Eine erweiterte Europäische Union in einer globalisierten Welt

Joscha Schmierer (1)

Die Europäische Union bewegt sich seit 1989 in einer grundlegend veränderten Welt. Sie selbst ist dabei, sich gründlich zu verändern. Sie steht vor der Aufnahme einer großen Zahl neuer Mitglieder. Zugleich zeigt sich, dass das jetzige institutionelle Gefüge den Aufgaben der Union schon heute kaum noch gewachsen ist.

Mag das viel beschworene Demokratiedefizit der Union theoretisch existieren oder nicht, praktisch wird von vielen Leuten ein Mangel an Demokratie empfunden. Mit der aus Effizienzgründen unumgänglichen Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen im Rat entsteht auf jeden Fall ein Problem. Wenn Staaten, vertreten durch ihre demokratisch legitimierten Regierungen, in für ihre Gesellschaften relevanten Fragen überstimmt werden und im Rat wiederholt in die Minderheit geraten, muss diese Verletzung des Souveräns auf anderem Weg geheilt werden. Das Europäische Parlament muss von vornherein gleichberechtigt in den europäischen Legislativprozess einbezogen werden.

Wo immer mit Mehrheit entschieden wird, muss letztlich mit doppelter Mehrheit, das heißt mit einer Mehrheit des Rates, also der Staaten der Union, und einer Mehrheit des Europäischen Parlamentes, also der Bürger der Union, entschieden werden. Dieser doppelte Legitimationsstrang entspricht der Ergänzung der Staatenunion, über die der europäische Integrationsprozess eingeleitet wurde, durch die Bürgerunion. Die Staatsbürgerschaft der Individuen wird um die Unionsbürgerschaft erweitert. Den Individuen, die sich als Bürgerinnen und Bürger ihrer Städte und ihrer Regionen betätigen, eröffnet ihre Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedes mit der Unionsbürgerschaft eine neue politische Dimension. Das Repräsentativorgan der Unionsbürgerschaft ist das Europäische Parlament. Als Staatsbürger sind die Individuen im Rat durch ihre Regierung vertreten, als Bürger der Union direkt durch das EP.

Die Erweiterung der politischen Räume, die Zunahme der politischen Dimensionen, in denen sich die Individuen bewegen, sind die Chance der europäischen Integration. Noch nehmen sie viele als Bedrohung wahr. Die vor allem in Deutschland beschworene Kompetenzfrage ist unter demokratischen Gesichtspunkten die Frage nach den Beteiligungsmöglichkeiten der Individuen an den Entscheidungen in den politischen Räumen, in denen sie sich bewegen. Die EU hat nicht zu viele Kompetenzen, aber die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger sind unterentwickelt. Gegenüber dem Rat bleibt das Parlament vorwiegend ein nachvollziehendes Mitentscheidungsorgan. So hat der Gesetzgebungsprozess zu wenig Transparenz. Transparenz und Öffentlichkeit sind jedoch die Grundvoraussetzung demokratischer Beteiligung.

Vor 1989 stellte sich die Frage nach den Grenzen einer Erweiterung der Union nicht. Die Grenzen der Union waren durch die Blockgrenze gegeben. Es war klar, bis wohin sie sich äußersten Falls ausdehnen konnte. Mit der äußeren Begrenzung und der inneren Homogenität war auch die Frage nach den Grenzen der Vertiefung der Union nicht aktuell. Die Integration würde sich allmählich weiter entwickeln auf der Grundlage des gemeinsamen Binnenmarktes. Er konnte zu einer gemeinsamen Währung führen und diese mochte mit Formen einer politischen Union verknüpft sein. All das würde sich zeigen, wenn der gemeinsame Binnenmarkt erst einmal funktionierte. So wurde bis 1989 gedacht.

