Politische Theorie, Kritische Theorie und der Ort der Frankfurter Schule

Würdigung und Aussicht

Dick Howard

Gründete der Politik der Kritischen Theorie vor allem auf dem beharrlichen Insistieren auf die Kraft der Negativität? Und ersetzte sie dabei nicht die notwendige Politik durch Formen kritischer Ästhetik? Ein amerikanischer "Neuer Linker" der Siebzigerjahre wirft einen Blick auf die Frankfurter Schule: Sollte das politische Projekt der alten Frankfurter Schule zu neuem Leben erweckt werden – oder ein würdiges Begräbnis erleben? Jenseits dieser Alternative läge vielleicht die Chance des Rückbezugs auf die Autonomie der Sphäre des Politischen. Darin könnte sich kritische Theorie erneut bewähren.

Die Anziehungskraft, die die Frankfurter Schule für einen amerikanischen Neuen Linken der Siebzigerjahre hatte, beruht auf einem Paradoxon. Die vereinnahmende Kraft der modernen kapitalistischen Gesellschaft, ihre "Eindimensionalität", entwertete praktische Politik und segnete den "liberalen Konsens" ab. Die Theorie jener Tage war vor allem Gesellschaftstheorie, was den gleichen Effekt hatte: Soweit sie nicht affirmativ oder konservativ war, zielte sie auf technische Problemlösungen. In dieser Situation schien kritische Theorie, eine Politik der Theorie, die einzige verfügbare Option zu sein. Sie war radikal gerade in ihrer Bescheidenheit. Sie versuchte, jene Art von immanenter oder dialektischer Kritik zu entwickeln, wie sie Horkheimer und Marcuse in Opposition zur statischen und kontemplativen Perspektive traditioneller Theorie 1937 in ihren Aufsätzen in der Zeitschrift für Sozialforschung entworfen hatten. Das Ziel war, eine verdinglichte Politik zu entmystifizieren, die von der Lebenswelt getrennt ist, von der sie aber dennoch abhängt. Eine solche immanente Kritik würde das emanzipatorische Potenzial deutlich machen, das in dem äußeren Rahmen einer seelenlosen Maschinerie verborgen weiterexistiert. Doch um effektiv zu sein, hätte eine solche politische kritische Theorie der Logik des Politischen ebenso viel Aufmerksamkeit schenken müssen, wie es jene kritischen Philosophen im Jahr 1937 taten. Allerdings war die Grundlage der Hinwendung zur Kritischen Theorie in den Siebzigerjahren die Ablehnung des damaligen politischen Systems. Weshalb sollte man ihm dann die Aufmerksamkeit widmen, die notwendig war, um eine immanente Kritik zu entwickeln? Stattdessen trat mittels eins Kurzschlusses, der sich als kostspielig erweisen würde, kritische Theorie an die Stelle von Politik. Die Politik der Theorie ersetzte die Theorie des Politischen. Diese Haltung schien gerechtfertigt durch das berühmte Diktum aus Adornos Negativer Dialektik: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward." Heute schlägt schließlich das Pendel so weit aus, dass die Politik der (kritischen) Theorie zur Ästhetik der Postmoderne in der Ära von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow wurde. Das politische Projekt der Frankfurter Schule ist verschwunden.

