Aus Hilfe soll Dienstleistung werden

Benachteiligte Kinder, Familien und Sozialarbeit

Michael Köhler

Durch die ständigen Belehrungen über unzeitgemäße Formen der Sozialarbeit fühlte sich unser Autor provoziert, die eigenen Erfahrungen in der Betreuung von Kindern, Jugendlichen und Familien zu reflektieren und aufzuschreiben. Wie die Sozialarbeit reformieren, ohne die Menschen, die ohnehin "Modernisierungsverlierer" sind, nochmals verlieren zu lassen?

Zugegeben, ein schwieriges Thema: Hilfe und Dienstleistungen trennscharf zu unterscheiden, das ist nicht einfach. Es fallen einem eher Übereinstimmungen auf. So kann etwa eine Hilfe auch eine Dienstleistung sein oder aber eine Dienstleistung ebenso eine Hilfe bedeuten. Mir geht es hier jedoch nicht um ein Spiel um Worte oder gar um Spitzfindigkeiten. Hilfe zu leisten definierte einmal einen wesentlichen Auftrag des sozialstaatlichen Systems. (Und im Strafgesetzbuch existiert ein Delikt, das sich "unterlassene Hilfeleistung" nennt.)

Mit diesem alten Verständnis von Hilfe bin ich noch groß geworden. Als ich 1979 mit der Ausbildung fertig war, zeichneten sich bereits erste Veränderungen im Sozialstaat ab. Wir dachten damals, man müsse nur ordentlich und vehement auf Hilfe-Bedarfe aufmerksam machen, um so den politischen Entscheidungsträgern ins Gedächnis zu rufen, wie wichtig wir "Sozialwesen" und unsere Arbeit doch seien. Wir fühlten uns als Mischung aus Robin Hood und Mutter Theresa. Seither sind knapp zwanzig Jahre vergangen, und die meisten von uns fühlen sich irgendwie anders.

Von diesem Feeling abgesehen, hat sich auch sonst einiges geändert. Tatsache ist, daß der Rechtfertigungsdruck nicht nur für soziale Berufe steigt. Und nicht nur ihnen wird Verschwendung bescheinigt. Den Leuten, die soziale Dienste in Anspruch nehmen, wird umgekehrt vorgeworfen, ihren Staat wie eine "Art Sozialagentur" zu gebrauchen, als eine "Serviceeinrichtung, zu der man sich wie ein Verbraucher verhält", als Automaten, "in den man oben Münzen einwirft, um unten Berechtigungsscheine aller Art in Empfang zu nehmen". So weiß es jedenfalls Wolfgang Schäuble zu berichten.

Eine türkische Familie meldet ihren vierjährigen Sohn in unserer Kindertagesstätte an. Nach wenigen Tagen wird deutlich, daß der Junge stark autistische Züge hat. Nach mehreren Gesprächen mit den Eltern, in denen wir sie auf unübersehbare Entwicklungsverzögerungen aufmerksam machen, rücken sie schließlich mit einer Erklärung heraus: Als Säugling hätte er eine langwierige Krankheit gehabt, ärztliche Hilfe sei aber nicht zu bekommen gewesen. Wir beruhigen die Eltern, dem Vater muß ich allerdings erklären, wie erheblich der Junge beeinträchtigt ist. Das Abitur solle er machen, entgegnet der Vater. Behinderte Kinder kämen für ihn niemals in Frage, lieber lasse er sie zu Hause. Dann beginnt für uns eine Gratwanderung zwischen Schön- und Erfolgsreden für die Eltern und den Förderungsmöglichkeiten des Kindes, die ziemlich begrenzt sind.

Klar ist, daß mit einem solchen "Fall" sich weder Geld noch Renommee verdienen lassen. Es handelt sich um ein ausländisches und zudem behindertes Kind. Wären wir nicht eingesprungen, bliebe das Kind schlichtweg zu Hause. Wir können das bis jetzt ändern, weil wir über Mittel und Wege verfügen. In den Augen unserer Finanzgeber bearbeiten wir einen undankbaren "Fall": Es wird sich nicht rechnen, Kinder zu fördern, die auf dem Arbeitsmarkt später kaum eine Chance bekommen.