Auch die Stellung der Union in der Welt war vor 1989 eindeutig umrissen. Sie gehörte zum Westen und dessen Vormacht waren die USA. Ökonomische Differenzen zwischen den USA und der EG konnten an diesen Gegebenheiten, die Teil der imperialen Blockordnung waren, nichts ändern. Sie blieben von untergeordneter Bedeutung. Imperial war diese Ordnung, weil sich in der Konfrontation mit dem Sowjetimperium auch der Westen zu einem hierarchisch strukturierten Block geformt hatte. Seine umfassendste Organisation war ein Militärbündnis, das in seiner Wirkung ganz von den USA abhängig war. Die Bewegung der Blockfreien definierte sich über ihre Nichtbeteiligung an den Blöcken und blieb doch immer nur das Kampffeld der Rivalität von deren Vormächten, den beiden Supermächte eben. Mit dem Ende der Blockkonfrontation war auch das Ende der Blockfreienbewegung besiegelt. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums bedeutet nicht nur das Ende einer repressiven Macht, sondern auch das Ende einer repressiven Weltordnung, deren zentraler Bezugspunkt, sei es negativ oder positiv, die Sowjetunion gewesen ist. Eine neue Ordnung ist noch nicht sichtbar. Zu glauben, die USA allein könnten sie durchsetzen und gewährleisten, ist eine offensichtliche Täuschung. Keine Macht kann die heutige Welt von oben her beherrschen.

Globalisierung bezeichnet eine Tendenz, keine ökonomische und politische Ordnung. Globalisierung als Etikett einer neuen Epoche kam erst nach 1989 in Gebrauch. Welche Stellung und welche Rolle will die Europäische Union in dieser neuen Epoche einnehmen, in welcher dauerhaften und entwicklungsfähigen Form? Diese Frage nach den inneren und äußeren Grenzen der Europäischen Union ist ihre Verfassungsfrage. Sie ist seit 1989 brandaktuell, auch wenn sie nicht von heute auf morgen beantwortet werden kann.

Aspekte der Globalisierung

Globalisierung soll eine neue Epoche bezeichnen, so wie Ende des 19. Jahrhunderts der Imperialismus zum Epochenbegriff geworden war. Imperialismus wurde von seinen Apologeten als Kulturaufgabe und Mittel gegen Arbeitslosigkeit gepriesen und von seinen Gegnern als Verschärfung eines ausbeuterischen Herrschaftsverhältnisses gegeißelt. Der Begriff war so umkämpft wie Globalisierung heute. Globalisierung in der positiven wie in der negativen Konnotation drückt einen Unterschied zu Imperialismus und der Epoche der Weltkriege aus. Es gilt die Spezifika der neuen Epoche zu erfassen und zu begreifen.

Globalisierung wurde von den europäischen Regierungen und den Unternehmensverbänden zunächst vor allem als Drohung ins Feld geführt, um die "Standortfrage" zu dramatisieren. Ausgehend von der lang anhalten Wachstumsphase der amerikanischen Wirtschaft in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde Globalisierung dann zunehmend als Chance propagiert und verstanden. In jüngster Zeit wurde sie zur Hauptkampflinie zwischen den Herren der Welt und den internationalen Basisbewegungen ausgerufen. Die Kritik ist nicht weniger heftig als der frühere Antikapitalismus und Antiimperialismus. An die Stelle der Weltrevolution als illusionäre Lösung der Probleme ist aber eine weltweite Steuer getreten. Eine radikalere Verkürzung der politischen Ziele lässt sich kaum denken. Im Namen von Attac wird die Tobinsteuer zur Monstranz und Tobin zum Propheten erhoben. Die Forderung nach einer weltweiten "Spekulationsteuer" ist weniger dramatisch, aber auch schlechter begründet als die Weltrevolution im Zeitalter des Imperialismus. Sie dürfte nicht weniger illusionär sein.

Mit Globalisierung wird eine ganze Reihe von langfristigen Tendenzen und aktuellen Ereignissen (z.B. die Asienkrise) angesprochen. Das Wort ist mächtig aufgeladen und taugt eben deshalb zur positiven oder negativen Losung. Es hat Verführungs- und Sprengkraft, weil in ihm einiges zusammenkommt und -wirkt.