Diese paradoxe Politik, vertreten durch Personen, die, ohne es zuzugeben, Politik hassen, verdient eine neuerliche Betrachtung angesichts der Tatsache, dass der Begriff der "kritischen Theorie" mittlerweile – zumindest an den Universitäten – identifiziert wird mit Literatur-, oder weiter gefasst, mit Kulturtheorie. Politik und Ästhetik werden einfach gleichgesetzt und umstandslos als kritisch definiert. Frankfurter Schule und akademische "kritische Theorie" teilen erneut ein unkomfortables Bett, wenn es um ihre ästhetischen Prämissen geht. Denn was sind Postmodernisten anderes als Modernisten, die die Moderne hassen, wie man am deutlichsten am literarischen Stil und besonders den musikalischen Vorlieben (oder Abneigungen) Adornos sieht? (1) Herbert Marcuse ist politisch nuancierter (oder weniger konsistent) als Adorno. Obwohl er an manchen Stellen forderte, Kunst solle sich auf die Straße begeben und ihre ästhetische Form abstreifen, gab Marcuse seiner letzten Arbeit den Titel Die Permanenz der Kunst. (2) Diese sonderbare Kopplung machte für eine westliche Linke Sinn, die sich (vielleicht seltener, als sie sollte) dessen bewusst war, dass der "real existierende Sozialismus" keine Alternative zur eigenen gesellschaftlichen Ordnung darstellte. Doch die Geschichte der Frankfurter Schule, die in dem 1986 erschienenen Buch von Rolf Wiggershaus ihre definitive Darstellung gefunden hat, (3) drängt zu der Einsicht, dass in der nüchterneren Welt nach 1989 der Postkommunismus relevantere Fragen aufwirft als der Postmodernismus. Das politische Projekt der alten Frankfurter Schule sollte zu neuem Leben erweckt werden – oder ein würdiges Begräbnis erleben. Das Gleiche gilt für den Marxismus, als dessen dialektische Erbin sie sich betrachtete. (4)

War das Verschwinden der politischen Dimension der Kritischen Theorie unvermeidbar? Zweifellos war die Intention ihrer Begründer eine politische. Kritische Theorie war ein akademischer Deckname für Marxismus. Zu den Verdiensten des Buches von Rolf Wiggershaus gehört, dass es die Konfrontation jener ursprünglichen Vorstellungen mit einer Welt verfolgt, auf die sie nicht vorbereitet waren. Dabei wird eine Ambivalenz deutlich, die immer mehr die Form eines Paradoxon annimmt, dessen ursprüngliche dynamische Spannung in dem Maße schwand, in dem die Theorie zu einer "Schule" wurde. Wiggershaus zitiert aus dem Vorwort von Horkheimers frühem, sehr persönlichem Buch mit dem bewusst zweideutigen Titel Dämmerung: "Dieses Buch ist veraltet", beginnt Horkheimer. "Doch mögen", meint er an späterer Stelle, "die Einfälle des ... Verfassers auch späterhin nicht ganz ohne Bedeutung sein". (5) Vor dem Hintergrund dieser Konstellation verfolgt Wiggershaus die Ideen und die Karriere der Kritischen Theorie und der Kritischen Theoretiker des Instituts für Sozialforschung bis hin zu deren deren Begegnung mit der und Einfluss auf die Studentenbewegung. Zu dieser Zeit scheint Kritische Theorie (oft einsichtig, aber damals schwer nachvollziehbar) politische Argumente nicht nur gegen radikale, sondern sogar gegen sozialdemokratische Politik aufzuführen. Welche Art von "Politik" erstrebte sie? Welche Art von "Theorie" rechtfertigte sie? Was verstanden die kritischen Theoretiker unter "Politik", und was machte ihre Theorie "kritisch"?

Mit der Rückkehr nach Deutschland stand nun zunehmend Adorno für die theoretische Arbeit, während Horkheimer mit der administrativen Integration in das neue Westdeutschland beschäftigt war. Indem Adorno immer häufiger die Form des Essays für seine Reflexionen wählte, war es ihm möglich, auch außerhalb der Hörsäle Einfluss zu nehmen. Das war nicht nur eine Frage des Stils; Wiggershaus bemerkt, dass der "Essay für ihn die Form freien Denkens" war. Seine Veranschaulichung dieser Forderung ist viel sagend: "Ich betrachte", schreibt Adorno, "das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie."

