Die zwei neuen Fragen

Die Verleugnung der Fischer-Chance entpolitisiert die Bündnisgrünen

Zoltan Szankay

Es gibt, in Hinblick darauf, was in den nächsten Monaten zur Entscheidung steht, zwei konkrete - und ebenso neue wie existentielle - Fragen zur historischen Situation der Bündnisgrünen.

Die erste Frage lautet: Kann die Erneuerungsfähigkeit der Bündnisgrünen jetzt, da es offenbar wird, mit welchen Konsequenzen sie während mehr als 10 Jahren – aus Bequemlichkeit ebenso wie aus strategischen Machtkalkülen – aufs Eis gelegt war, das Versäumte nachholen? Das heißt: Kann sie den "Ansprechplatz" dieser einstmals interessantesten politischen Neugründung der westlichen Welt wieder zu einem aufmerksamkeitsheischenden und politisierenden Platz machen? Und das in einer Frist, die sie sich nicht selber vorgeben kann (in einem der Beiträge zur "Grünen Debatte" in der Kommune wurde eine "Denkpause" vorgeschlagen, als wäre eine Partei ein Projektzirkel), sondern ihr durch die Zeiten demokratisch-politischer Entscheidungen vorgegeben ist?

Die zweite Frage lautet: Was bedeutet eigentlich die Tatsache, daß Josef Fischer zur anerkanntesten politischen Gestalt der Republik wurde, während seine Partei fast die Hälfte ihrer Wähler verliert? Liegt in der fraglichen Anerkennung und Zustimmung nur ein psychologisches – auf einen Einzelcharakter bezogenes – Moment, oder transportiert der deutsche Außenminister im "Wie" seines Handelns und öffentlichen Sprechens nicht sehr wohl auch ein bündnisgrünes Moment politischer Verantwortung, die sich nicht hinter falschen Sicherheiten oder "Alternativlosigkeiten" versteckt? Und: Was kann dies für die Spielräume, Fristen und Konflikte der obigen Chance einer "nachgeholten Erneuerung" bedeuten?

Um die Dringlichkeit schon der ersten dieser Fragen wahrzunehmen, muß man sich wohl als politischer Bürger zunächst etwas eingestehen. (Der Verfasser dieser Zeilen möchte sich hier nicht herausnehmen.) Ich meine, daß vielen von uns erst durch diesen, verfahrenste Polarisierungen auslösenden und eine existenzbedrohende Eingeklemmtheit1 der Bündnisgrünen mit sich bringenden Kurs der rot-grünen Regierung das ganze Ausmaß der Abgeschottetheit der deutschen ,progressiven Szene` von den Umwälzungen der politischen Landschaft des Westens (in den letzten 10 bis 15 Jahren) deutlich wurde.

Lag es uns nicht deutlich genug vor den Augen, daß überall dort, wo es in dieser Zeit gelang, die bedrückenden (aber nicht zufällig lange mehrheitsfähigen) Regime der Reagans, Bushs und Thatchers – und die ihrer ,milderen`, kontinentalen Versionen – in einer relativ dauerhaften Weise zu unterbrechen, es mit und durch die (mal mehr, mal weniger konfliktive) Neuformierung der sich zur Ablösung befähigenden Parteien und Bündnisse gelang? Versuchten diese Neuformierungen nicht auf das Undeutlichwerden der einst eindeutigen Kriterien für "progressive Politik" zu antworten? Verbunden mit den neuen Verhältnissen zwischen dem – politischen und ökonomischen – Außen und Innen, mit dem Deutlichwerden der auch sozial und politisch-demokratisch kontraproduktiven Folgen einer sich klientelistisch ausweitenden Sozialpolitik? Nicht nur "New Democrats" und "New Labour" haben sich in den veränderten Konstellationen neu verortet, in einer, die Innen- und Außenbezüge ihrer ,political nations` zugleich ansprechenden Weise. Auch die – so oft und so fälschlich als Gegenbeispiel zitierten französischen Sozialisten – unterscheiden sich in ihren Perspektiven von ihrer Gestalt aus den frühen 80er Jahren durch weit mehr als durch bloße Programmkorrekturen.2

Das Maß der Umbrüche in der italienischen politischen Landschaft – in der vor kurzem noch ein aus der Christdemokratie kommender Premier einer mehrheitlich von der Partei der Exkommunisten getragenen Allianz vorstand – muß wohl nicht extra hervorgehoben werden.