Und noch etwas zu diesem Beispiel: Natürlich müssen wir - wie in diesem Fall - einräumen, daß wir unsere Fälle "selber schaffen": Kein Hahn - auf gut deutsch - würde danach krähen, wenn dieses Kind außen vor bliebe. Im Gegenteil, die Eltern mußten erst davon überzeugt werden, daß sie ihr Kind zu uns bringen. Hätten wir das nicht gemacht, wir hätten ein Problem weniger. Aber das wäre die zynische Version sozialstaatlicher Auftragslage.

Ich möchte hier nicht die Konfliktlinien nach altem Muster besetzen: Hier die Standards des sozialen Netzes, dort die neuen Profile der Dienstleistung. Ich bin nicht mehr naiv genug, zu übersehen, daß Hilfe mit Kontrolle zu tun hat. In der sozialen Arbeit gibt es Macht und Ohnmacht; mit beidem müssen wir umgehen. Ohnmacht bedeutet in diesem Zusammenhang, daß soziale Arbeit nicht eine Gesellschaft verändert, höchstens zusammenhält, aber schon das wäre ein vermessenes Ziel. Desintegration scheint das Programm unserer Tage zu lauten, die einen übersetzen es mit "Individualisierung", andere nennen es "Vereinzelung", wiederum andere bemerken "Vereinsamung". Ich für meinen Teil stimme allen drei Aussagen zu.

Von Ohnmacht war eben die Rede, aber Macht haben wir natürlich auch, genauer gesagt: Definitionsmacht. Im Umgang damit sind Verantwortung vonnöten, Fehler möglich und Mißbrauch nicht auszuschließen. Letztlich liegt dieser Definitionsmacht eine Interpretationsarbeit zugrunde. So sind beispielsweise Gutachten über Kinder oder eine Familie dazu geeignet, ungewisse Prognosen zu formulieren. Welche Hilfe, wann und wie eingesetzt, kann dazu beitragen, ein Kind oder eine Familie bei der Bearbeitung ihrer Schwierigkeiten zu unterstützen? Gibt es "hoffnungslose Fälle"? Was dürfen wir voraussetzen und was weniger? Hat ein Kind in einer Familie eine Chance oder ist es besser bei Pflegeeltern aufgehoben? Welche Fördermaßnahmen sind angebracht? Solche und andere Fragen lassen sich meistens nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Die Arbeit der Interpretation ist angesagt, um möglichst genau Hilfen definieren zu können. Und schlußendlich muß eine Marschrichtung gefunden werden.

Noch ein Beispiel, aus zwei Perspektiven vorgetragen. Die erste ist die der Dienstleistung: Eine junge Frau mit drei Kindern lebt am Rande der Stadt. Die Kinder teilen sich ein Zimmer, werden als auffallend sozial beschrieben. Sie besuchen jeweils eine Krippe, einen Kindergarten und einen Hort. Die alleinerziehende Mutter möchte aus dem Stadtteil wegziehen, drängt auf eine größere Wohnung. Das trägt sie dem zuständigen Sozialarbeiter vor. Es findet eine Fallkonferenz statt, an der neben der Mutter die Einrichtungen beteiligt sind, die die Kinder besuchen. Beschlossen wird, daß eine Hilfe für Haushalt und Kinder mit zunächst dreißig und später dann zwanzig Stunden eingestellt wird. Sie hat einiges aufzuarbeiten.

Soweit diese Lesart, es gibt eine andere, aus der Sicht der Helfer: Frau K. hat keinen Schulabschluß, sie ist Mitte zwanzig, und sie kann so gut wie nicht lesen und schreiben. In der Wohnung hat sich ein Abfall-Chaos ausgebreitet, es gibt keinen Schrank, keine günstig zu nennenden hygienischen Verhältnisse. Frau K. weiß kaum über Körperpflege Bescheid, die sie auch ihren Kindern vermitteln könnte. Die Kinder, wie auch Frau K. haben keinen leichten Stand im Wohngebiet, sie werden nicht selten gemieden. Die Kinder sind so entwickelt, daß sie in ihren Einrichtungen zusätzliche heilpädagogische Förderung erhalten. Alle drei, vor allem der ältere Sohn, haben gute Fortschritte gemacht. Die älteste Tochter, heute zwölf Jahre alt, ist ihrer Mutter bereits intellektuell gewachsen. Der Vater der Kinder, ein alkoholabhängiger älterer Mann, kommt die Familie sporadisch besuchen. Frau K. hat in den letzten Jahren viel Unterstützung durch ihre in der Nähe wohnende Mutter bekommen. Sie hat beispielsweise ihre Enkelkinder im Kindergarten und Hort angemeldet, ihre Tochter bei Behördengängen begleitet und auch das Haushaltsgeld eingeteilt. Die Mutter ist jetzt verstorben, und Frau K. hat ihre Überforderung signalisiert. Sie will Hilfestellungen annehmen.