Was konnte eine solche Einschätzung seitens des Hauptautors der Authoritarian Personality im neuen Westdeutschland bedeuten? Wiggershaus ist der Ansicht, dass das Fehlen eines klaren Referenzpunktes den Mangel der ursprünglichen kritischen Theorie deutlich macht. Essayistische Einsichten, sich stützend "auf intuitive zufällige Lektüre und eigene Erfahrungen und Assoziationen", verkörperten eine Utopie der Erkenntnis, die es "umzusetzen galt in eine Form der Erfahrung, die die Erkenntniserfolge der organisierten Wissenschaft in ihrer ganzen Breite zu nutzen und ihr zugleich Perspektiven für gezieltere und zugleich behutsamere Erkenntnisse und Eingriffe zu zeigen verstand". (6)

Damit betritt nun Jürgen Habermas den Schauplatz und der Leser fragt sich, ob sich das gesamte Bild durch die Präsenz des neuen Akteurs verändert hat, der von Wiggershaus in der Kapitelüberschrift so vorgestellt wird: "Endlich ein Gesellschaftstheoretiker am Institut, von Adorno hoch geschätzt", doch, so heißt es in der Überschrift weiter, "von Horkheimer für zu links befunden." Was bedeutet es an dieser Stelle, "links" zu sein? Links scheint bei Horkheimer vor allem für all das zu stehen, was die Existenz und das Ansehen seines Instituts bedrohen könnte. Doch Horkheimers persönliche Ängste (und Ambitionen) können nicht erklären, wie und warum sich die kritische Theorie der Politik von ihren radikalen Wurzeln verabschiedete. Es ist kein Zufall, dass Wiggershaus Habermas mit den Worten "endlich ein Gesellschaftstheoretiker" einführt. War dies das Zeichen, dass die Dimension des Politischen nunmehr keine Bedeutung mehr hatte?

Wiggershaus führt dem Leser die Idiosynkrasie Horkheimers vor Augen, die ihren Ausdruck in der Personalpolitik fand, und er zeigt die Probleme, die aus seiner Rolle als Chef(-bürokrat) und/oder Unternehmer entstanden: in den Auseinandersetzungen über die Ausrichtung des Instituts, in der Auswahl der Projekte oder aber in den Kompromissen mit den Autoritäten des neuen westdeutschen Staates. Horkheimers Verhalten gegenüber Herbert Marcuse während der Exilzeit in den Vereinigten Staaten schockiert angesichts der zahlreichen Manipulationen.

Obwohl es auch beruhigend sein kann zu wissen, dass auch Helden der Theorie manchmal tönerne Füße haben, sind solche Charakterzüge aber eben nicht nur einfach Idiosynkrasien. Neben der Institutspolitik waren die Frankfurter vor allem in ihrer Exilzeit besorgt angesichts der politischen Welt, die sie umgab. Wiggershaus bezieht in die Geschichte des Instituts auch genuin politische Denker wie Franz Neumann und Otto Kirchheimer wieder mit ein. Kirchheimers früherer Versuch in einer kritischen Verwendung von Carl Schmitts Demokratiekritik einen "Links-Bolschewismus" zu rechtfertigen, führte zu einer Debatte mit Franz Neumann, der als Jurist für die Sozialdemokratie gearbeitet hatte. (7)

Wiggershaus nimmt dies allerdings nicht zum Anlass, die Frage zu stellen, auf welche Weise diese Debatte den Zusammenstoß zwischen der "utopischen" Dimension der Kritischen Theorie und ihren aktuellen politischen Implikationen reflektiert. So versäumt es Wiggershaus, beispielsweise einem Brief Horkheimers an Marcuse mehr Aufmerksamkeit zu widmen. In diesem betont Horkheimer, dass seine Entscheidung, gemeinsam mit Adorno am Antisemitismus-Projekt zu arbeiten, die Möglichkeit beinhaltet, dass Projekt einer kritischen Theorie der Politik weiterzuverfolgen. Marcuse hatte dagegen vorgeschlagen, das eine kritische Studie über "Demokratie" der angemessene Weg wäre, soziale Probleme mit theoretischen Fragen in Beziehung zu setzen. Doch Horkheimer antwortete, dass "aus bestimmten Gründen [die im Brief nicht angeführt werden], wir diese Möglichkeit fallen gelassen haben." (8) An dieser Stelle konzentriert sich Wiggershaus auf die Politik der Theorie und lässt den Leser über das Wesen einer kritischen Theorie der Politik im Unklaren, die doch im Grunde die Voraussetzung der wissenschaftlichen Interessen Horkheimers war.