Es ist übrigens ein weit verbreitetes – und soziologistisch und ökonomistisch weithin untermauertes – Mißverständnis, die Neueinlotungen der politischen Antwortfähigkeit der letzten anderthalb Jahrzehnte als "Anpassungsleistungen" der "Politik" an die "ökonomische Wirklichkeit" wahrzunehmen, sei diese nun als "Globalisierung" oder als "digitaler Kapitalismus" vorgestellt. Antwortfähigkeit schließt – anders als "Anpassung" oder Reaktion – immer auch Sinnhaftes ein.3 Sie ist so weder "autonom" – wie sie nach den Forderungen des voluntaristischen oder normativen "Primats der Politik" sein sollte noch "reaktiv", wie sie nach dem wissenschaftlichen Kapitalismus der liberalen Weltökonomen zu sein hätte.4

Nachträglich gesehen ist es, jetzt im Herbst 99, auf dem Hintergrund der Umwälzungen der politischen Landkarten der letzten 15 bis 20 Jahre und dem Fragwürdigwerden unserer – wesentlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden – Politikkonzepte, schon leicht unheimlich, wie mächtig hier – auch in kritischen Köpfen – der Bewahrungsglaube war, ausgerechnet der deutsche politische Raum könnte und müßte hier eine Ausnahme bilden.5

In der CDU schien dieser Glaube bis zum 27. September 1998 weithin ungebrochen. In der deutschen Sozialdemokratie bis in den Frühling 1999. Bei den Bündnisgrünen währt er bis zu diesem Herbst.

Entscheidend dabei ist, daß es bei den politischen Neuverortungen nicht bloß um die eigene Selbstverortung in die überkommene politische Streitordnung geht, sondern um Veränderungen, Verschiebungen der "klassischen" – aus dem 19. Jahrhundert stammenden – Gegensatzordnung. (An den Verschiebungen der CDU-Familienpolitik ist dies ebenso abzulesen wie an dem Auftauchen des angeblich "rechten" Themas der Kriminalitätsbekämpfung in den "progressiven" und "linken" Handlungshorizonten.) Dabei kommt dann auch etwas zum Vorschein, was in den – nun mehr als zehnjährigen – Selbstverständlichkeiten des bündnisgrünen Selbstverständnisses im Rahmen des klassisch-sozialdemokratischen Realitäts- und Reformhorizontes aus dem Blick geraten mußte. Nämlich daß der – politisch hart erkämpfte – "Ansprechplatz" der bundesrepublikanischen Grünen in einer politisierenden In-Frage-Stellung der politischen Streitordnung der klassischen Moderne verknüpft war und vermutlich auch verknüpft bleibt.6

Der radikale Verlust der politisierenden Dimension des Ökologischen, seines Spannungsverhältnisses zum politischen Handlungsraum der westlichen Geschichte, bedeutete dann auch: hilflos dem Dilemma ausgeliefert zu sein, "das Ökologische" in den gleichermaßen apolitischen Horizonten des "Naturhaft-Fundierten" oder in denen der technokratischen Verplanung der Welt im Namen der "Nachhaltigkeit" zu verstehen und zu behandeln. (W. Thaas Beitrag in der Oktobernummer der Kommune macht einen präzisen Hinweis in diese Richtung.)

Die aufgeschobene Entscheidung

Neu ersichtlich wird dabei, in welcher doppeldeutigen Weise das bündnisgrüne "Weiter-So" der letzten zehn Jahre an den erst jetzt – widersprüchlich – aufbrechenden Immobilismus der deutschen Sozialdemokratie angekoppelt war.

In einer doppeldeutigen Weise, weil der Immobilismus der SPD – auch hier zusammen mit dem der Bündnisgrünen – ein ROTGRÜN (ohne Bindestrich) gleichzeitig verhindert hat. Ein bundesdeutsches ROTGRÜN (ohne Bindestrich) hieße allerdings: sich konstitutiv um das politische Profil, um die geschichtliche Antwortfähigkeit des Gemeinsamen zu kümmern, dafür auch öffentlich zu intervenieren. (Rot-Grün mit Bindestrich heißt dann eher – wie es übrigens auch bei den Beiträgen zur Diskussion in der Kommune sichtbar wurde –: entweder das Verschwinden des "grünen Profils" oder seine Heraushebung, implizit auf Kosten des Koalitionspartners.)