Da ist in erster Linie der sich über Jahrhunderte erstreckende und in Schüben sich herausbildende Weltmarkt von Waren, der mit der WTO schließlich eine politische Form gefunden hat. Was leistet die WTO, was könnte sie leisten und was wird sie auch unter günstigen Kräfteverhältnissen und Umständen sicher nicht leisten können? Die Europäische Union wird sich in der WTO immer in einer Zwickmühle befinden. Der Ruf nach sozialen und ökologischen Mindeststandards bei der Produktion von weltmarktgängigen Waren lässt sich in den industriell fortgeschrittenen Ländern innenpolitisch gut begründen und verkaufen. Mindeststandards wirken sich jedoch zunächst als Handelshemmnisse für die schwächeren Länder aus und verdrängen sie vom Weltmarkt. Nach mehreren mit ökonomisch und politisch verheerenden Folgen fehlgeschlagenen Versuchen einer autozentrierten, vom Weltmarkt abgekoppelten Entwicklung könnte dies den Ländern der Dritten Welt den Weg verbauen, den sie selbst als den langfristig am ehesten Erfolg versprechenden einschätzen. Die Forderungen der Länder der Dritten Welt zielen deshalb auf eine stärkere Marktöffnung für ihre Waren. Wollen die Regierungen der reichen Länder dieser Forderung aus übergeordneten ordnungspolitischen Vorstellungen nachkommen, stoßen sie sofort auf energischen Widerstand in den eigenen Gesellschaften. Was sich innenpolitisch gut macht, kann sich so als entwicklungshemmend für die armen Länder erweisen, weil es sie vom Weltmarkt verdrängt. Was ihnen Vorteile bringen könnte, eine Erleichterung des Marktzugangs für ihre Waren, stößt dagegen auf Ablehnung in den reichen Ländern. Es hat wenig Sinn, diese politischen Dilemmata der WTO anzulasten und damit die Organisation zu diffamieren und zu schwächen, in der wenigstens nach Arrangements gesucht wird, um mit diesen Wiedersprüchen umzugehen. Die Globalisierungsgegner würden sich sofort in Protektionisten und Drittweltaktivisten spalten, wenn sie sich selbst dem Dilemma stellen würden, vor das sich jede praktische Politik der EU in der WTO gestellt sieht.

Ein Weltmarkt der menschlichen Arbeitskräfte hat sich langsamer und erst eingeschränkt entwickelt. Die Mobilität der menschlichen Arbeitskraft bleibt begrenzt. In der ILO (International Labour Organization) hat der Weltarbeitsmarkt seine politische Form. Regional ist die Mobilität der Arbeitskräfte weiterentwickelt, so vor allem in der EU mit ihrer prinzipiellen Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Gegenüber dem Weltmarkt bleibt der europäische Arbeitsmarkt weitgehend verschlossen. Die Staatsform ist für den Arbeitsmarkt noch immer prägend. Im Unterschied zu Waren und Geld ist die Arbeitskraft physisch an Personen gebunden. Die Mobilität der Arbeitskraft, die Arbeitsmärkte sind deshalb besonders eng mit Fragen der Menschenwürde verbunden. Immer noch gibt es Formen von offener und versteckter Sklaverei und von Kinderarbeit. Die Menschenwürde kann sowohl durch Unterbindung der Mobilität, durch rigorose Beschränkung der Migration, als auch durch erzwungene Entwurzelung und Verpflanzung von Arbeitskräften verletzt werden. Die modernen Kommunikationsmittel trennen die Arbeitskraft zwar nicht von der Person, erweitern jedoch ihren Wirkungsbereich. Sie kann in Indien am Computer sitzen und in Sindelfingen eingesetzt werden. Damit entstehen arbeits- und urheberrechtliche Probleme, werden neue Fragen nach Gerechtigkeit aufgeworfen. Zu erwarten sind neue Konstellationen von globalen und regionalen Arbeitsmärkten mit hohem Druck auf Mobilität und Flexibilität der Arbeitskräfte. Zugleich könnten Formen von Arbeit weiter um sich greifen, die ausschließlich auf Zwang, Unterwerfung und territorialer Fesselung beruhen. Die gewerkschaftlichen Organisationen mit ihrer den bisherigen Arbeitsmärkten entsprechenden Staatsfixierung haben noch keinen Weg gefunden, um ihre Organisationskraft global oder wenigstens im Rahmen der EU entfalten zu können. Sie haben es nicht nur mit global sich angleichenden Strukturen des Arbeitsmarktes zu tun, sondern mit Fragmentierungen, die oft auf den Ausschluss von den Arbeitsmärkten hinauslaufen.