Natürlich läßt sich der geschilderte als Extremfall abtun. Wer sich mit der Wirklichkeit bundesrepublikanischer Verhältnisse auskennt, wird das Beispiel nicht als Extremfall abtun. Ähnlich liegt die Mehrzahl der Fälle, mit denen die sozialen Dienste hierzulande befaßt sind. Sicherlich macht der Begriff der "temporären Armut" die Runde, gemeint ist, daß der "Status Armut" im Leben von immer mehr Menschen einmalig vorkommt. Aber dem "einmal im Leben" steht eine wachsende Zahl von "immer im Leben" gegenüber.

Das Prinzip der "Komm-Struktur" geht als neues Paradigma sozialer Arbeit nicht auf. Wird es dennoch realisiert, dann um den Preis der "unterlassenen Hilfeleistung" an vielen Kindern und Familien. Dazu zählen die, mit denen ich zu tun habe. Es sind überwiegend Kinder, die - wie ihre Eltern vorher - kaum eine Chance hatten oder haben. Von ihnen wird keines ein Abitur ablegen, was heute fast schon normal ist. Sie sind und bleiben im unteren Drittel unserer Gesellschaft. Die zynische Vision besagt, ich könne sie guten Gewissens sich selbst überlassen, sie müßten ja gar nichts können. So gesehen, haben wir es mit einer Generation von Überflüssigen zu tun. Bereits in der Schullaufbahn avancieren sie nicht, und auf dem Arbeitsmarkt werden sie wahrscheinlich die 620-Mark-Jobber stellen. Die Perspektive eines so revidierten Bildungsauftrags übte sich damit in neuer Bescheidenheit. Ich kann ihn nicht akzeptieren.

Weil ich jetzt bereits bald zwanzig Jahre im Beruf bin, weiß ich auch, daß soziale Dienste manchmal eher als Behörde fungieren. Ebenso ärgerlich finde ich ArbeitskollegInnen, die vor allem verwalten, statt sich stark zu machen für ihre Klientel. Und richtig wütend machen mich Planungen, die auf Menschen in Notlagen immer weniger Rücksicht nehmen wollen. Ich kann auch eine Reihe eigener Schuldbekenntnisse vortragen: So beispielsweise in dem ein oder anderen Fall fehlentschieden zu haben, nicht immer auf dem neuesten Stand der Fachliteratur zu sein oder schlichtweg eine Sache einfach zu lange bearbeitet zu haben. Überdies will ich auch "menschliches Versagen" nicht ausschließen: Als Sozialfritze bin ich kein besserer Mensch als die mir anvertraute oder von mir ausgesuchte Klientel. Dennoch scheint mir die in diesem Zusammenhang vorgetragene Fundamentalkritik ein eher billiges Spiel zu betreiben. Sie bewegt sich (leider) nicht weit entfernt vom Stammtisch, wie beispielsweise die jüngsten Diskussionen um Kinder und Jugendkriminalität zeigen. Natürlich kann man all die straffälligen "Mehmets" samt Eltern in die Türkei zurückschicken (die deutschen Familien ins Weltall?), natürlich lassen sich da Straf- und Polizeirecht vor Prävention und Sozialarbeit stellen. Doch wer lediglich auf Selbsttätigkeit setzt, wird am Ende den Bau von größeren Gefängnissen und Heimen befürworten müssen.

Vor zwei Jahren wurde ein dreijähriges Mädchen bei uns angemeldet. Ihre Eltern stammen aus den neuen Bundesländern, haben aber - aus vielerlei Gründen - in der West-Großstadt nie so richtig Fuß fassen können. Ohne Arbeit und nennenswerte Qualifikation haben sie anscheinend alle Anstrengungen aufgegeben, ihre Situation zu verändern. Da daß Mädchen des öfteren spätabends (auch von Polizeistreifen) auf der Straße angetroffen wurde, sprach uns der ambulante Sozialdienst an. So meldeten die Eltern - nolens, volens - die Tochter in der Kindertagesstätte an. Das ging nur eine Zeitlang gut, der Besuch war lückenhaft, schließlich zogen die Eltern zurück mit der Begründung, es fehle ihnen das Geld. Auf unseren Vorschlag, den Beitrag zu erlassen, erfolgte keine Resonanz.

