Die Bahnreform ist gescheitert

Vom Konflikt zwischen "Börsenbahn" und "Bürgerbahn"

Eckehard Frenz

Am 4. November 2000 brach das bilanztechnische Kartenhaus zusammen. Bahnvorstand und Bundesregierung mussten "nach einer schonungslosen Bestandsaufnahme" bis zum Jahre 2005 Planabweichungen in einer Größenordnung von 17 Milliarden DM einräumen. Ab dato gings täglich weiter mit schlechte Nachrichten ein. Der Traum, im Jahre 2004 an die Börse zu gehen, ist auf absehbare Zeit ausgeträumt. Der Hintergrund für diese Entwicklung ist neben wirtschaftlichem Fehlverhalten das Fehlen eines innovativen verkehrspolitischen Konzeptes der Bahn und der Verkehrspolitik im Allgemeinen. Nach dem Rücktritt von Verkehrsminister Klimt gab es sogleich ein "Sofortprogramm". Aber die 6 Milliarden für die Erneuerung des Bestandsnetzes können nur ein Anfang sein. – Um die Kennzeichung eines alternativen Entwicklungspfades der Bahn geht es im folgenden Artikel.

Auf wirtschaftliche Probleme wird bei großen Konzernen in der Regel mit Stühlerücken in der Vorstandsetage reagiert, getreu dem Motto: Neue Besen kehren besser. Die DB AG machte da keine Ausnahme. Seit ihrer Gründung hat sie nicht nur den dritten "neuen Besen" in der Person von Hartmut Mehdorn auf den Stuhl des Vorstandsvorsitzenden gesetzt, sondern auch für eine ständige Fluktuation in den nachgeordneten Managementpositionen gesorgt. Das wiederum war und ist Auslöser für ständige Umorganisationen im Konzerngefüge bis hin zur betrieblichen Ebene. In Verbindung mit dem permanenten Unruheherd Personalabbau hat das zur Konsequenz, dass sich der Konzern mehr mit sich selbst als mit seinen Kunden beschäftigt.

Zu Letzteren zählen seit 1996 nicht nur Fahrgäste und Frachtkunden, sondern auch die per Regionalisierungsgesetz als Aufgabenträger des ÖPNV bestimmten Bundesländer, die mit ihren Transferleistungen von jährlich rund 5 Milliarden Euro nicht nur, wie gesetzlich vorgesehen, den Schienenpersonennahverkehr (SPNV), sondern indirekt durch überteuerte Beiträge zur Schieneninfrastruktur das Gesamtunternehmen DB AG am Leben erhalten. Die Nahverkehrszüge von DB Regio und der mittlerweile auf DB-Gleisen fahrenden Mitbewerber zahlen über die Trassengebühren rund 60 Prozent der gesamten Infrastrukturkosten der DB AG.

Weil die Bahnreform losgelöst von einer Reform der bundesdeutschen Verkehrspolitik durchgepeitscht wurde, verwundert es nicht, dass der seit Dezember 1999 amtierende Vorstandsorsitzende Mehdorn versucht, die gegenwärtigen, aber im Grunde genommen alten Probleme der Bahn mit Sanierungsrezepten von gestern lösen zu wollen: Personalabbau, Leistungsabbau, Reduzierung der Betriebsmittel, Demontage der Infrastruktur, Überschätzung des Marktsegments Geschäftsreiseverkehr, Fixierung auf eine angeblich auf den Schienenverkehr übertragbare Vorbildfunktion des Luftverkehrs.

 

Absturz vorprogrammiert

"Wir wollen so werden wie die Lufthansa." Dieses Glaubensbekenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch die geschäftspolitischen Perspektiven der Bahn-Manager. Ärgerlich nur, dass mit dem freundlichen Lächeln einer Stewardess oder Zugbegleiterin eigentlich schon die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Verkehrssystemen enden. Denn beide Verkehrsträger haben jeweils systembedingte Vor- und Nachteile, die sich nicht ungestraft von einem auf den anderen übertragen lassen.

Das Flugzeug ist vom System her ein nicht spurgebundenes Hochgeschwindigkeits-Verkehrsmittel, das mit einem Minimum an fester Infrastruktur auskommt. Da das Flugzeug im Luftraum frei beweglich ist, sind Linienführungen unendlich variabel und nur durch Sicherheitsabstände der Flugzeuge untereinander begrenzt. Der Nachteil des Flugzeugs ist seine geringe Transportkapazität bei gleichzeitig hohem Energieverbrauch in Verbindung mit flächendeckenden Lärmemissionen.

Für die betriebliche Praxis ergibt sich daraus eine Orientierung der angebotenen Direktflüge weniger am Kundenwunsch, als vielmehr an der Querschnittsbelastung zwischen zwei Airports, um die Kapazitäten der eingesetzten Maschinen optimal auszunutzen. Die Liniennetze der Airlines sind daher vorzugsweise nach einem "Hub-and-Spoke"-System (Nabe und Speiche) organisiert. Daraus resultiert für den Fluggast eine "kaskadierende Bedienung" mit unterschiedlich großem Fluggerät in Relationen zwischen Regionalflughäfen mit zeitraubenden Umsteigezwängen an den "Luftdrehkreuzen", den "Hubs". Die Notwendigkeit der betrieblich optimierten Platzausnutzung (seat management) in Verbindung mit der relativ geringen Ladekapazität erklärt auch den Zwang zur Vorbuchung oder Abbestellung von Flugreisen, die umständliche und zeitraubende Gepäck-Logistik, die Begrenzung des "Freigepäcks" sowie die kaum noch überschaubare Tarifvielfalt.