Erst in jüngster Zeit ist ein freier, globaler Geld- und Kapitalmarkt entstanden. Er vor allem prägt die heutige Vorstellung von Globalisierung, zumal er am krisenanfälligsten erscheint. Diese Krisen entspringen dem Spannungsverhältnis zwischen der Funktion des Geldes als Weltgeld und seiner nationalen Form. Auch hier hat die EU mit dem Euro etwas Neues geschaffen, indem sie den Geltungsraum der Währung ausgedehnt hat, ohne ihn mit Staatsmacht zu füllen. Für die einen ist dies nur eine Notlösung auf dem Weg zu einer europäischen Regierung, für andere ist der Euro ein weiterer Schritt zur Ausbildung eines Weltgeldes, das ohne die Autorität eines Weltstaates auskäme. Wenn man in der Tradition der Europäischen Union die Zukunft der Weltordnung nicht in einem kaum anders als diktatorisch denkbaren Weltstaat, sondern in Zusammenschlüssen von demokratischen Republiken sieht, reicht die Bedeutung des Euro-Experiments weit über Europa und die Ökonomie hinaus.

In seinen Bemühungen den internationalen Devisenverkehr zu stabilisieren nimmt der IWF eine Aufgabe wahr, die zu guter Letzt einer unabhängigen Weltzentralbank zukommen kann. Sie wird dann direkt mit der Stabilität des Weltgeldes befasst sein. Devisenspekulationen wäre der Boden entzogen. An den IWF wie an alle internationalen Institutionen ist von Seiten der EU die Frage zu stellen, was er gegenwärtig leistet, was er mit Unterstützung der EU besser leisten könnte und was er auch unter günstigen Bedingungen nicht wird leisten können. Gerade auch die letzte Teilfrage ist wichtig, weil es immer mehr zur Gewohnheit wird, internationale Organisationen an Kriterien zu messen, die nicht auf sie passen. An staatssozialistischen Vorstellungen festzuhalten und den IWF zu kritisieren, weil er ihnen nicht entspricht und nicht entsprechen kann, ist ein Denkmuster, das sich aus den Zeiten vor 1989 erhalten hat. Dass es heute eher unterschwellig wirkt, ändert es nicht.

Was kann die EU dazu beitragen, dass der IWF die schwachen Staaten nicht weiter schwächt? Auch in der Schuldenpolitik lauern Dilemmata. Bei der Schuldenstreichung muss darauf geachtet werden, dass mit den Schulden nicht zugleich die Kreditwürdigkeit der Schuldnerländer beseitigt wird.

An dem Spannungsverhältnis von Weltgeld und seiner nationalen Form setzt die Devisenspekulation an. Nur sie, ein Phänomen an der äußersten Oberfläche der Weltwirtschaft, würde von der Tobinsteuer betroffen. Der Devisenverkehr könnte durch die Tobinsteuer allenfalls verlangsamt werden, aber gerade unter Krisenbedingungen verlöre sie wohl jede Wirksamkeit. Verzögerungen im Devisenverkehr können umso heftigere Ausschläge nach sich ziehen. Wer den Kapitalmarkt steuern will, wird dies besser auf direktem Weg versuchen, wer aber über die Tobinsteuer Gelder für die armen Länder sammeln will, müsste zunächst klären, wer wie über ihre Verteilung verfügen soll.

Den Globalisierungsschüben auf dem Weltwarenmarkt, dem Weltarbeitsmarkt und dem Weltfinanzmarkt liegen Schübe in der Produktivitätsentwicklung, in den Transport- und generell den Kommunikationsverhältnissen zugrunde. Hier werden die technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Globalisierung geschaffen. Die politischen Verhältnisse spielen jedoch eine entscheidende hemmende oder fördernde Rolle.

So hat sich ein Weltmarkt, der rund um die Welt in die gesellschaftlichen Verhältnisse hineinwirkt, erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks bilden können, nachdem sich zuvor schon China dem Weltmarkt geöffnet hatte.

Die Entsprechung zur Globalisierung der Märkte ist die Verallgemeinerung der Staatenwelt. So wie der Weltmarkt heute potenziell in den letzten Winkel hineinreicht, so ist der letzte Winkel der Welt heute von einem formell souveränen Staat besetzt.

Die Welt ist unter Kapitalmächten umkämpft und unter Staaten aufgeteilt. Die Spannung zwischen dem weltwirtschaftlichen Prinzip der grenzüberschreitenden Vernetzung und dem territorialen Souveränitätsprinzip der Staatenordnung ist ein Grundverhältnis der globalen Welt. Die EU ist eine regionalpolitische Form, um dieses Spannungsverhältnis im Inneren abzumildern und nach außen einheitlich Kraft zu entfalten, ohne die staatliche Souveränität aufzugeben.

Regulationsbemühungen in der globalisierten Welt müssen auf allen genannten Feldern ansetzen und können sich keineswegs darauf beschränken, die spekulativen Bewegungen des Finanzkapitals über die Staatsgrenzen hinweg und aus einer Devise in die andere zu verlangsamen.