Die eigentliche Politik der Kritischen Theorie gründete vor allem auf dem beharrlichen Insistieren auf die Kraft der Negativität. Der schwache Optimismus hinsichtlich der Bedeutung von Theorie – als einer "kritischen" –, wie er in den hier zitierten Passagen aus Dämmerung sichtbar wurde, verschwand vollständig in Horkheimers Die Juden und Europa von 1939 (berühmt vor allem in den Siebzigern für den Satz: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen") und in Autoritärer Staat (1942) mit seiner brutal pessimistischen Vision einer geschichtlichen Entwicklung, die zwei autoritäre Staaten hervorgebracht hatte. Von der anfänglichen Weigerung gegenüber einer verdinglichten Geschichtsphilosophie, über die Kritik der verwalteten Welt, bis hin zu der psychologisch angeleiteten Kritik der Anpassung der Individuen und bis zu Adornos essayistischer Freiheit, der Slogan des Nicht-Mitmachens stelle einen Imperativ dar, der Theorie vor möglicher Konformität schütze und der damit versuche, die Möglichkeit von Kritik aufrechtzuerhalten. So bewundernswert diese Ausrichtung auch sein mag, Wiggershaus veranschaulicht jedoch die theoretischen und praktischen Schwierigkeiten einer Politik des Negativen. Er deutet auf deren Voraussetzung hin: Die Idee einer Vernunft, welche die strategische Mittel-Zweck-Logik transzendiert, die politische Projekte in eine eindimensionale Welt einbindet, aus der es kein Entkommen gibt. Wiggershaus ist sich der romantischen Natur dieser Prämisse bewusst und zeigt, wie diese auch eine messianisch-religiöse Färbung annehmen kann, etwa bei Benjamin oder Adorno, und auch (noch überraschender) bei Horkheimer. Doch was er nicht berücksichtigt ist die Frage, auf welche Weise eine solche Ausrichtung auf Vernunft, Romantik oder Religion denn die Preisgabe von Politik enthält. Der Imperativ der Negativität, auf der die Kritische Theorie gründet, entwertet die "empirische" Welt, die nur durch eine immanente dialektische (oder mystische) Kritik "gerettet" werden kann. Das ursprüngliche Paradoxon kehrt an diese Stelle wieder zurück: Indem man auf der Kraft des Negativen beharrt, wird impliziert, dass kritische Theorie selbst schon Politik sei, und dass die Politik der Theorie alles sei, was an radikalem Denken möglich wäre. Dies ist die theoretische Grundlage für den Pessimismus der "Frankfurter"; und es kann auch als teilweise Erklärung für deren Entscheidung herangezogen werden, sich der Politik der Theorie innerhalb der Universität zu widmen.