Die Eisenbahn ist hingegen ein spurgebundenes Verkehrsmittel, das ein Maximum an Infrastruktur erfordert, um überhaupt funktionsfähig zu sein. Für alle Fahrtbeziehungen (inkl. der Reservehaltung) müssen entsprechende Gleisanlagen (inkl. Sicherheitstechnik) vorgehalten werden. Der "Hochgewindigkeitsbereich" der Eisenbahn liegt deutlich unter dem Geschwindigkeitsniveau mit Strahltriebwerken ausgerüsteter Flugzeuge. Der große Systemvorteil der Eisenbahn liegt im geringen spezifischen  Energieaufwand im Verhältnis zur beförderten Last. Dies in Verbindung mit der freizügigen Zugbildung durch Koppelung angetriebener und nicht angetriebener Fahrzeuge ohne lineares Ansteigen des Personalaufwands.

Dadurch kann das System sehr flexiblel und dennoch kostengünstig auf Nachfrageschwankungen reagieren und es toleriert selbst Überlastungen ohne Gefährdung der Betriebssicherheit. Das System eignet sich für umsteige- und umladefreie Direktverbindungen über verzweigte Netze mit unterschiedlichsten Auslastungsgraden. Neuere Entwicklungen wie der Einsatz automatischer Kupplungen und die Konstruktion von Fahrzeugen für den Mischverkehr Eisenbahn/Straßenbahn haben die Systemvorteile der Bahn noch vergrößert.

Wegen der großen Systemtoleranz gegenüber Nachfrageschwankungen, aber auch wegen der hohen Fixkosten gerade im Infrastrukturbereich, liegt es für ein Eisenbahnunternehmen nahe, im Gegensatz zu einer Fluggesellschaft nicht nachfrageorientiert, sondern angebotsorientiert zu agieren. Das heißt möglichst viele vertaktete und vernetzte Direktverbindungen zu niedrigen Einheitstarifen anzubieten, und das unter Verzicht auf Zugangsbarrieren wie obligatorische Platzreservierung, tages- und/oder streckenabhängige Bonus-/Malus-Regelungen usw.  

"So zu sein wie die Lufthansa" würde dagegen in der Praxis darauf  hinauslaufen, bestimmte Systemnachteile des Flugbetriebs auf die Bahn zu übertragen, ohne aber unbestrittene Systemvorteile der Luftfahrt dabei übernehmen zu können.

Dessen ungeachtet werkelten und werkeln die Bahn-Manager unverdrossen an neuen Zugangsbarrieren für Bahnkunden. Schon konkret ist das Projekt "MORA". Hinter diesem Kürzel für "marktorientiertes Angebotskonzept" verbirgt sich die Streichung von 9 Prozent aller Fernverkehrsleistungen (16 Mio. Zug-Kilometer) der DB AG zum Fahrplanwechsel im Mai 2001. Weitere 13 Prozent (23 Mio. Zug-Kilometer) sollen bis 2003 folgen, das bedeutet insgesamt eine Reduzierung der jährlichen Zug-Kilometer-Leistungen im Fernverkehr (überwiegend ICE, IC, IR) von gegenwärtig 179 auf 140 Millionen. Betroffen sind vor allem die zuschlagfreien Interregio-Verbindungen. Ganze Regionen, vor allem Urlaubsgebiete, werden von umsteigefreien Direktverbindungen mit den Ballungszentren buchstäblich abgehängt. Das innerdeutsche Luftverkehrsnetz wird dann schon dichter sein als das Fernverkehrsnetz der Bahn, vom Autobahnnetz ganz zu schweigen.

Auch der Erwerb von Fahrkarten wird schwieriger, vor allem wenn Auskunft und Beratung gewünscht werden. Von derzeit 1000 eigenen Reisecentren und Verkaufsstellen will die DB AG 250 schließen und außerdem 2000 der insgesamt 4000 bestehenden Lizenzverträge mit Agenturen und Reisebüros kündigen. Als Ersatz soll der Vertrieb über Automaten und Internet ausgeweitet werden.

Konzentrieren will sich die DB Reise- und Touristik AG, die Fernverkehrssparte der DB AG, offensichtlich auf ein etwa 3400 Kilometer langes ICE-Kernnetz mit 9 Knotenbahnhöfen, das sich mit wenigen Strichen zwischen Hamburg, Berlin, Leipzig, Rhein-Ruhr, Rhein-Main, München und Stuttgart aufzeichnen lässt. Das als "Vision 2020" projektierte Netz, das im 30-Minuten-Takt bedient werden soll, wurde bereits auf der EXPO präsentiert. Dazu soll es ICE-Ergänzungsstrecken, etwa Dortmund – Hannover, Hamburg – Rostock, Berlin – Dresden oder Mannheim – Basel mit einer Gesamtlänge von rund 1500 Kilometern geben. Dieses ICE-Gesamtnetz soll nach dem "Hub-and-Spoke"-System organisiert werden, also relativ kurze Linien mit häufigen Umsteigezwängen in den Knotenbahnhöfen. Pikanterweise planen gegenwärtig etliche Luftverkehrsunternehmen, sich vom "Hub-and-Spoke"-System zu lösen, zugunsten von mehr Direktverbindungen, auch unter Einbindung von Regionalflughäfen.

