Das Weiterwirken der DDR durch ihr Verschwinden

Lutz Rathenow

Der Ostdeutsche stirbt anders als der Westdeutsche", lautete unlängst eine Schlagzeile in einer großen deutschen Wochenzeitung. Immerhin relativierte dann der Text diese furiose Behauptung. "Der" Ostdeutsche glaubt einfach weniger an das Jenseits als "der" Westdeutsche. Oder er hält es für nicht notwendig, in einer Umfrage diesen Glauben vorzutäuschen. Eine spezielle Trennung in Ost- und Westhimmel als Perspektive nach dem Tod, in West- und Osthölle haben bisher weder die Theologen noch die Soziologen entdeckt. Eine Westhölle scheint auch nicht nötig zu sein. Glaubt man manchem Kommentator heute, scheint in der Gegenwart ja schon die westdeutsche Hölle installiert. In der zweitgrößten deutschen Wochenzeitung erläuterte kürzlich ein Mitarbeiter des Blattes seine Sicht. Unter dem Titel "Wir lassen uns nicht kaufen" faßt er auf einer Zeitungsseite seinen Blick der Ostdeutschen zusammen: "Nichts wäre für Ostler schlimmer, als so zu werden wie ihre rücksichtslosen Schulmeister – es würde sie zu geschichtslosen Monstern machen." Da schweigt dann des Westdeutschen Höflichkeit. Was soll er dazu sagen. Hinweise auf Geldleistungen oder politische Zustände in der DDR prallen an dieser Entschlossenheit zum mentalen Dauerfrust ab. Als habe der protestierende Ex-DDR-Bürger damit wenigstens etwas in der Hand oder im Kopf, was er als Vorteil keineswegs aufgeben will: das gute Gewissen, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls gibt es noch die üblichen repräsentativen Jubelfeiern, aber irgendwie kapitulierte der bundesdeutsche Diskurs vor dem Phänomen DDR. Daß die DDR – außerhalb der historischen und politischen Forschung – überhaupt zum Phänomen wurde, ist ihr später Erfolg. Jeder kann nun alles in sie hineindeuten und aus ihr herausinterpretieren. Da stellt der neue "Rundbrief des Vereins zur Dokumentation der DDR-Alltagskultur" eine überraschende Entwicklung fest: Immer mehr Alt-Bundesdeutsche werden Mitglied. Mit Jörg Gogolin wird so ein Neumitglied vorgestellt. Ihm gefällt das "einfachere Design" der Alltagsgegenstände. Sie vermittelten den Eindruck, "daß die DDR der ursprünglicher gebliebene Teil Deutschlands und keine Wegwerfgesellschaft mit Konsumüberfluß war". Schlichtheit allein genügt aber nicht. Herrn Gogolin interessiert auch das Thema "Stasi", da "dieses Gebiet geheimnisumwittert ist". Ist also die geheimnisvolle Schlichtheit das Erfolgsrezept des Landes, das als Staat wieder in aller Publizistenmunde ist. Die DDR wird 50 oder 50 Jahre DDR heißen die erfolgreichen Bildbände über das verschwundene und doch noch vorhandene Etwas, das sich damals ständig versicherte, real existierend zu sein.

Fotos setzen dem privaten Interpretationswillen besonders wenig Widerstand entgegen. Da ist es nur logisch, wenn ein ehemaliger Mitarbeiter der DDR-Nachrichtenagentur vor dem Kauf eines solchen Bandes den Buchhändler fragt: "Ist der Text auch nicht zu kritisch?" Die Geschichte der alten Bundesrepublik spiegelt sich in ihren Fotos wieder. Deutschland wird jetzt 50 Jahre alt, das Land erinnert sich. Auch die Opposition 1968 gegen die Selbstverliebtheit der alten BRD und selbst die RAF werden in keinem Bildband fehlen. Das ist bei der DDR anders. Da fehlen aus ganzen gesellschaftlichen Bereichen Bilder. Fotos wurden oft bewußt verhindert. Die bilderscheue Gesellschaft DDR versuchte, ein offiziell abgesegnetes Bild von sich zu installieren. Es gibt so gut wie kein Foto von Polizei- oder Staatssicherheitsaktionen. Auch erfolgreiche oppositionelle Aktivitäten finden sich wenig und fast gar nicht fotografisch dokumentiert. Jedes Foto hätte zum Beweismittel in einem Verfahren werden können. Gerade schrieb Katja Havemann – und für den Nicht-Spezialisten die Routineerläuterung: die Frau des verstorbenen DDR-Kritikers Robert Havemann – einen Artikel über die Gründungsversammlung der Bürgerbewegung "Neues Forum". Wirklich ein Datum der Geschichte. Keinem einzigen der Beteiligten fiel es ein, ein Foto zu machen. Die DDR hatte ein grundlegend anderes Verhältnis zur fotografischen Darstellung als die sensationshungrige Mediengesellschaft West. Und das wirkte sich auch auf das Bewußtsein jener aus, die eine DDR-Politik kritisieren wollten. Manchmal entlarvte man die Propaganda, meist wich man ihr aus. Und verzichtete auf Bilder. Im nachhinein ein wesentlicher Grund für die mangelnde Präsenz in den Westmedien bis 1989. Man und frau (also die Andersdenkenden und vor allem Andershandelnden) verwandten viel Energie auf spröde und oft komplizierte "Offene Briefe" und Programme, statt optisch da und dort präsent zu sein. Natürlich in den Westmedien. Doch da im Westen kaum jemand Bilder, Gefühle, Erlebnisse mit jenen in Agenturmeldungen gelegentlich auftauchenden Bürgerrechtlern verband, blieb ihre Medienpräsenz viel zu blaß. Und störte die DDR-Oberen weniger als möglich. Die offizielle DDR ging ja davon aus, jederzeit ein Bild nach ihren Vorstellungen von sich installieren zu können. Das hat Berührungspunkte mit postmodernen Konzepten der beliebigen Sinndeutung. Der Unterschied in puncto DDR: Da verknüpfte der Staat das mit dem Willen einer Diktatur, unter allen Umständen ihren Machterhaltungsanspruch zu sichern.