Der Imperativ der Negativität hat für die kritische Theorie der Politik noch eine weitere Konsequenz: Deren Protagonisten werden ipso facto Teil einer Elite, die durch ihre selbst ernannte Fähigkeit begründet wird, unter die Oberfläche der verdinglichten Beziehungen innerhalb der verwalteten Welt blicken zu können. Gemäß der marxschen Analyse des Warenfetischs privilegierte die Frankfurter Konzeption der Beziehung zwischen Theorie und Praxis Erstere, obwohl sie Letztere anmahnte. Doch ironischer- oder paradoxerweise war die Praxis, an die apelliert wurde, letztlich die Praxis der Theorie, die Probe auf die Negativität, das Schmecken der Promesse de Bonheur, das Marcuse gerne evozierte. Wiederum wird deutlich, dass eine kritische Theorie der Politik und ein bestimmtes Verständnis von Ästhetik dazu neigen, in eine Einheit gebracht zu werden, welche jedoch die Fähigkeit beider Seiten zerstört, die jeweils andere in ihrer Differenz und dem besonderen Gebiet ihrer Geltung sowie ihrer theoretischen Prämissen anzuerkennen. Obwohl die oft zitierte Feststellung Hegels, jede Determination sei Negation, verteidigt werden kann, lässt sich dennoch nicht sagen, dass jede Negation auch Determination bedeutet.

Es überrascht nicht, dass sich Horkheimer und Adorno nie in der amerikanischen Kultur heimisch gefühlt haben. Doch es verblüfft, das sich in ihrer Kritik des Amerikanischen keine Referenz an den anderen Aristokraten finden lässt, der eine kritische Theorie der Politik gegen den "backdrop" der gemeinen amerikanischen Praktik der Demokratie verfasste: Alexis de Toqueville. Er wird auch nicht im Literatur- oder Stichwortverzeichnis des Buches von Wiggershaus erwähnt. Allerdings beeindruckt den Frankfurt-geschulten Leser der Demokratie in Amerika Toquevilles Darstellung der Mittelmäßigkeit der demokratischen Leidenschaften Amerikas: deren pragmatische Begierde nach der bloßen Erscheinung des Lebens, deren Manipulierbarkeit, die sie einerseits pazifistisch und selbstbezogen sein lässt oder aber kriegerisch und einer idealistischen Rhetorik verfallend. Trotz der Nähe in ihren Beschreibungen und in ihrer Kritik – der Franzose entwickelte eine kritische Theorie der Politik (demokratischer Politik), die Theorie der Frankfurter hingegen verhalf einer Politik der Kritik zum Aufschwung. (9)

Weshalb trat die Kritik an die Stelle der Politik? Das ist nicht nur eine biographische Frage; eher trifft es den Zustand unserer postmodernen Welt, in der "kritische Theorie" zu Literaturkritik geworden ist, während Politik (nicht nur an der Universität) von der Tagesordnung verschwindet. Die Ursache liegt nicht bei den Frankfurtern; doch deren rigorose und konsistente Entscheidung für das Negative, ihre Weigerung "mitzumachen", macht die Karriere ihrer Kritischen Theorie zu einem nützlichen Symptom für diese Entwicklung.

Horkheimers beständige Sorge um den Aufbau einer Schule, um ein kollektives Projekt, das eine kollektive Vision zum Ausdruck bringen würde, konnte zu Ränkespielen führen, zu Eigenmächtigkeiten in der Herausgabe von Publikationen und zu Zerwürfnissen (wie es vorhin am Verhältnis zu Marcuse gezeigt wurde). Doch am Ende stand ein einheitliches "Produkt" (obwohl dieses, wie Dubiel schreibt, drei verschiedene Phasen vor der Rückkehr nach Deutschland durchlief; (10) und wie Wiggershaus zeigt, konnte das Projekt seine theoretische Kohärenz nach der Rückkehr nur auf Kosten des Einfrierens der theoretischen Entwicklung aufrechterhalten (wie es auch die Ausrichtung auf "lohnende" empirische Forschung verdeutlicht). (11) Das Ziel, eine Schule aufrechtzuerhalten, bedeutete auch die Ritualisierung der Theorie und ihrer kritischen Funktion. So lässt sich auch erklären, aus welchem Grund Habermas für Horkheimer "zu links" war: wegen dessen Beziehungen zu den Sozialdemokraten oder seinem Versuch, marxistische Theorie zu erneuern, aber auch aufgrund seiner Beziehung zur rebellischen Jugendbewegung, dem SDS. (12) Wichtiger noch, die Bildung einer Theorieschule war nur um den Preis der Fixierung, Rigidität und Ausblendung von Debatten möglich. Theorie wird zu ihrer eigenen Politik, Kritik dagegen ein zu riskantes Unterfangen. Dennoch sei wiederholt, dass es unbefriedigend ist, diese Entwicklung irgendwelchen charakterlichen Mängeln Horkheimers oder anderer anzulasten. Manche mögen dafür die schlimme Erfahrung des Faschismus anführen, andere wiederum finden die Wurzeln in jenem dem Marxismus innewohnenden Mangel, Politik auf Ökonomie zu reduzieren.