Die Absichten der DB AG folgen einer bereits in den Siebzigerjahren bei der Bundesbahn kultivierten Manager-Ideologie, vorrangig eine zahlungskräftige Klientel zwischen den Metropolen auf "Flughöhe null" durch die Landschaft katapultieren zu wollen. Das wird sich aber, wie viele in diese Richtung zielende Ideen – erinnert sei nur an die in den Sechziger- und Siebzigerjahren ausschließlich für Fahrgäste der 1. Klasse konzipierten IC- und TEE-Konzepte –, als strategische Fehlentscheidung erweisen. Eine auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr reduzierte Nutzung der teuren Eisenbahninfrastruktur kann die Bahn im Wettbewerb mit dem Luftverkehr wirtschaftlich nicht überleben, zumal als Folge der EU-Liberalisierungspolitik ein Preiskampf der Airlines untereinander im Kurz- und Mittelstreckenbereich erst noch bevorsteht.

Das anvisierte ICE-Schrumpfnetz wird allein schon deshalb schnell zur leichten Beute der fliegenden Konkurrenz, weil es nicht nur die Umsteigezwänge im innerdeutschen Luftverkehr nachvollzieht, sondern seine wenigen Strecken exakt den rentabelsten Korridoren der Airlines folgen und überdies die bisher von den Marketing-Fachleuten der Bahn gespielte Trumpfkarte, der Zug fahre im Gegensatz zum Flugzeug direkt in die Zentren der Metropolen, immer weniger sticht. Denn gerade die zahlungskräftige Klientel, auf die man bei der DB AG so besonderen Wert legt, residiert und arbeitet immer seltener in hauptbahnhofsnahen Citylagen und kann in der Regel von ihren heutigen Standorten in Stadtrandlagen oder in der "Provinz" dank hervorragend ausgebauter Straßennetze den nächsten Flughafen schneller erreichen als den ICE-Bahnhof. Und wärend die Bahn-Manager noch darüber nachdenken, wie sie ihre Kundschaft mit Reservierungspflicht und saftigen Nachlösegebühren disziplinieren können, wird vermutlich in der Vorstandsetage der Lufthansa schon über eine Aufhebung der Reservierungspflicht auf innerdeutschen Hauptlinien nachgedacht. So wie auf Binnenflügen in den USA bereits üblich, und zwar ohne Aufpreis.

Ein Indiz für diese These ist der Misserfolg des derzeitigen Prestige-Zuges der DB AG, des "Metropolitan", der zwischen Hamburg und Köln die Lufthansa das Fürchten lehren sollte. Mit durchschnittlich nur um die 100 Fahrgästen pro Zug fürchten sich eher die Manager der von der DB AG eigens gegründeten Tochtergesellschaft Metropolitan Express Train GmbH, weil jährlich zweistellige Millionenverluste auflaufen, während die Lufthansa eine geringere Auslastung ihrer Maschinen bisher nicht feststellen konnte.

Weil die Superzüge im Betriebsablauf der Bahn absoluten Vorrang genießen und in unschöner Regelmäßigkeit die vertakteten Regionalfahrpläne zwischen Hamburg und Köln durcheinander bringen, was sicherlich zahlreiche Alltagsfahrgäste des Nahverkehrs wieder in den Pkw umsteigen lässt, muss die ketzerische Frage erlaubt sein, ob es nicht volkswirtschaftlich und auch ökologisch sinnvoller ist, die wenigen Insassen des hochdefizitären Luxuszuges doch lieber der Lufthansa anzuvertrauen.

Gerade das Beipiel "Metropolitan" provoziert grundsätzliche Fragen zur Positionierung des Verkehrsträgers Eisenbahn im heutigen Gesamtverkehrssystem. Auch Eisenbahnen belasten die Umwelt durch Lärm, Energie- und Flächenverbrauch. Diesen Belastungen muss ein höherer gesamtwirtschaftlicher Nutzen gegenüberstehen, das heißt auch eine Eisenbahnstrecke muss ihre Existenz legitimieren. Je mehr Städte und Gemeinden von einer direkten Bedienung durch die Bahn ausgeschlossen werden, desto häufiger wird man dort die Frage aufwerfen, welchen kommunalen Nutzen die Bahn eigentlich noch hat, wenn nur noch Hochgeschwindigkeitszüge durchrasen und nachts noch ein paar Containerzüge auf der Fahrt zwischen Skandinavien und Italien den Schlaf der Anwohner stören.

 

Konflikt zwischen "Börsenbahn" und "Bürgerbahn"

Der Schlüssel zur gegenwärtigen und künftigen Akzeptanz der Bahn durch die Bevölkerung (und deren politische Vertreter) liegt dort, wo die Bahn mithilft, alltägliche Verkehrsprobleme im Nah- und Regionalverkehr zu lösen, und zwar für breite Bevölkerungsschichten unkompliziert und preisgünstig zugänglich, sowie in einer fühlbaren Entlastung von den negativen Begleiterscheinungen des Lkw-Schwerverkehrs.

