Was heißt schon Integration?

Zu Neuerscheinungen von Lars Gustafsson und Louis Begley
Joscha Schmierer

Es gibt nicht viele Schriftsteller, die es sich zur Aufgabe machen, über Jahrzehnte hinweg die großen und kleinen Veränderungen um sich herum als Chronisten ihrer Zeit, wenn auch indirekt, festzuhalten, also entlang ihrer Zeit weiterzuerzählen. Dabei gab es dafür vielleicht noch nie soviel Anlaß und Möglichkeiten. Wahrscheinlich war es auch noch nie so schwierig. Die großen Ereignisse gehen in Millionen Bildern über die Schirme und werden tausendfach beschrieben und kommentiert. Welche kleinen Ereignisse aber sind noch symptomatisch?

Es ist sehr viel passiert in den letzten Jahrzehnten, das meiste allmählich, manches auch ganz plötzlich, und noch nie konnte in so vielen und einer wachsenden Zahl von Ländern so offen erzählt und so frei veröffentlicht werden. Weitererzählen setzt ein großes Gespür für Veränderungen und Kontinuität der Erzählhaltung voraus, Aufgeschlossenheit und Besessenheit, was sich meistens ausschließt. Ständig muß der Blick auf die äußere Welt gerichtet sein, und zugleich muß beobachtet werden, was mit dem Subjekt, den diversen Ichs und einem selbst passiert. Das Weitererzählen hat nicht nur eine offene Gesellschaft als Bedingung - sonst gibt es nur Stagnation, Ex- und Implosionen -, es bedarf auch einer gewissen Bürgerlichkeit des Erzählers oder der Erzählerin, die sie mit dieser Gesellschaft in Empathie verbindet und doch den Individuen hohen, aber auch gleichen Rang einräumt.

Mit diesen Vorausetzungen für Weitererzählen steht es wohl in den USA am besten, das zeigen schon ihre Kriminalromane. John Updike ist der Protagonist solchen Weitererzählens in der amerikanischen Literatur. Avantgardismus kann man da nicht erwarten, wohl aber literarische Seismographie. Nicht umsonst schätzt ihn Marcel Reich-Ranicki, der Lukács-Schüler ohne den Fortschrittsglauben des Lehrmeisters in Sachen Realismus, so sehr.

Weitererzählen über sechs oder ein Dutzend Bücher hinweg, gibt es in Deutschland nach 1914 erst wieder in der Bundesrepublik, mit Heinrich Böll oder dem weniger in den Himmel gehobenen Hans-Werner Kettenbach etwa, der nicht zufällig auch einen der besten deutschsprachigen Krimis geschrieben hat (Glatteis). Martin Walser steht am deutlichsten für solches Weitererzählen. In seinem Werk nimmt der Amerikaroman Die Brandung eine zentrale Stellung ein. Das wäre an seiner angeblich nationalen Kehre zu beweisen, aber nicht hier. Denn hier soll von Lars Gustafsson und Louis Begley die Rede sein, der eine halb, der andere ganz USA-Immigrant.

Lars Gustafsson ist vielleicht der europäische Chronist der Verschlingungen bürgerlichen (und das hieß dann eben auch proletarischen) Innenlebens und äußerer Veränderungen. Der Standortwechsel von der schwedischen Provinz, in der die ersten Romane spielen (sie bilden schon ein "Werk"), nach den USA, in denen die jüngeren handeln, mag biographischer Zufall sein, ist aber für Lars Gustafssons Weitererzählen entscheidend. Weiterhin auf schwedisch - darin Halbimmigrant -, schreibt er immer offensichtlicher amerikanische oder eben transatlantische Romane. Geheimnisse zwischen Liebenden wechselt von Austin über Stockholm nach Berlin und über Stockholm zurück nach Austin, Texas. Der schwedischstämmige, international gefragte und selbstverständlich global vernetzte Werbefachmann hat sich in seinem Haus in Texas in die kolumbianische Putzfrau verliebt, fliegt nach Stockholm, um die schwedische Mutter in der Heimat zu beerdigen und will zwischen der Erledigung der notwendigen Formalitäten und der Beerdigung noch schnell in Berlin einen Beratervertrag mit Vertretern des unabhängigen Transdnistrien erfüllen: Wie kann die Welt auf Leiden und Kampf dieser abgespaltenen Region einer losgetrennten Republik eines untergegangenen Reiches, dessen Soldateska immer noch auf Teilen des imperialen Territoriums wütet, aufmerksam gemacht werden, wenn ihre rechtliche Stellung in der Welt völlig unklar ist und die "Welt", auf die es ankommt, ohnehin mit Bildern von Leid und Krieg übersättigt ist, während sie selbst scheinbar in tiefstem Frieden lebt? Über diese rein professionell gestellte Frage kommt der Zusammenbruch des Sowjetimperiums und die Reaktion des Westens über eine Seitentür in den Roman, der sich ganz auf die Gefühlsverwirrung seines Werbemannes konzentriert.