Paradoxerweise wird die wichtigste Reform unter den Bedingungen des vorwiegend als ökonomisches Phänomen wahrgenommenen Globalismus in der Staatenwelt stattfinden müssen:

Rechtssicherheit in den Staaten und zwischen den Staaten, Demokratie in den Staaten, Sicherung der Menschenrechte, Bildung von regionalen und überregionalen Allianzen demokratischer Republiken, Staaten übergreifende Gerichtsbarkeit wie in der EU, im Europarat und in der WTO und neuerdings auch in der UNO, Ausbildung einer Staatenstruktur, in der die UNO zu einem Forum der alliierten demokratischen Republiken wird. Ohne Weiterentwicklung der Staatenwelt in diese Richtung bleiben die meisten Regulierungsbemühungen des Weltmarktes illusorisch, zumindest werden sie nicht demokratisch sein.

Mit der Ausbildung von Allianzen demokratischer Republiken als Unterbau der UNO kann eine weitere Liberalisierung der Mobilität von Waren, Arbeit und Kapital Hand in Hand gehen, ohne den internationalen Zusammenhalt zu zerstören. Eine solche Liberalisierung verlangt starke überstaatliche politische Regulationsformen, weltweit wirksame Institutionen und eine entsprechende Gerichtsbarkeit. Liberalisierung und Deregulierung müssen dann nicht das Gleiche bedeuten.

Das entscheidende aktuelle Problem ist, den Zerfall von Staatlichkeit in vielen Teilen der Welt zu stoppen. Wo die Staaten zerbrechen, kommen ausschließlich die räuberisch-extraktiven Züge der Weltwirtschaft zum Zuge und werden die Märkte zerstört. Die Natur und die Menschen werden hemmungslos ausgebeutet. In der Republik Kongo gibt es keinen Diamantenmarkt, sondern nur noch gewaltsame Aneignung von Diamanten, die erst in Amsterdam und anderswo auf einem Markt auftauchen.

Der Gegensatz von Arm und Reich hat sich in Armuts- und Reichtumszonen, im Nord-Süd-Gegensatz territorial fixiert. Er wird weiter verschärft durch den Gegensatz von funktionierender und legitimer Staatlichkeit und umstrittener, unausgebildeter oder zerfallender Staatlichkeit. In dieser Konstellation kann die asymmetrische Eskalation von individuellem Terror auf breiter passiver Zustimmung und staatlicher Vergeltung unter größten Vorbehalten eines Teils der Staatsbürger bei wachsender wechselseitiger Kommunikationslosigkeit, wie sie gegenwärtig den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern prägt, zum globalen Auseinandersetzungsmuster werden. Durch die Asymmetrie der Auseinandersetzung wird jedes Gleichgewicht der Kräfte verhindert, das schließlich zu Frieden oder wenigstens einem dauerhaften Waffenstillstand führen könnte. Die Globalisierung eines solchen Auseinandersetzungsmusters zu verhindern, ist das größte Interesse nicht nur der EU, sondern aller zivilgesellschaftlichen Kräfte.

Wenn die Ausbreitung und Festigung von Allianzen demokratischer Republiken die Hauptbedingung ist, um in der Globalisierung die Integration zu fördern und die Fragmentierung und Segmentierung zu verhindern, dann wird es in erster Linie darauf ankommen, das Verhältnis zwischen den USA und der Europäischen Union zu einer solchen überökonomischen und nicht nur militärischen Allianz weiterzuentwickeln.

Globalisierung ist nicht Amerikanisierung, weder auf dem Warenmarkt noch auf dem Arbeitsmarkt noch auf dem Kapitalmarkt. Man findet keine "Amischlitten" auf den Straßen Europas, während VW, Audi, Mercedes, Peugeot und andere europäische Marken einen Zulassungsrekord nach dem anderen auf dem amerikanischen Markt erzielen. Aus den USA waren schon früh die ersten Schreckensrufe über die Folgen der Globalisierung zu hören, als ihre traditionelle Industrie vor allem von japanischen Unternehmen in Grund und Boden konkurriert wurde. Auf dem internationalen Arbeitsmarkt werden sich bald die Arbeitskräfte am besten bewegen können, die sich von vornherein auf zwei oder drei Sprachen einstellen mussten. Nicht die Römer, die überall mit ihrem Latein daheim zu sein schienen, sondern die "Barbaren" haben das lateinische Mittelalter geschaffen, in dem die moderne Welt ihren Ursprung hat. Bekanntlich sind längst nicht alle Dollarinvestitionen US-amerikanische Investitionen. Es gibt keinen Grund die Globalisierung jetzt und erst recht nicht zukünftig als Form der Expansion der Herrschaft der USA zu verteufeln.