Die mit der Bahnreform geschaffenen Gesetze und Finanzierungsbestimmungen bieten jedoch nur recht unvollkommene Voraussetzungen für eine künftige "Bürgerbahn". Die Definition und fiskalische Ausstattung des ÖPNV (inkl. SPNV) als gemeinwirtschaftliche Aufgabe der Daseinsvorsorge greift zu kurz, da sie den Personenfern- und Güterverkehr auf der Schiene als eigenwirtschaftliches Betätigungsfeld gewinnorientiert arbeitender Unternehmen ausgrenzt. Tatsächlich sind aber die vom Gesetzgeber recht willkürlich gezogenen Grenzen zwischen Personennah- und fernverkehr in der Praxis fließend, wenn nicht gar überhaupt nicht vorhanden. Auch der Schienengüterverkehr lebte und lebt traditionell von der Kuppelproduktion auf einer gemeinsamen Infrastruktur. Vor allem wegen der in Deutschland im Gegensatz zu allen anderen EU-Mitgliedsstaaten eingeführten vollen Anlastung der Infrastrukturkosten haben Eisenbahnunternehmen praktisch keine Chance, der Straße oder der Luftfahrt in nennenswertem Umfang Marktanteile streitig zu machen. Selbst die inzwischen mehr als 100 kleinen und kleinsten Eisenbahnunternehmen, die auf deutschen Schienen Güterzüge rollen lassen, haben lediglich im intramodalen Wettbewerb dem bisherigen Marktführer DB Cargo Frachtkunden abgenommen oder aber beschränken sich auf eine Zubringer- und Verteilerfunktion  in Kooperation mit DB Cargo.

Zu kurz greift die Definition der Daseinsvorsorge auch deshalb, wenn damit nur die momentane Daseinsvorsorge für bestimmte Bevölkerungsgruppen gemeint ist, nicht aber auch die langfristige Daseinsvorsorge für künftige Generationen.  Der vordergründig teure Erhalt einer betriebsfähigen Bahnstrecke beinhaltet stets auch eine Vorleistung für eine Zukunft, in der die individuelle Massenmotorisierung volkswirtschaftlich zu teuer oder gar impraktikabel wird.  Wenn auch nicht davon auszugehen ist, dass der Abschied vom Auto durch aufgeklärte Mehrheiten an den Wahlurnen eingeläutet wird, so ist doch damit zu rechnen, dass sich wirksame Anstöße zu einer "Verkehrswende" in nicht allzuferner Zeit als Folge externer Einflüsse mehr oder weniger zwangsläufig ergeben werden. Maßgebliche Einflussfaktoren können etwa sein:

– Strukturwandel bei der Energieversorgung (Mangel an billigem Rohöl), teure oder nicht vorhandene Alternativen. Einen Vorgeschmack geben die momentanen Preisturbulenzen am internationalen Ölmarkt;

– Klimakatastrophen, in deren Folge regionale Ereignisse oder internationaler Druck eine Reduzierung des Kfz-Verkehrs erzwingen;

– sinkende Massenkaufkraft und in der Folge sinkende Autoverfügbarkeit als Begleiterscheinung der Globalisierung des Arbeitsmarktes;

– altersbedingter Erhaltungsaufwand des überdimensionierten Straßennetzes übersteigt die Finanzkraft der Baulastträger;

– starkes Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung infolge Wirtschaftskrisen oder kriegerischen Auseinandersetzungen im Ausland.

Was folgt daraus? Gute, angebotsorientierte Konzepte für den ÖV allein werden nicht ausreichen. Vielmehr bedarf es ergänzend der Ausarbeitung von Strategien, die drei Voraussetzungen erfüllen:

1. Unabhängigkeit vom heutigen Straßennetz, weil hier der Status quo erbittert verteidigt wird, obwohl der Kollaps vorprogrammiert ist.

2. Weitgehende Verwendung vorhandener Trassen, weil neue Trassen kaum noch oder nur mit großem Planungs- und Zeitaufwand durchsetzbar sind.

3. Verfügbarkeit eines alltagstauglichen Systems, um elektrische Energie aus regenerativen Quellen mit einem hohen Wirkungsgrad auf das rollende Fahrzeug zu übertragen.

Eine vorhandene Eisenbahnstrecke stellt unter diesen Gesichtspunkten über ihren aktuellen Verkehrswert hinaus auch eine Risikoversicherung für die Mobilität der Zukunft dar. Und Versicherungen haben eben ihren Preis.

Mit derartigen Vorsorgeaufwendungen ist natürlich ein Unternehmen wie die DB AG überfordert, wenn der Unternehmensleitung wie bei einem "ganz normalen" Konzern vom Eigentümer das Ziel gesetzt wird, durch die Fokussierung auf Shareholder-Value börsenfähig zu werden. Auch andere Unternehmen privatisieren lieber ihre Profite und überlassen die Daseinsvorsorge den Steuerzahlern.

Kann aber die DB AG überhaupt für sich in Anspruch nehmen, ein "ganz normales Unternehmen" zu sein, wie es Politikvertreter des Eigentümers auch so gerne betonen? Zur Klärung dieser Frage ist es hilfreich, sich die Kriterien zu verdeutlichen, die üblicherweise ein "normales Unternehmen" ausmachen:

1. Der oder die Eigentümer haben ein vitales Interesse am Wachstum und möglichst auch der Marktführerschaft ihres Unternehmens zulasten seiner Mitbewerber.

2. Das Unternehmen ist nicht dauerhaft auf Finanztransfers der öffentlichen Hand angewiesen.

3. Wenn das Unternehmen Teile seiner Produktion einstellt oder infolge Missmanagement völlig vom Markt verschwindet, stehen andere Anbieter bereit, die entstandene Marktlücke umgehend und mindestens gleichwertig zu füllen.

