheidung, ihn individuell auszudrücken. Dieser individuelle Ausdruck suchte die universelle Dimension mitzuteilen, die in der bestimmten Situation steckte, die den Protest hervorbrachte. Solch eine Mitteilung kann nur glücken, wenn sie in anderen das Gefühl einer gemeinsamen Erfahrung weckt - und das setzt voraus, daß wir alle einen gemeinsamen Glauben teilen. Umgekehrt erklärt diese Verständigungsstruktur, warum Martin Luther King nicht nur an den individuellen Glauben appellierte, sondern an die Verfassung jener "Kirche", die Amerika verkörpert. Er konnte hoffen, Gehör zu finden, weil er den doppelten Sinn von Religion akzeptierte und umsetzte: die Religion in Amerika und die Religion von Amerika. Und Martin Luther King wußte im Gegensatz zu den Fundamentalisten, die heute versuchen, die Politik für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, daß er nicht ohne den anderen arbeiten konnte.

Wir können nun folgern, daß es zwei Fundamentalismen in den Vereinigten Staaten gibt und daß diese eine doppelte Bedrohung darstellen: Sie können eine politische Religion hervorbringen oder eine religiöse Politik, wobei eines so gefährlich wie das andere ist.4 Eine politische Religion würde einen Teil der Bürgerschaft vom gemeinsamen politischen Leben exkommunizieren. Sie würde rigid, dogmatisch und verkalkt werden. Eine religiöse Politik würde der individuellen Entscheidung keinen Raum lassen. Sie würde dem einzelnen in die verborgendsten Tiefen des privaten Lebens folgen, in ein Allerheiligstes, das damit verwüstet und konformistisch werden müßte, und zugleich jede Ausdrucksfähigkeit verlöre. Dieser doppelten Bedrohung kann man sich nicht durch eine Politik entziehen, die Religion einfach ignoriert. Das Religiöse ist, wie Durkheim wußte, nur der Ausdruck sozialen Lebens; und jeder, der das soziale Leben verändern will, muß es in all seinen Ausdrücken verstehen. Im Fall des amerikanischen Fundamentalismus heißt das, daß es unmöglich ist, die Gefahr, die von ihm ausgeht, zu bannen, ohne seine beiden Ausdrucksformen zu verbinden - als Religion in und als Religion von Amerika. Gerade diese Verknüpfung brachte am Ende des 19. Jahrhunderts das Social Gospel Movement hervor, dessen Bündnis mit den progessiven (und populistischen) Bewegungen in der Lage war, mit der Zügelung des wilden und spekulativen Kapitalismus seiner Zeit zu beginnen. Was immer dem heute entsprechen mag, die zeigenössischen amerikanischen Fundamentalisten tun es sicher nicht.

Aus dem Amerikanischen von Karin Dienst; Max-Weber-Zitate nach dem amerikanischen Original.

1

Hierzu zwei Punkte. Cox geht zu weit, wenn er die Geburt der Pfingstgemeinde mit der Protestantischen Reformation vergleicht (ebenda 118 f.). Der amerikanische Historiker Richard Hofstadter hat schon für die Zeit des ersten "Great Awakening", Mitte des 18. Jahrhunderts, eine Opposition ähnlich der von Cox beschriebenen festgestellt und beschreibt deren Wiederauftreten im "Awakening" des 19. Jahrhunderts. Hofstadter argumentiert jedoch, daß diese Bewegung eine starke antiintellektuelle Bewegung hervorbringt, welche er durch die ganze amerikanische Geschichte verfolgt.

2

Noch einmal: Das ist nicht notwendigerweise etwas Neues. Richard Hofstadter versucht bei der Erklärung des Aufstieges der Goldwater-Rechten und der John-Birch-Society die historischen Wurzeln dessen, was er "den paranoiden Stil amerikanischer Politik" nennt, zu zeigen.

3

Und ihren von Hofstadter beschriebenen Antiintellektualismus, der den Geist gegen den Buchstaben setzt, die Gemeinschaft gegen das (liberale und private) Individuum, sofortige materielle Gerechtigkeit gegen formale Gesetze.

4

Da wir in Deutschland sind, sollte das in der Sprache Kants umformuliert werden: Religion ohne Politik ist blind, Politik ohne Religion ist leer.