Die Macht ist weg. Die Manipulationsmechanismen wirken da weiter, wo sie nicht durch ausführliche Zeitzeugenschaft, politische Analyse und Aufklärung bloßgestellt worden sind. Das geschah ausführlich beim "Ministerium für Staatssicherheit", da würde heute kaum jemand ernsthaft als Vorbild hinstellen. Im Gegenteil: Man muß aufpassen, die Stasi nicht zum Verursacher alles Schlechten in der DDR hochzureden. Bei der Nutzung von Fotos erfolgt selten eine Analyse über die Funktion einer journalistischen Fotografie, die bewußt langweilig sein sollte und wollte. Das Bild als Beruhigungsfaktor. Die Ost-Bilder, neben die Westbilder gestellt, verfälschen. Die DDR wird in fast allen Fotobänden als politisches System permanent verharmlost. So gibt es verschiedene Teile des politischen Systems DDR oder der gesellschaftlichen Erscheinungsformen, die dieses System hervorbrachte, die nicht für das Ganze stehen können. Der Staat ist in lauter Teilbereiche zerfallen, von denen einige ganz schrecklich und andere ganz nachahmenswert scheinen. Es fällt in den Debatten sehr schwer, bereichsübergreifende Verknüpfungen herzustellen.

Die Bedürfnisse nach einem Weiterleben der DDR sind vielfältig und haben verschiedene Ursachen. Im Ausland hat man das Land in der Regel vergessen oder nie gekannt. Die Mehrheit der Weltbevölkerung beschäftigte sich nicht mit der DDR. Eine kleine Minderheit aber um so eifriger. Da ist der amerikanische Germanist, der die Existenz des Landes zum Erpressen von Fördermitteln vom westdeutschen Goethe-Institut brauchte. Der afrikanische Student, der sich in Leipzig beim Studium gut betreut und in Frankfurt völlig vereinsamt fand. Da existiert noch die "Casa Brecht" in Montevideo, die als letztes Kulturinstitut der Welt das kulturelle Erbe der DDR pflegen will. Überhaupt leben überall Intellektuelle, die den kleineren, ärmeren deutschen Staat als Hoffnungsträger auf ein funktionierendes Sozialismusmodell brauchten. Die DDR schien Ende der achtziger Jahre der einzige realsozialistische Staat der Welt zu sein, der halbwegs funktionierte. "Wir können über ihren Verlust noch nicht reden, der Schmerz ist zu groß", sagte mir ein Psychologe aus Uruguay gegen Mitternacht. Und eine durch ihre Abrechnungsbücher mit der deutschen Vereinigung bekannt gewordene Publizistin erfuhr die maßgebliche Ermunterung zu dem Buch erstens von einem Hamburger Verleger und zweitens von einem amerikanischen Germanisten. Er wollte die Arroganz der Westdeutschen entlarvt haben. (Dieses Bedürfnis ist offenbar groß in der intellektuellen Welt. Und manchmal ist es bloß der pure Pragmatismus, der zu Seufzern über das vergangene Land führt. "Früher gab es zwei deutsche Staaten, die um die Wette Kulturarbeit machten, heute existiert einer, der immer mehr spart." So ein norwegischer Germanist. Die DDR scheint überall beliebter als in Westdeutschland zu sein, Osteuropa und Rußland einmal ausgenommen.)