Keines der genannten Kriterien trifft für die DB AG zu. Die vom Eigentümer praktizierte Wirtschafts- und Verkehrspolitik hat in erster Linie steigende Marktanteile des Straßenverkehrs und der Luftfahrt zur Folge, auch wenn dies nicht ausdrücklich als Zielsetzung genannt wird. Die bisher von einer breiten politischen Mehrheit getragene Absicht, die Schiene im Gesamtverkehrssystem zumindest als "Überdruckventil" zu erhalten, macht unter dem Oberbegriff "Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Leistungen" den dauerhaften Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel erforderlich. Diese lassen sich wegen betrieblicher und marktstrategischer Vernetzungen nicht einem bestimmten Verlustbringer (etwa dem SPNV) zuordnen. Die per Gesetz dem SPNV zugewiesenen Regionalisierungsmittel stützen den gesamten Produktmix bis hin zum ICE.

Sollte sich die DB AG teilweise oder ganz aus dem Schienenverkehrsmarkt zurückziehen (müssen), könnten aufgrund der Gesetzeslage nach der Bahnreform durchaus andere Eisenbahnunternehmen in die Bresche springen. Leider jedoch nur rein theoretisch. Denn im Gegensatz zu Unternehmen der Sparten Straßentransport, Binnenschiff- oder Luftfahrt können Eisenbahnunternehmen nicht auf öffentliche und für den Gemeingebrauch vorgehaltene Infrastrukturen zurückgreifen. Sie wären darauf angewiesen, den vorhandenen Schienenweg zu nutzen, und damit eine bestimmende Produktionsdeterminante, der sich jedoch in der Hand eines privaten Monopolisten, der DB AG, befindet. Ob, zu welchen Konditionen und in welchem technischen Zustand dieser Schienenweg nach einem Rückzug der DB AG zur Verfügung stehen würde, ist, wie zahlreiche einschlägige Fälle seit 1994 beweisen, eine Gleichung mit mehreren Unbekannten, deren finanzielle Risiken kein privater Bahnunternehmer allein übernehmen wird. Zumal er jederzeit damit rechnen muss, dass die öffentliche Hand zugunsten konkurrierender Verkehrswege interveniert, indem Straßen oder Binnenwasserstraßen aus- oder neu gebaut werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint das bisherige Bemühen, die DB AG fit für den Börsengang zu machen, volkswirtschaftlich geradezu widersinnig. Denn unter der heutigen und auch realistisch für die Zukunft absehbaren Ertragslage kann das Unternehmen Gewinne, und damit Dividenden, nur mit folgender Strategie erzielen:

– drastischer Personalabbau unter Inanspruchnahme öffentlicher Sozialkassen,

– drastischer Leistungsabbau zulasten der Kunden

– drastischer Substanzverzehr im Schienennetz zu Lasten möglicher anderer Bahnbetreiber,

– Ausverkauf beziehungsweise zweckentfremdete Nutzung eines Großteils der Immobilienwerte,

– aber ungeschmälerte Aufrechterhaltung der Finanztransfers der öffentlichen Hand.

Letztlich würde ein Börsengang der DB AG darauf hinauslaufen, Steuergelder für Aufgaben der Daseinsvorsorge als Dividenden in private Schatullen durchzuleiten. So etwas wäre etwa nach dem Eisenbahngesetz der Schweiz undenkbar. Bahnen, die aus staatlichen Kassen Abgeltungen für öffentliche Verkehrsleistungen erhalten, können nach schweizerischem Recht de facto gar keine Gewinne ausweisen. Ertragsüberschüsse aus abgeltungsberechtigten Betriebssparten müssen zur Deckung künftiger Fehlbeträge als Rücklagen verbucht werden. Und in den Niederlanden hat die Regierung Ende 1999 beschlossen, die staatseigene Eisenbahn entgegen früherer Beschlüsse nicht an die Börse zu bringen.

Inzwischen sind auch die Bundesländer als Aufgabenträger des SPNV aufgewacht. Auslöser war das Ansinnen der DB AG, mangels Gewinnaussichten wegfallende Zugleistungen der DB Reise & Touristik AG durch als SPNV deklarierte Zugfahrten der DB Regio AG zu ersetzen und sich Kostenunterdeckungen und entgangene Gewinne von den Ländern aus deren Regionalisierungsmitteln erstatten zu lassen. Die Verkehrsminister der Länder haben anlässlich ihrer Konferenz im September 2000 diesen Vorstoß einhellig abgelehnt, und zwar unter Hinweis auf Art. 87e Abs. 4  des Grundgesetzes, wonach der Bund ein den Verkehrsbedürfnissen und dem Gemeinwohl entsprechendes Verkehrsangebot im Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) zu gewährleisten hat. Der Freistaat Bayern will dies gegebenenfalls beim Bundesverfassungsgericht einklagen. Die ablehnende Haltung der Länder ist nur zu verständlich, fürchten sie doch nicht zu Unrecht, künftig als eine Art "Steinbruch" zur Herstellung der Börsenfähigheit der DB AG missbraucht zu werden. Schon heute zahlen die Länder jährlich 4,3 Milliarden Euro an Betriebskostenzuschüssen ("Bestellerentgelte") an die DB Regio AG, was annähernd 60 Prozent des Umsatzes dieses Unternehmensteils ausmacht. Hinzu kommen Investitionshilfen der Länder für Fahrzeuge und Infrastruktur, die sich pro Jahr zusätzlich in einer Größenordnung von 0,5 Milliarden Euro bewegen.