Vor einem halben Jahr etwa tauchte das Mädchen (unbegleitet) wieder bei uns auf, erst ein paarmal auf dem Außengelände, dann immer wieder, und wir luden sie ein. Daraufhin kam sie täglich, und wir haben die "Selbstanmeldung" des Kindes daraufhin "legalisiert", also das formale Procedere mit den Eltern abgesprochen. Seither - und das berichte ich zugegebenermaßen nicht ohne einen gewissen Stolz - besucht das inzwischen fünfjährige Kind eine Einrichtung, in der sie für einen großen Teil des Tages nicht schlecht aufgehoben ist. Es handelt sich um ein Kind, das vielleicht wöchentlich andere Kleidung erhält, keine besonderen sprachlichen Kenntnisse hat, kaum über Selbstbewußtsein verfügt; von den familiären Verhältnissen ganz zu schweigen. Aber: für Kinder, die sonst im größten Chaos aufwachsen, bedeutet diese Einrichtung die allererste Ordnung, an der sie sich orientieren.

Ich möchte die Beispiele nicht überstrapazieren. Und sie sind hier in einer eher geschönten Fassung wiedergegeben, weil ich Räuberpistolen lieber privaten TV-Sendern vorbehalten lassen möchte. Davon abgesehen: Daß sie dringend notwendige Sozialarbeit leisten, erzählen mir inzwischen Lehrer, Briefträger oder Ärzte. Das mag auch sicherlich so sein, daß diese Berufsgruppen das so empfinden. Aber wo kommen wir hin, wenn öffentlich betriebene soziale Dienste einzig als Behörde erfahren oder dargestellt werden? Für breiter werdende Teile der Bevölkerung - und da ist auch der abrutschende Mittelstand nicht länger ausgeschlossen - sind sie nicht selten letzte Ansprechpartner. Wer sonst?

Als Praktiker möchte ich mich zur Theorie der Sozialarbeitswissenschaft eher vorsichtig äußern. Aber manchmal habe ich den Eindruck, daß vieles nicht für viele, sondern für die Angehörigen der eigenen Zunft verfaßt worden ist. Und natürlich kann ich in dieser Debatte nicht mithalten. Für mich ist eine andere Arbeit wichtig, die ich mir so übersetze: Die Kritik an Bevormundung und Besserwissertum gegenüber der Klientel ist mehr als berechtigt. Aber wie komme ich (praktisch!) aus dem Widerspruch raus, alte Defizit-Definitionen über Bord zu werfen, ohne mich damit gleichzeitig der Klientel zu entledigen? Die Frage ließe sich noch anders stellen: Das moralisch aufgeladene Helfer-Pathos halte ich nicht nur für fehl am Platze, es geht unter Kollegen auch gewaltig auf den Geist. Es gibt da eine weitverbreitete Neigung, die schlechte Bezahlung mit einem stark idealisierten Selbstbild zu kompensieren. Dennoch insistiere ich: Wie aus dem Widerspruch herauskommen, an der Mittelschicht orientierte Entwürfe von Partizipation und Autonomie festzuhalten und an ihnen Menschen zu messen, die eine völlig andere soziokulturelle Herkunft haben? Die Kluften in unserer Gesellschaft werden deutlich unterschätzt. Anders kann ich mir nicht erklären, daß Konzepte für soziale Dienste entwickelt werden, die mit der Wirklichkeit dieser Dienste kaum in Einklang zu bringen sind. Ich will eigentlich nicht darauf hinaus, daß viele BerufskollegInnen da einen schweren Dienst tun. Aber "Das Elend der Welt", wie es Bourdieu für Frankreich beschrieben hat und wie es für Deutschland nicht entsprechend untersucht und dargestellt ist, dieses Elend über lange Zeit (mit-)auszuhalten, stellt sich heutzutage der hiesigen sozialen Arbeit als Aufgabe. Die Frage lautet: Wie sich reformieren, ohne die Menschen, die ohnehin "Modernisierungsverlierer" sind, nochmals verlieren zu lassen?