Das Geheimnis der amerikanischen Stärke liegt in der Entstehung der USA aus einer universalistisch begründeten Separation von der zerklüfteten Alten Welt. Der Partikularismus der USA steht in einem anderen Verhältnis zum modernen Universalismus als die europäischen Partikularismen. Er hält sich allzu leicht selbst schon für die neue und die ganze Welt und wirkt dann arrogant. Die europäischen Partikularismen dagegen haben gar keinen Zugang zu Universalismus und universeller Verantwortung. Sie sind nur provinziell.

Der Amerikanismus ist Ausdruck des unmittelbaren Verhältnisses der USA zur Welt. Die EU wird gut daran tun, unter ihren Mitgliedsstaaten und den Unionsbürgerinnen und -bürgern für eine Sicht auf die Globalisierung zu werben, die eine politische Stärkung der europäisch-amerikanischen Allianz ermöglicht. In Frankreich, aber auch in der Bundesrepublik und anderen europäischen Staaten, ist eine solche Sicht keineswegs selbstverständlich.

Der Auseinandersetzung mit dem grassierenden Antiamerikanismus unter den Globalisierungsgegnern kann nicht ausgewichen werden. Dany Cohn-Bendit hat Recht, wenn er davor warnt, den Globalisierungsgegnern altväterlich entgegenzutreten. Deshalb braucht man ihren antiamerikanischen Vorurteilen aber keine Zugeständnisse zu machen. Die europäische Integration folgt anderen Wegen als die USA, weil sie von verfestigten Nationalstaaten, die sich gegeneinander entwickelt haben, ausgeht und sie zur Grundlage hat. Es wäre aber ein Irrweg, uns "Europäer politisch und kulturell" als "Gegenmacht zu den USA" zu verstehen. Dany Cohn-Bendit geht als "radikaler Europäer" so weit, in "England" ein "trojanisches Pferd" der USA in der EU zu sehen (Interview in der taz, 15.8.01). Damit stellt er ein kontinentales Europa gegen die liberal-republikanische atlantische Revolution, an die der Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem transatlantischen Bündnis schließlich doch noch Anschluss gefunden hatte. Mit der Polemik gegen den Neoliberalismus wird sehr schnell der Liberalismus über Bord geworfen, der tatsächlich nur in den USA und in Großbritannien eine politische Tradition entwickeln konnte.

Nur zusammen mit den USA und in einer breiten Allianz demokratischer Republiken können die Formen und Instrumente einer wirksamen Regulation der Globalisierung durch die Staatenwelt und eine kosmopolitische Zivilgesellschaft geschaffen werden. Dies gilt auch dann, wenn maßgebliche Kräfte der USA das zurzeit anders sehen mögen. Eine politische Spaltung zwischen den USA und der EU würde das Ende der Bemühungen, die Globalisierung integrativ zu steuern, besiegeln.

Die Reform der Union

Die "Vertiefung" und "Erweiterung" der EU, wie sie durch den Vertrag von Maastricht (Wirtschafts- und Währungsunion) und die Beschlüsse von Luxemburg und Helsinki sowie dann durch den Vertrag von Nizza auf den Weg gebracht wurden, sind die sichtbarste produktive Entwicklung in den internationalen Beziehungen nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Auflösung der Sowjetunion. Der Ansatz der europäischen Integration konnte sich nach Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall der Blockordnung ohne eng gezogene äußere Schranken entfalten. Die Aufhebung des Eisernen Vorhangs ermöglicht Staaten aus dem Osten Europas den Beitritt zur Europäischen Union. Die Auflösung der Blockordnung und das Ende der direkten Bedrohung durch die Sowjetunion lösen die EU aus der völligen sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA und vergrößern ihre Chancen, sich als außenpolitischer Akteur in der internationalen Sphäre selbstständig zu bewegen.