Eine einvernehmliche Lösung zwischen Ländern, Bund und DB AG ist derzeit nicht in Sicht, allerdings scheren bereits einzelne Länder aus und verhandeln über individuelle Lösungen. So will das Land NRW unter dem Deckmantel "Pünktlichkeitsoffensive" der DB AG zusätzliche Millionen zukommen lassen. Folglich kann die DB AG der weiteren Entwicklung mit einer gewissen Gelassenheit entgegensehen. Dazu verhilft ihr der eigentliche Kardinalfehler der Bahnreform, die bereits erwähnte Integration des Schienennetzes als DB Netz AG in den Konzernverbund. Mit der Verfügung über das Schienennetz hat sie ein entscheidendes Steuerungsinstrument gegenüber den Aufgabenträgern und überdies missliebiger Konkurrenz in Händen. Wo welche Strecken in welchem Zustand für die Nutzung durch eigene Züge oder Züge von Mitbewerbern vorgehalten werden, entscheidet letztlich nicht der Aufgabenträger, sondern die DB AG als Netz-Monopolist. Somit kann die DB Netz AG durchaus Einfluss nehmen, wo die Aufgabenträger ihre Regionalisierungsmittel für den SPNV einsetzen können und wo nicht. Je mehr das Bahnnetz in der Fläche verfällt, desto größer wird die Bereitschaft der Aufgabenträger sein, Nahverkehrsleistungen (im weitesten Sinne) auf Hauptstrecken zu sponsern, wo Mischverkehr mit Fern- und Güterzügen betrieben wird und eher die Möglichkeit der Quersubvention vom SPNV hin zu "notleidenden" ICE- und Cargo-Zügen besteht.

Die bau- und betriebstechnische Situation des Bahnnetzes in der Fläche ist, von Ausnahmen abgesehen, katastrophal. Zwar gebietet § 4 des Allgemeinen Eisenbahn-Gesetzes (AEG) einem Infrastrukturbetreiber, seine Bahnanlagen in betriebssicherem Zustand zu halten, aber gemeint ist lediglich der planfestgestellte Zustand. Eine Nebenbahn "aus Kaisers Zeiten" mit niedriger Streckenhöchstgeschwindigkeit, vielen unbeschrankten Bahnübergängen und einer personalaufwendigen Signaltechnik, die für einen zeitgemäßen Regionalschnellverkehr praktisch unbrauchbar ist, gilt als betriebssicher im Sinne des § 4 AEG, solange das Eisenbahnbundesamt (EBA) als Aufsichtsbehörde keine gravierenden Sicherheitsmängel (z. B. verrottete Schwellen, unter das Grenzmaß abgefahrene Schienen, baufällige Brücken usw.) feststellt. Ein Gebot, eine Bahnstrecke dem jeweiligen Stand der Technik und der intermodalen Konkurrenzsituation anzupassen, enthält das AEG nicht. Kann es auch nicht, denn das AEG verkörpert Gewerberecht und regelt den Marktzugang für Unternehmen, die Eisenbahnstrecken bauen und betrieblich vorhalten und/oder Eisenbahnbetriebsmittel einsetzen. Das AEG muss somit allgemein übliche gewerberechtliche Gesetzesnormen erfüllen.

Genau diesen Ball spielt auch die DB AG, um sich von Strecken regionaler Bedeutung, die nicht in ihr Unternehmenskonzept passen, zu trennen. Durch Verzicht auf Instandhaltungsmaßnahmen werden zunächst betriebliche Einschränkungen etwa in Form von abschnittsweisen Geschwindigkeitsbeschränkungen oder der Nichtbefahrbarkeit von Weichen in Ausweichbahnhöfen herbeigeführt. Dadurch werden Fahrplankonzepte der Aufgabenträger und auch Bedienungskonzepte konkurrierender Bahnunternehmen unterlaufen. Schließlich werden die Mängel so gravierend, dass eine Strecke kurzfristig, oft von einem Tag auf den anderen, aus technischen Gründen gesperrt werden muss. Beliebte Auslöser sind Brücken, die "plötzlich und unerwartet" für baufällig erklärt werden. Offiziell, also im Sinne AEG, gilt eine solche Strecke nicht als stillgelegt, aber de facto ist sie nicht mehr befahrbar. Weil sich diese Taktik der DB AG inzwischen zu einer Art Flächenbrand ausweitet – nach Untersuchungen der Organisation Pro Bahn waren Mitte des Jahres insgesamt 400 Strecken-Kilometer auf diese Weise illegal stillgelegt –, versuchen Aufgabenträger und Fahrgastverbände das EBA dazu zu bewegen, gegenüber der DB AG zu Sanktionen zu greifen. Tatsächlich hat sich das Amt, nachdem ihm als Bundesbehörde mangelnde Neutralität gegenüber dem bundeseigenen Unternehmen DB AG vorgeworfen worden war, bequemt, in Einzelfällen, nach Intervention der thüringischen Landesregierung, die Wiederherstellung des betriebssicheren Zustands zu verfügen. Allerdings wird derlei Vorgehen nicht zu grundlegenden Streckensanierungen führen, allenfalls zur notdürftigen Reparatur der vom EBA beanstandeten technischen Mängel.