Wiggershaus verdeutlicht in seiner Geschichte der Frankfurter Schule die Notwendigkeit einer Untersuchung, die danach fragt, ob vielleicht schon in der Initiierung dieses Projektes, in dessen kritischer Intuition, etwas enthalten ist, das den unerwarteten und nicht beabsichtigten Ausgang erklären könnte.

Aus dem "Institut für Sozialforschung" und seinem Versuch, in Anknüpfung an Marx eine "kritische Theorie der modernen Gesellschaft" zu formulieren, wurde Die Frankfurter Schule, wie der Titel von Wiggershaus‘ Buch lautet. Heute kann der Leser, der diese Arbeit würdigt, aber doch überrascht ist von den Problemen eines Institutsalltags, einer Institution, deren Alltags-Existenz ihm in den Siebzigern und Sechzigern entgangen ist, fragen: War es das wert? Ist es das wert? Kann es heute noch einmal unternommen werden? Jeder wird seine eigene Antwort darauf haben, abhängig davon, wie sie oder er die deutsche Geschichte nach 1989 wahrnimmt. Für die Bundesrepublik zieht Wiggershaus (sein Buch wurde 1986 veröffentlicht) ein positives Fazit: Die Studentenbewegung und ihre durch die Frankfurter inspirierte theoretische und praktische Arbeit war ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung der deutschen Kultur und Gesellschaft, die aus dem Krieg intakt hervorging. Doch dieser Erfolg lässt die Frage offen, ob eine solche Schule auch heute gebildet werden könnte. In einer demokratischen Gesellschaft kann eine Schule – entsprechend den Aphorismen in Adornos Negativer Dialektik – nur insofern existieren, wenn sie eine bestimmte (kritische oder negative) theoretische Grundlage aufrechterhält. Diese Aufrechterhaltung muss von der Forderung gerechtfertigt, gestützt werden, dass eine Politik der Theorie wesentlich ist für die Erhaltung der Autonomie politischer Praxis. Doch wenn das, was wir heute brauchen, eine kritische Theorie demokratischer Politik ist, dann ist aus den gleichen Gründen die Bildung einer Schule nicht wünschenswert ... und, glücklicherweise, deren Aufrechterhaltung auch unmöglich. Wie es die Anknüpfung an Toqueville nahe legt, sollte die kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie von der Frankfurter Schule diskutiert wurde, ersetzt werden durch eine politische Theorie der Demokratie, in der die Autonomie des Politischen als Instanz des Negativen begriffen wird, die nicht einfach in die neue globale Welt integriert werden kann und in der Grenzen (nicht nur geopolitisch) immer poröser werden.