Die einen beschäftigen sich zu oft mit der DDR, für die anderen scheint das Thema längst erledigt. Sofern es je ein Thema für sie war. Auch in Deutschland. Und so wird immer mehr den Schwärmern dieses Erinnerungsfeld überlassen. Dazu kommt das Heranwachsen einer Generation, die das positivste DDR-Bild überhaupt hat. Sie waren zu jung, um wirklich negative Erfahrungen machen zu können. Sie wählen PDS oder rechtsradikal, um sich etwas vom scheinbaren Geborgenheitsgefühl à la DDR wiederzuholen. Die politischen Stereotypen vom "Unrechtsstaat" und der Stasi erreichen sie kaum. Wie weit prägten sie wirklich den Alltag? Die Erinnerungen der jungen Menschen und die politischen Analysen passen nicht zueinander. Es fehlen Übersetzungen, verknüpfende Übergänge. Die Medien, weitgehend dem altbundesdeutschen Diskurs verpflichtet, begriffen zu spät oder bis heute nicht, daß hier eine Daueraufgabe besteht. Gerade die "Normalität" der DDR entzieht sich dem analytischen Zugriff. Andersherum: Das Analysieren einzelner Erscheinungen bringt oft die Aufwertung des Vergangenen. In der Soziologie brachte jetzt einer den Begriff der "arbeiterlichen Gesellschaft" ein. So plausibel er wirkt, so beschreibt er nur Teilphänomene. Die Arbeitsbedingungen waren teilweise viel zu rückständig und entwürdigend, um diesen positiv gebrauchten Begriff zu benutzen. Trotzdem wurde er in vielen Rezensionen des Buches erleichtert aufgenommen. Erklärungen sind gefragt. Endlich soll diese Geschichte auf den Punkt, also den zusammenfassenden Satz gebracht sein. Der Westwille, rasche und plausible Erklärungen zu bekommen, verhindert die notwendigen Anstrengungen, mehr über die verdeckten und verschwiegenen Zonen der DDR zu erfahren.

Das Bild von dem Staat a. D. bestimmt die Selbstzeugnisse eines intellektuellen Milieus. Das fühlte und fühlt sich dem Staat oft näher als die Arbeiter in Halle/Leuna oder bei Zeiss-Jena. Es gab immer einen fast unpolitischen Antikommunismus, der eine Sehnsucht nach deutscher Einheit bei Arbeitern konservierte. In Thüringen und Sachsen mehr als in Brandenburg oder Mecklenburg. Für den gibt es fast keine schriftlichen Zeugnisse. Auch nicht in der Westpresse. Die Wunschbilder heute füllen diese Lücken im historischen Bewußtsein. Und die systematische, kritische Analyse in puncto DDR weiß sich kaum in die aktuellen Debatten im neuen Deutschland einzubeziehen. Auch da fehlen wieder Übersetzer. In keiner großen oder halbgroßen bundesdeutschen Zeitung ist jemand aus der ehemaligen DDR-Opposition angestellt, der das Bedürfnis hätte, gerade an scheinbar unauffälligen Punkten eine ganz alltägliche Desillusionierungsarbeit von DDR-Geschichte und ihrer nachträglichen Verarbeitung zu unternehmen. Und überhaupt ist das Durchschnittliche, Alltägliche oft besser durch das Außergewöhnliche zu beschreiben.

Die ganz konkrete Opposition in der DDR sagt viel über die konkreten historischen Möglichkeiten aus, gegen die politische Konditionierung des Staates anzuleben. Diese Opposition entwickelte sich an jedem Ort zu jeder DDR-Zeit anders. Ihre sinnlich nacherlebbare Beschreibung und ihre Analyse würden die Alltagserfahrungen vieler und die abstrakten Herrschaftsanalysen zueinander in Beziehung bringen.

Was droht nun von dieser Post-DDR? Nicht viel zunächst. Ein paar nostalgische Verlautbarungen, die sich durch ihre unfreiwillige Komik oft selbst erledigen. Trotzdem bleibt da ein Unbehagen über diese bundesdeutsche Anbiederung an den Zeitgeist. Für jeden offensichtlich, lief ökonomisch manches schief. So will man die im Osten wenigstens in Ruhe klagen lassen. Und da West-Beobachter jetzt spätestens bemerken, sich auf ungewissem Faktengrund zu bewegen, bewegen sie sich lieber gar nicht mehr in diese Richtung. Dabei wäre dies gerade jetzt sehr nötig. Auch eine neue, kreative Bildungsarbeit in und außerhalb der Schulen, von Trägern, die momentan finanziell eher beschnitten statt aufgewertet sind. Die DDR nach der DDR könnte im schlimmsten Fall das Modell einer antidemokratischen Gesellschaft abliefern. In Krisenzeiten dann reaktivierbar.

Nun gibt es nicht-demokratische Gesellschaftsmodelle in Massen. Die DDR ist an zwei Punkten gefährlicher als die meisten anderen Staaten: sie existierte wirklich. Sie ging ohne sichtbare Katastrophe, also scheinbar freiwillig, zu Ende. Warum es dann keine Bewegung für das Wiedererwecken des Landes DDR gibt? Weil die allermeisten es nicht wieder haben wollen. Eine Minderheit im Osten aber schon. Doch die klügeren darunter sehen nur eine Möglichkeit, das geliebte System neu zu erwecken: alles zu einer Art DDR zu machen. Damit die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint – hieß es in der Hymne der DDR. Bis dahin wird die Debatte einen Nebeneffekt nicht vermeiden können: den Sozialismus mit DDR-Antlitz als Modell zu konservieren.