Schließlich hat die DB AG noch ein Ass im Ärmel: den § 11 AEG, der die dauerhafte Stilllegung von Eisenbahnstrecken und Teilen davon regelt. Dazu muss sie gegenüber dem EBA darlegen, dass ihr die weitere betriebssichere Vorhaltung der Anlagen wirtschaftlich nicht mehr zugemutet werden kann und der Versuch, andere Bahnunternehmen für Übernahme und Weiterbetrieb zu gewinnen, fehlgeschlagen ist. Aufgrund unterlassener Modernisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen decken heute auf zahlreichen Nebenstrecken die vom SPNV gezahlten Trassenpreise tatsächlich nicht mehr die anfallenden Kosten. Zumal wenn die Strecke aufgrund der topographischen Verhältnisse aufwendig trassiert ist und, was inzwischen mehr die Regel als die Ausnahme ist, die einstige Haupteinnahmequelle der Eisenbahnen, der Güterverkehr, aufgegeben wurde und folglich keinen Deckungsbeitrag zu den Streckenkosten mehr leistet. – Nur in seltenen Fällen waren bisher die Aufgabenträger willens und in der Lage, solche Strecken in Eigenregie zu übernehmen, zu modernisieren und somit den Fortbestand zu sichern.

Argwohn erregte vor diesem Hintergrund ein Projekt der DB AG, über das im Frühjahr 2000 erste Informationen bekannt wurden. Unter dem Arbeitstitel "Regent" (das Kürzel steht für "Regionalnetzentwicklung") sollen im Rahmen einer "Mittelstandsoffensive" 37 Teilnetze mit einer Gesamtlänge von über 9000 Kilometern unter dem Dach der DB Regio AG regionalisiert werden. Und zwar – wettbewerbsbehindernd – durch Zusammenführung von Fahrweg und Fahrbetrieb. Offiziell lautet das Ziel mehr Kundennähe, mehr Kompetenz vor Ort und mehr Wirtschaftlichkeit. Betrachtet man die Liste der insgesamt 262 betroffenen Nebenstrecken, so drängt sich aber der Verdacht auf, hier werde schon einmal selektiert, was besonders baufällig und unwirtschaftlich ist.

 

Der große Kehraus beginnt

Wer noch Zweifel hinsichtlich des Scheiterns der Bahnreform hegte, konnte sich Gewissheit bei einer Anhörung verschaffen, die am 11. September 2000 vor dem Verkehrsausschuss des Bundestages stattfand. Nahezu alle eingeladenen Experten, ganz gleich ob Verkehrswissenschaftler oder Verbandsvertreter, fällten ein vernichtendes Urteil. Es gehe der Politik in erster Linie darum, die DB AG und nicht das System Schiene zu erhalten. Fast einhellig wurde gefordert, als Sofortmaßnahme das Schienennetz aus dem DB-Konzern auszugliedern, wieder unter staatliche Finanzverantwortung zu stellen und einen diskriminierungsfreien Zugang für alle Eisenbahnunternehmen zu garantieren.

Und genau das will weder Herr Mehdorn noch wollte es Herr Klimmt. Der eine fürchtet um sein Infrastruktur-Monopol, mit dessen Hilfe sich nicht nur Regionalisierungsmittel und Investitionszuschüsse zugunsten des Gesamtunternehmens hereinholen lassen, sondern auch missliebige Konkurrenz in Schach gehalten werden kann. Der andere sträubte sich, das "Geschenk" der Aufgaben- und Finanzverantwortung für das Schienennetz zurückzunehmen, da dem Bund nur Kosten und Ärger drohen. Kosten, die höher ausfallen werden als die zugunsten der Bahn avisierten Mittel aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Und Ärger, der droht, wenn die Empfehlungen der "Pällmann-Kommission" umgesetzt werden sollten. Dieses Gremium, das noch von Exverkehrsminister Müntefering eingesetzt worden war, kam Mitte dieses Jahres zu dem Schluss, das Netz solle zwar aus der DB-Holding ausgegliedert werden, der Bund solle aber nur ein Kernnetz von 20000 Kilometer übernehmen und die übrigen 18000 Kilometer zur Disposition stellen.

Wie wird es weitergehen? Nach dem "Milliarden-Schocks" nach dem 4. November ist bei Bahnvorstand und Bundesregierung vollends die Panik ausgebrochen, wobei die gegensätzlichen Auffassungen zwischen Bahnvorstand, Aufsichtsrat, Personalvertretung und Bundesverkehrsministerium über Ursachen und Gegenmaßnahmen immer offener zutage treten. Die kommenden Monate werden spannend. Nur eines lässt sich schon jetzt nicht mehr kaschieren: Die Bahnreform von 1994 ist gescheitert. Die Politiker quer durch (fast) alle in Bundestag und Bundesrat vertretenen Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Lediglich die PDS hatte von Anfang an das Kürzel DB AG als "Deutsche Bahn Abwicklungs-Gesellschaft" interpretiert. Wie wahr!

 

Die alte Diskussion "Bahn oder Bus" wird wieder aktuell

Mit dem Scheitern der Bahnreform wird die Diskussion der Sechziger- und Siebzigerjahre wieder aufleben, ob nicht zwecks Kostensenkung ein Großteil der Züge, vor allem auf "Nebenstrecken", durch Busse ersetzt werden kann.