Das Paradoxon, das am Beginn meiner Überlegungen stand, holt uns wieder ein, und die offensichtliche Nähe der Frankfurter Ausprägung von kritischer Theorie und deren akademische Spiegelbilder fallen auseinander: Radikale politische Theoretiker, die kein intuitives Gespür für Politik besitzen und dieser gegenüber eine Art aristokratischer Herablassung zum Ausdruck bringen, empfinden eine Verpflichtung "kritisch" zu sein. Es ist nicht überraschend, dass deren kritische Praxis die Gestalt einer Politik der Theorie annimmt. Doch eine Politik der Theorie kann entsprechend zu unterschiedlichen Regeln auch praktisch werden. Kritische Theorie demokratischer Politik, an der es gegenwärtig mangelt, kann nicht durch postmodernistische Spielereien an der Oberfläche gewährleistet werden, als ob demokratische Praxis einfach die Spontaneität der plötzlich befreiten Frauen und Männern – wie?; per Dekret? – wäre, deren Einschränkungen Lyotard als Große Erzählungen bezeichnet. Postmodernismus ist ebenso eine Politik der Theorie, doch er kann eine Theorie der Politik nicht ersetzen (so, wie Marx seine Zeitgenossen 1843 daran erinnerte, dass die "Waffe der Kritik nicht die Kritik der Waffen" überflüssig macht). Postmodernismus ist in seinen verschiedenen Ausprägungen in dem Sinne "kritisch", als er eine andere Realität jener akzeptierten Vision des Sozialen gegenüberstellt, die als "wirkliche" gilt. Doch eine solche Verfahrensweise ist die einer positiven Theorie, nicht die einer kritischen Theorie! Die Gegenüberstellung der einen Realität mit einer anderen produziert letztlich Kritizismus; es handelt sich dabei nicht um jene immanente Kritik, die in der ursprünglichen Ausrichtung der Frankfurter Schule den Versuch darstellte, die Auseinandersetzung mit modernem Kapitalismus und kapitalistischer, sozialer wie kultureller Modernität neu zu fassen.

Die Schwierigkeit einer solchen immanenten Kritik ist, dass sie nur durch jene Art heroischer Ablehnung aufrechterhalten werden kann, die bei den Frankfurtern in deren "Nichtmitmachen" zum Ausdruck kam. Doch Heroen werden müde, Schüler scheitern, Haltungen verhärten sich, je mehr das Institut zu einer Schule wird und sich möglicherweise zu einem "langen Marsch durch die Institutionen" aufgemacht hat, in dem Glauben, auf diese Weise werde das Wesentliche schließlich bewahrt. Doch es gibt auch eine andere Möglichkeit, kritische Theorie aufrechtzuerhalten – ironischerweise handelt es sich dabei um eine Variante, auf die Marx in der Einleitung seiner Dissertation anspielt. Er schlägt vor, dass der Philosoph gleich Themistokles, wissen muss, wann die Zeit gekommen ist, "ein neues Athen auf See oder einem anderen Element" zu gründen. (13) Dieses "andere Element", dass# es der kritischen Theorie ermöglicht, ihren schwierigen Weg zwischen dem illusionären Charme ästhetischer Phantasie und den Zwängen einer sich globalisierenden Gesellschaft zu verfolgen, liegt in der Sphäre des Politischen, dessen Autonomie gerade auf jener negativen Distanz beruht, welche für eine kritische Theorie notwendig ist.

Übersetzung: Nenad Stefanov

Anmerkungen

1

Ich möchte betonen, dass ich nicht behaupte, dass es eine unmittelbare Verbindung zwischen der Frankfurter Schule und den verschiedenen Varianten von Literatur- und Kulturtheorie gibt, die heute an den Universitäten als "Kritische Theorie" fungieren. Mich interessieren vielmehr die auffallenden Ähnlichkeiten zwischen beiden – und ihre Unfähigkeit, sich mit Politik auseinander zu setzen.

2

Zu den Wandlungen in Marcuses ästhetischer Theorie und deren politischen Implikationen siehe: "Out of the Silent 50‘s" in: Dick Howard, Defining the Political, Minneapolis, 1989, S. 21-30.

3

Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München, 1986 auf Deutsch, 1993 auf Englisch.