Die "Les Verts" aus Frankreich etwa sind nicht bloß abstrakt "linksökologisch": Sie haben ihr politisches Schicksal eindeutig mit der PS verbunden, versuchen aber gleichzeitig das Gesicht des Bündnisses selber mitzuprägen. Eine ähnliche Konstellation ergibt sich in Italien, wo die "Democratici" im "Olivio"-Bündnis sich aufgerufen fühlen, den Charakter desselben qualitativ zu verändern.

Die andere Alternative zu einem Bindestrich-Bündnis der rot-grünen Art ist natürlich bekannt. Nur scheuen sich die Bündnisgrünen davor noch mehr als vor ROTGRÜN ohne Bindestrich.

Sie ist die Bestärkung eines von den klassischen politischen Lagern unabhängigeren Profils, das auch eine variable (im konkreten bundesrepublikanischen Fall: CDU-variable) Koalitionsbindung erlaubt, sozusagen mit einem "freien", das heißt, mehr voll abhängigen und erpreßbaren "Bindestrich".

Das eine Jahr hat es hinlänglich gezeigt: Wie lange auch der doppelte Immobilismus die bündnisgrüne Entscheidungslosigkeit gegenüber der einen oder der anderen Richtung begünstigt haben mag: Rot-Grün (mit Bindestrich) unter "linksökologischen" Vorzeichen ist nicht unbedingt bis zu dem Punkt aufrechtzuerhalten, wo das politisch bedeutsame "Grün" sich auflöst.

Das Ärgerliche an großen Teilen der bisherigen Kommune-Beiträge zum "Grünen"-Thema ist nun nicht nur, daß sie mehrheitlich von der endlosen Weiterführung des halb-bündnishaften Bindestrich-Rot-Grüns ausgehen und den malus der letzten Monate einfach einer zu "nachgiebigen" bündnisgrünen Führung (das heißt vor allem den Kabinettsmitgliedern und der Bundestagsfraktion) zuschieben. Fatal an ihnen ist vor allem, daß sie – intellektuell hoch anspruchsvoll und politisch erstaunlich unbedarft – an der weiteren Blockade jener Entscheidungen mitwirken, die – nach zehn Jahren paralysierender "Flügelausgewogenheit" – der "bündnisgrünen Erneuerung" eine Chance geben könnten. Ich meine die Entscheidung zur Beendigung der "Doppelspitze" in der Parteiführung und zur Ersetzung eines "heimlichen" Vorsitzenden durch einen verantwortlichen.7

Chance und Frist

Egal wie hoch der bündnisgrüne Leidensdruck in den letzten Monaten wurde, egal wie "logisch" die oben angedeuteten Konsequenzen sich aus der "aufgeschobenen Entscheidung" ergeben müßten: Man muß keinen besonders ausgeprägten Sinn für politische Wirklichkeiten haben, um wenigstens zwei Dinge zu wissen:

Erstens: Das (während mehr als zehn Jahren) Versäumte kann nicht ad hoc nachgeholt werden. Weder können die so lange eingefrorenen bündnisgrünen Erneuerungspotentiale einfach reaktiviert werden, noch sind der Partei und ihrem Umfeld von heute auf morgen jene, auch schmerzlichen – aus der "Schwebe" herausführenden – Entscheidungen zumutbar, die der politischen Sache eigentlich angemessen wären.

Zweitens: Eine politische Kraft wie die Bündnisgrünen, die die Schwelle zu einer "historischen" Partei (also zu einer, die für eine historische Epoche zur "politischen Grammatik" einer politischen Nation gehört) noch immer nicht überschritten hat, kann nicht die Rechnung ohne den Wirt machen: Ohne die Achtung jener Welt der Wählerinnen und Wähler, die – jenseits des meist unglücklichen und unbekannten Programmbuchstabens – mit ihrer Stimme ganz konkret dem eine politische Bedeutung beimessen wollten, was die Bündnisgrünen innerhalb der jüngsten politischen Geschichte des Landes repräsentieren. Anders gesagt: Ein Ausscheren der Bündnisgrünen aus ihrer – durch diese Stimmung erlangten – Regierungsbeteiligung (wie eingeschränkt diese auch sein mag) ohne die Perspektive einer anderen Option, wäre eine – selbstbezogene – Rechnung ohne Wirt. Warum sollte man jemandem nochmals eine politische Bedeutung zuerteilen, wenn er damit nicht umgehen kann?

Was heißen aber diese realistischen Einsichten politisch gedacht? Heißt es, daß die Bündnisgrünen nur zwischen einem schnelleren und einem langsameren Tod zu wählen haben, zwischen dem Koalitionsausstieg und dem "Weiter so" des Bindestrich-Grüns, in dem Grün langsam verschwindet?