Der Widerstand gegen solche Bestrebungen wird allerdings härter ausfallen als damals. Einerseits gibt es inzwischen zahlreiche Referenzstrecken, wo der SPNV erfolgreich verbessert oder gar komplett reaktiviert wurde. Auch lassen die heutigen Verkehrsverhältnisse auf den Straßen außerhalb der Ballungszentren oder strukturelle Veränderungen in der "Fläche", etwa durch die Umorientierung zu Dienstleistungen und Tourismus oder durch die regionale Verlagerung von Bevölkerungsanteilen (Stadtflucht), den potenziellen Nutzen einer Bahnstrecke in einem anderen Licht erscheinen als noch vor 30 Jahren.

Noch zu Zeiten der Bundesbahn wurde von den für Nahverkehr zuständigen Stellen zugegeben, dass bei Umstellung einer Schienenstrecke auf Busbetrieb rund 50 Prozent der Fahrgäste irgendwie abhanden kommen, weil sie entweder auf den Pkw umsteigen oder Mobilitätsverzicht üben. Heute ist – wegen der gestiegenen Pkw-Verfügbarkeit – der Anteil der "wahlfreien Fahrgäste" in den Zügen noch höher und die Verlustquote bei Umstellung auf Busbedienung dürfte bei rund 80 Prozent liegen. Erst stirbt die Bahn, dann stirbt der Bus! Diese Erfahrung aus Bundesbahnzeiten ist in vielen Regionen historisch nachvollziehbar.

Das große Problem beim Bus ist der Fahrweg. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick verwundern, gilt doch gerade der Bus gegenüber der Schiene als besonders kostengünstig, weil er wegen der Benutzung des allgemein zugänglichen Straßenraums kaum eigene Wegekosten hat. Soll der Bus jedoch eine ernsthafte Alternative zur Schiene und zum Pkw darstellen, wird man angesichts des auch außerhalb der Großstadtkerne zunehmend instabilen Verkehrsablaufs im allgemeinen Straßenraum um die Frage des störungsfreien eigenen Fahrweges nicht herumkommen.

Dazu noch ein weiterer Gesichtspunkt: In den vergangenen Jahrzehnten wurden Schienenverkehre etwa mit dem Hinweis umgestellt, dass bezüglich Reisegeschwindigkeit und Erschließungsqualität der Bus günstiger sei. In vielen Fällen hat das gestimmt. Das hat sich vielerorts insofern geändert, als die Straßennetze durch Aus- und Neubauten und in Verbindung mit Ortsumgehungen neu strukturiert wurden. Daraus resultieren erhebliche Zeitgewinne für den MIV, an denen der Bus nicht teilhaben kann, weil er nicht über die Umgehungsstraßen, sondern nach wie vor in die Ortskerne fahren muss.

Ein Systemvergleich zwischen Bahn und Bus ist nur seriös, wenn gleichwertige Anforderungskriterien zugrunde gelegt werden. Darum sollten auch Kostenvergleiche nur akzeptiert werden, wenn einem hochwertigen und dem Stand der Technik entsprechenden Bahnangebot auch ein qualitativ gleichwertiges Busangebot gegenübergestellt wird und auch betriebliche Rahmenbedingungen wie Fahrzeugumläufe, Vermeidung von Leerfahrten, Beschäftigung des Personals unter Beachtung von Tarif- und Arbeitsschutzbedingungen und so fort beachtet werden.

Werden diese Bedingungen beachtet, so wird im Ergebnis die Kostendifferenz zwischen Bahn und Bus deutlich geringer sein, als auf den ersten Blick angenommen.

Die erzielbaren Einnahmen verschieben per Saldo die Kostendifferenz weiter zugunsten der Schiene. Häufig ist dann unter dem Strich die Bahn sogar billiger als der Bus. Denn der Markt des ÖV ist schließlich ein Käufermarkt, das heißt ein Großteil des Kundenpotenzials kann zwischen Bahn, Bus und Pkw wählen.

 

Entwicklung von Umsatz und Verkehrsleistungen der DB AG seit der Bahnreform

  • 1994 1995 1996 1997 1998 1999
  • Personenfernverkehr

    Umsatz (Mio. DM) 4.860 5.171 5.350 5.493 5.304 5.533

    Unterschied zum Vorjahr – + 6,4 % + 3,5 % +2, 7% -3,4 % + 4,3 %

    Verkehrsleistung (Mio. Pkm) 34.845 36.277 35.620 35.155 34.562 34.897

    Unterschied zum Vorjahr – + 4,1 % - 1,8 % 1,3 % -1,7 % +1,0%

    Personennahverkehr

    Umsatz (Mio. DM) 10.791 11.351 11.918 12.167 12.088 12.342

    Unterschied zum Vorjahr – + 5,2 % + 5,0 % + 2,1 % -0,6 % + 2,1 %

    Verkehrsleistung (Mio. Pkm) 29.694 34.057 35.408 36.475 37.291 37.849

    Unterschied zum Vorjahr – + 14,7 %* + 4,0 % + 3,0 % + 2,2 % + 1,8 %

    Güterverkehr

    Umsatz (Mio. DM) 6.969 6.799 6.468 6.694 6.600 6.306

    Unterschied zum Vorjahr – - 2,4 % - 4,9 % + 3,5 % - 1,4 % -4,5 %

    Verkehrsleistung (Mio. tkm) 69.775 68.744 67.369 72.389 73.273 71.494

    Unterschied zum Vorjahr – - 1,5 % - 2,0 % + 7,5 % + 1,2 % - 2,4 %

     

     

    COPYRIGHT:

    Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur.

    Kühl-Verlag (Frankfurt/Main)

    Ausgabe Dezember 2000 (18. Jg., Heft 12/2000)