4

Eine umfassende Erörterung der zur Mode gewordenen Politik der Theorie müsste ihre französischen Varianten berücksichtigen und zweifellos bei Louis Althussers Verwendung dieses Begriffs in seinen Vorlesungen im Februar 1986 über "Lenin und Philosophie" ansetzen. Ich bin auf dieses Thema vielfach eingegangen und möchte an dieser Stelle nur verweisen auf meine jüngste Präsentation von 11 Thesen zu der Frage "Can the French Intellectuals Escape Marxism?" in: French Politics and Society, Vol. 16, Nr. 1, Winter 1998, S. 38-47. Die letzte These besagt, dass sie zu sehr versucht haben, die Welt zu verändern, es kommt aber darauf an, sie zu begreifen.

5

Zitiert nach: Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 147. – Die Parallele zu dem oben angeführten Zitat aus Adornos Negativer Dialektik zeugt von einer Kontinuität, die manche bestreiten.

6

Ebenda, S. 596.

7

Die hier aufgeworfenen Fragen und deren theoretische Wurzeln werden bei William E. Scheuermann gut veranschaulicht: Between Norm and the Exception. The Frankfurt School and the Rule of Law, Cambridge, 1994.

8

Ebenda, S. 320.

9

Das Konzept einer "Politik der Kritik" wird durch den Genitiv ambivalent, der suggeriert, dass es die Kritik sei, die politisch ist (oder an die Stelle von Politik tritt, wie ich es nahe lege), oder aber den Eindruck erweckt, es gäbe kritische Politiken, die ihre eigenen besonderen Strukturen und Imperative hätten. Hier ist nicht der Ort, um die letztere Möglichkeit zu diskutieren.

10

Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt, 1978.

11

Wiggershaus´ Darstellung der Art von Forschung, die vom Institut nach der Rückkehr nach Deutschland durchgeführt wurde, überrascht die Verehrer der Frankfurter Helden. Diese "Lohn-Arbeit" wurde zunächst in Verbindung mit den Gewerkschaften durchgeführt, doch verlor sie schon bald ihre politische "Legitimation". Theoretische Erwägungen verschwanden darin bald aus dem Blickfeld der Frankfurter – mit Ausnahme einiger Dissertationen (z. B. von Oskar Negt, Rolf Tiedemann und Alfred Schmidt), die in kurzlebigen Bänden des Instituts veröffentlicht wurden. Stattdessen wurde praktische Forschung betrieben, die Wiggershaus unter dem Titel darstellt "Abschied von der einstigen Unabhängigkeit: die Betriebsklima-Untersuchungen in Werken der Mannesmann A.G. ...". Allem Anschein nach scheint sich diese Arbeit unzweideutig auf die Seite des Managements zu stellen. Obwohl Adorno seine Arbeit an einer Theorie des Negativen fortsetzte , erinnert Wiggershaus an die gut bekannte Geschichte, dass all die früheren Ausgaben der Zeitschrift für Sozialforschung im Keller des Institutes verschlossen gehalten wurden, als ob man die politischen Erwägungen, die den radikalen theoretischen Ausgangspunkt der Gründer bilden, wegschließen könnte.

12

Habermas kann sogar zu diesem Zeitpunkt kaum als radikaler Linker gelten. Er griff die Illusionen der studentischen Linken auf einem Kongress des SDS 1968 an. Die Polemik unter dem Titel "Die Scheinrevolution und ihre Kinder" provozierte eine unmittelbare Gegenattacke in dem Buch Die Linke antwortet Jürgen Habermas (Frankfurt, 1968). Dass Habermas später seine eigene Version kritischer Theorie entwickeln würde, die in einer radikalen Theorie der Demokratie kulminierte, konnte natürlich in Wiggershaus` Buch von 1986 nicht Gegenstand der Analyse sein. Zu Letzterem mein Aufsatz: "Law and Political Culture"; in: Political Judgements, op. cit.

13

Siehe: Karl Marx, Frühe Schriften I, Hrsg. H.-J. Lieber, Peter Furth, Stuttgart, 1962, S. 104.

 

 

 

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Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

Ausgabe Dezember 2000 (18. Jg., Heft 12/2000)