Eine gewisse Entspannung verschafft der ungeplante Ausflug mit einer Porsche fahrenden Supermarktplanerin nach Leipzig, nebst Zwischenstopp in Jüterbog und Penetration zwischen ihren selbstverständlich hochgewachsenen Beinen in einem der beiden massigen Doppeltürme der alten Wehrkirche, die ihm die Porschefahrerin unbedingt zeigen wollte. Das mag zu dick aufgetragen sein oder nicht, soll jedenfalls das chaotische Innenleben eines in der Welt herumschweifenden Werbeinnovatoren verdeutlichen, der nicht einmal in der Lage ist, seine häusliche Welt zu sichern. Einstweilen ist nämlich die kolumbianische Putzfrau als illegale Immigrantin weggeschafft worden. Vielleicht wäre der alte Schwede also besser daheim in Texas geblieben. Geschieden ist er natürlich auch. Die Frau ist erst durcheinandergeraten und dann an der Seite des beruflichen Konkurrenten wieder gesund geworden. "Was für eine schreckliche Kränkung", hatte die Porschefahrerin dazu kurz vor Jüterbog angemerkt. Die "Geheimnisse zwischen Liebenden" betreffen die Disparatheit ihrer Verhältnisse, in denen Liebe zwar noch empfunden, aber nicht mehr ausgedrückt oder gar ausgelebt wird. Während der Werbefachmann die transdnistrische Delegation in Ratlosigkeit stürzt, weil er ihnen die Diskrepanz zwischen ihren Problemen und denen der Welt, auf die es ankommt, darlegt, hat sich sein Haus geleert, weil eine amerikanische Behörde Anlaß zum Durchgreifen sah. Unser Held steht im Mittelpunkt zwischen Zerstreuung und Zuspitzung. Mit beidem zusammen kommt er nicht zurecht.

Die Welt verändert sich. Gustafssons Helden auch. Mit dem Autor werden sie älter. Diesmal kommt einer in der Welt herum. Aber immer noch geht es um scheinbar einfache Sachen - Liebe, Treue -, die immer schwieriger und auch komischer werden - um Moral also. Da gibt es Globalisierung, ja sicher, aber auch den alten Schweden und seinen Gefühlshaushalt.

Weitererzählen setzt gemäßigte Zonen und Zeiten sowie eine halbwegs bürgerliche Welt voraus. Diese Zonen sind beschränkt, solche Zeiten jung und vielleicht eine Täuschung. Vielleicht sind die USA trotz Western zum ersten Boden europäisch-bürgerlicher Mäßigung geworden - durch Lostrennung von der europäischen Staatenordnung. Louis Begley hat mit Lügen in Zeiten des Krieges die historische Basis freigelegt und das Auswärtige verdeutlicht, auf Grund und jenseits dessen er auf amerikanisch schreibt: Nazismus und Mitteleuropa. In seinen drei späteren Romanen spielt er auf diese Basis seiner Erfahrungswelt nur noch an. Es sind nicht nur der Sprache, sondern der Sache nach amerikanische Romane. Thema ist das Zusammentreffen der alten amerikanischen Bourgeoisie und der jüdischen (und anderer) Immigration. Differenz der Herkunft und Geschichte und amerikanische Gemeinschaft sind das Problem Begleys. Schon sein erster Roman, Lügen in Zeiten des Krieges, war ja nicht in erster Linie ein Roman über eine polnisch-jüdische Kindheit unter der Vernichtungsdrohung der deutschen Besatzung während des zweiten Weltkrieges, als der er hierzulande verständlicherweise vor allem rezipiert wurde, sondern die Eröffnung eines inneramerikanischen Gesprächs über nicht hintergehbare Differenzen im Erfahrungshorizont der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft. Es war ein Immigrationsroman, der zwar weitgehend in Polen spielte, aber vor allem erzählte, was ein Amerikaner alles mit sich herumschleppen kann, ohne daß andere Amerikaner davon auch nur eine Ahnung haben. Amerika vergißt Generation für Generation die Abgründe, aus denen sich seine Bevölkerung gerettet hat, und in jeder neuen Generation gibt es den Konflikt zwischen den Nachkömmlingen früherer Einwanderer und neuen Einwanderern. Die USA sind eine Gründung und müssen sich eben deshalb laufend neu begründen. Das unterscheidet die amerikanische Nation von den europäischen Nationen, die immer neue Ursprungsmythen suchen müssen, wenn sie die Identitätsfrage erst einmal gestellt haben (Die große kleine Ausnahme ist die Schweiz. Tell mag zwar ein Ursprungs-Mythos sein, aber die Gründung der Eidgenossenschaft in Lostrennung von den habsburgischen Territorien ist keiner). Jedenfalls war schon die Problematik von Begleys erstem Roman nur ihrem Ursprung, nicht aber ihrer Aktualität nach im besetzten Polen zu suchen. Insofern war schon dieser Roman eminent amerikanisch. Eigentlich drehte er sich um das längst erworbene Bürgerrecht eines Außenseiters, der seine verborgene Außenseiterrolle ausspricht, um in der Differenz - statt in der Anpassung - sein Bürgerrecht zu begründen. Aus der Beschreibung der erzwungenen Anpassung mit Lügen in Zeiten des Krieges entsprang die Frage, ob und inwieweit die Republik, die Gesellschaft und die Individuen die Wahrheit aushalten.