Oder stehen politische Entscheidungen offen, durch die sowohl die "Frist" für eine nachholende bündnisgrüne Politikerneuerung – durch ein Signal der Entideologisierung – verlängert, wie auch ein spezifisches bündnisgrünes Gewicht innerhalb des "Bindestrichrotgrüns" (wenn auch anderswo, als es gewöhnlich reklamiert wird) deutlich werden kann?

Wir berühren hier die zweite der anfangs gestellten Fragen. Macht denn der breiteste Wunsch der Bürgerinnen und Bürger, dem bündnisgrünen Außenminister eine "größere politische Bedeutung" zukommen zu lassen, auch einen "bündnisgrünen" politischen Sinn?

Vor wenigen Tagen konnte man eine Antwort auf diese Frage im Leitartikel von Die Welt lesen. Autor Thomas Schmid erklärt uns darin: Der fragliche Bürgerwunsch, die fragliche Unterstützung für Josef Fischer hat null politische Bedeutung für die Bündnisgrünen. Der Betreffende, "der sich scheute, den schwierigen, aber verheißungsvollen Weg eines mit verschiedenen Zukunftskompetenzen angereicherten Umweltministers zu gehen, und der stattdessen den individualistischen Weg der außenministerlichen Selbstverwirklichung gegangen ist, gehört gewissermaßen als Privatperson (Hervorhebung Z. S.) Kabinett und Partei an". – Schmid schließt mit einem Rat an die Bündnisgrünen: Sie sollten, wohl so schnell wie möglich, und "ohne den Segen des Autokraten!", sich aus der "Gefangenschaft der SPD und ihren gestrigen Ideen begeben".

Beurteilung und Rat ist nicht ohne Interesse. Auch wenn Schmid die "Versuche, die Struktur der Partei so zu ordnen, daß sie gegenüber dem Autokraten Eigengewicht gewinnt", lobt, weiß er im Grunde, was er damit will: jene bündnisgrünen Attitüden bestärken, die, parteinarzißtisch, jene Auszehrungsprozesse beschleunigen, die die "grüne Konkursmasse" freigeben, die dann, statt in die "SPD-Gefangenschaft", in die CDU-Gefangenschaft integrierbar sind.

Tatsächlich hat aber die Fischersche – und bündnisgrüne – Entscheidung für das Außenministerium die Bündnisgrünen ein Stück aus ihrer "Spezialecke" herausgeholt. Um einen Blick über deutsche Binnenaussichten hinaus zu werfen:

Was würden wohl die französischen "Les Verts" dafür geben, wenn einer der ihrigen "la Nation" und "la République" in der Welt – wie in der Kosovo-Krise – repräsentieren könnte und damit gleichzeitig zum populärsten Politiker Frankreichs avancieren würde?

Käme es ihnen nicht absurd vor, würde es jemand versuchen, diesen doch maßgeblich aus den politischen Potenzen der Partei kommenden Erfolg als den Erfolg einer "Privatperson" darzustellen? Was für ein andres Verhältnis zwischen "Innen und Außen" muß in der Vorstellungswelt "deutsch-progressiver" Politik existieren, damit solches nicht als absurd erscheint?

Es würde in die Irre führen, herausfinden zu wollen, was im einzelnen die bündnisgrün-politischen Akzente in den Diskurs- und Handlungsweisen des Außenministers waren und sind, die so hoch zustimmungsfähig in der "Berliner Republik" sind. Es tut sich jedoch eine spannende Frage auf, die wohl auch etwas mit der Glaubhaftigkeit von Politik in dieser Zeit der Spät- und Postmoderne zu tun hat. Könnte es sein, daß der meist unterschätzte politische Souverän in diesem Land Handlungsanweisungen schätzt, in denen Gegensätzlichkeit respektiert, Dramatisches zugegeben, Unsicheres (und somit auch das Außen im Innen) als solches benannt wird? Und das, ohne Entscheidungen aus dem Wege zu gehen?

"Chance und Frist" der Bündnisgrünen hat auch etwas mit einer Chance auf eine "Verbesserung" des "Bindestrich-Rot-Grüns" (das zunächst ausgehalten werden muß) zu tun. Gibt es dazu derzeit eine bessere Möglichkeit als durch einen erfolgreichen bündnisgrünen Vorsitzenden Joschka Fischer? Der dann übrigens – anders als der "heimliche Vorsitzende" – auch abwählbar wird.