Schon dieser Roman führte in die amerikanische obere Mittelklasse und bürgerliche Elite. Aus ihr heraus erzählte und erzählt Louis Begley weiter. Mit seinem vorletzten Roman, Der Mann, der zu spät kam, hatte Begley bereits einen Perspektivenwechsel vorgenommen. Es interessierte der jüdische Immigrant aus Mitteleuropa, dessen Karriere, Lieben und Innenleben. Nachlaßverwalter und letzten Endes Erzähler aber war ein alteingesessener Bürgeraristokrat. Mit dem jüngsten Roman, Schmidt, wird dieser Perspektivenwechsel radikalisiert. Ort der Handlung, das heißt der komplizierten Beziehungskisten dieses Romans, ist immer noch die obere Mittelschicht, die Elite von Anwälten und gutverdienenden freischaffenden Intellektuellen.

Protagonist jedoch, und aus seiner Perspektive wird erzählt, ist jetzt ein amerikanischer Bürger englisch-deutscher Herkunft mit längerer amerikanischer Verwurzelung. Der deutschsprachig beibehaltene Originaltitel stellt eine Falle: Schmidt kann nämlich, hierzulande erst recht, als letztlich deutschstämmiger Antisemit abgetan werden. Begley erzählt aber eine ganz andere Geschichte, eine Geschichte der amerikanischen Gesellschaft, in der die Rollen nie festgeschrieben sind: Da kann ein "Schmidt" zum Freund einer farbigen Puertoricanerin werden, während die jüdische Familie zur In-Group-Bildung und zur Proselytenmacherei neigen und die Familienbindung an die erste Stelle setzen kann. Man kann diesen Roman als Drama zwischen aufs Abstellgleis geratendem Vater und sich emanzipierender und sich doch nur in eine neue Familie einpassender Tochter lesen. Das hatten wir bei Begley noch nicht. Es ist aber vor allem ein amerikanischer Gesellschaftsroman, mit einem räsonierenden und grantelnden Witwer im Mittelpunkt, der zu erstaunlichen Wandlungen in der Lage ist. Herkünfte und Generationen, aber auch Schichten, werden durcheinandergewürfelt und reiben sich aneinander. Was bedeutet der bürgerliche Rahmen und was hält er aus? Wie lange halten bestimmte Individuen den bürgerlichen Rahmen aus? Wann muß man wegziehen? Hat Begley mit "Schmidt" nicht einen Antisemiten zum Helden gemacht und darf das der aus Polen stammende jüdische Amerikaner? Ganz falsche Fragen. Um die Schwierigkeiten einer permanenten Neugründung der bürgerlichen Gesellschaft auch nur ansatzweise zu verstehen ist der Perspektivenwechsel unumgänglich. Und dieser Schmidt ist kein Antisemit, das wäre langweilig, er ist einer, der sich fragt, ob es Gründe geben könnte, ihn als Antisemiten zu betrachten, und ob er Gründe hätte, einer zu sein. Er setzt sich mit den Reibungspunkten im amerikanischen Integrationsprozeß auseinander, sucht nach der Wahrheit in Zeiten des Friedens. Und siehe da, niemand hat sie gepachtet. Und so meint er zu seiner Tochter, die ihm zu verstehen gibt, daß sie Vaters neue Freundin bei ihrer Hochzeit nicht zu sehen wünscht: "Hergott, Charlotte: Du bist vielleicht altmodisch. Du planst also ein Fest mit teilweiser Zulassungsbeschränkung: Leute mosaischen Glaubens sind willkommen, Bewerbung Farbiger zwecklos! Ganz reizend. Jon, hast Du überprüft, ob sich das mit der Politik der Chancengleichheit in der Kanzlei verträgt?"

Jon ist der zukünftige Schwiegersohn und gewissermaßen der Nachfolger Schmidts in der Anwaltssozietät, aus der dieser vorzeitig ausgeschieden ist. Schmidts Ironie wird da zu Begleyscher Selbstironie.

Gustafsson und Begley sind durch und durch bürgerliche Autoren, aber ihre Bürgerlichkeit ist neu. Vermutlich amerikanisch.

Lars Gustafsson, Geheimnisse zwischen Liebenden. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel, München (Hanser Verlag) 1997 (219 S., 36,00 DM); dort auch alle früheren Romane, teilweise auch als Taschenbuch bei Fischer und dtv
Louis Begley, Schmidt. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt/Main (Suhrkamp Verlag) 1997 (311 S., 42,00 DM); dort auch die früheren Romane.