Mit dem Wegfall der äußeren Schranken für die europäische Integration und der potenziell größeren Selbstständigkeit der EU stellt sich ihr jetzt die Frage nach der inneren und äußeren Selbstbegrenzung. Die äußeren Umstände nehmen der EU diese Frage nicht länger ab. Die Frage nach der "Finalität" der europäischen Integration, also nach einer dauerhaften und handlungsfähigen Form der Europäischen Union, ist eine Frage nach den Zwecken der Union, aber auch nach ihren inneren und äußeren Grenzen einer nur anscheinend unendlich möglichen Vertiefung und Erweiterung der Union. Mit der Antwort auf diese Fragen wird zugleich die Grundlage einer Verfassung der EU gesucht und gelegt.

Ganz allgemein gesprochen findet die EU ihre äußeren Grenzen, die Grenzen ihrer Erweiterungsfähigkeit, in der Struktur des gesamteuropäischen Staatensystems und in der Sicherung der inneren Proportionen der EU. Das gesamteuropäische Staatensystem ist mit dem OSZE-Rahmen historisch und politisch umrissen. Es umfasst also sowohl Russland und die anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion als auch die USA und Kanada und selbstverständlich auch die Türkei. Geographische Nähe und kontinentale Nachbarschaft sagen zunächst nichts über die Stellung zum europäischen Integrationsprozess aus. Die USA und Kanada haben ihn unterstützt. Die Sowjetunion hatte ihn abgelehnt oder bestenfalls gleichgültig zur Kenntnis genommen. In allen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Belangen stehen die USA und Kanada dem europäischen Integrationsprozess auch heute noch wesentlich näher als Russland. Dennoch käme niemand in der EU oder in den USA und Kanada auf die Idee, dass diese beiden transatlantischen Partner der EU jemals Mitglied der EU werden könnten oder sollten. Die USA bilden einen eigenen Pol im gesamteuropäischen Staatensystem und werden diese Stellung auch nicht aufgeben.

Wie sieht es nun mit Russland aus? Obwohl Russland geschwächt ist und in der Staatenwelt kaum noch als Supermacht gelten kann, bleibt es eine große Macht, die im gesamteuropäischen Rahmen nicht darauf verzichten wird, sich als eigenen Integrationspol zur Geltung zu bringen. Nur die kontinental-illusionäre Verwechslung von Nachbarschaft und Nähe mit der Bereitschaft und Fähigkeit, sich an der europäischen Integration in der EU zu beteiligen, kann hier wie dort gelegentlich dazu verleiten, mit einem Beitritt Russlands zur Europäischen Union zu liebäugeln. Die EU hat sogar ein Interesse daran, dass sich Russland aus einem bis vor kurzem hegemonialen und imperialen Faktor des gesamteuropäischen Staatensystems zu einem Pol entwickelt, der in einem Kreis von unabhängigen und gleichberechtigten Staaten integrative Attraktionskraft entwickelt. Die ökonomische Abhängigkeit der Nachbarn lässt sich nicht überwinden. Aber es kann verhindert werden, dass sie zur Grundlage von hegemonialer Herrschaft wird.

Die USA sind nie auf die Idee gekommen, Mitglied der EU werden zu wollen, ihre Repräsentanten verbreiten aber gelegentlich die Idee, Russland solle möglichst rasch Mitglied der EU werden. Wie das Verhältnis zwischen den USA und der EU zeigt, ist gute Zusammenarbeit und Partnerschaft jedoch nicht von der Mitgliedschaft in der EU abhängig. Deshalb sind die EU wie auch Russland gut beraten, wenn sie bei aller Entwicklung guter Nachbarschaft die EU-Mitgliedschaft Russlands beiseite lassen.

Anders stellt sich die Frage gegenüber einigen früheren Republiken der Sowjetunion und heutigen Mitgliedern der GUS, die in Worten einen raschen Beitritt zur EU anstreben. Hier kommt nun außer den Tatsachen des gesamteuropäischen Staatensystems, die eine Mitgliedschaft Russlands nicht weniger ausschließen als die Mitgliedschaft der dem Integrationsprozess viel näher stehenden USA, die innere Proportionalität der EU ins Spiel.

Die EU ist ein Zusammenschluss von kleineren und mittleren Staaten, die innerhalb des bipolaren gesamteuropäischen Staatensystems der Blockordnung an einem eigenen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Weg festgehalten haben und in ihrem Inneren und untereinander real oder potenziell dicht vernetzt sind. In diesem Rahmen ist es bisher gelungen, die beiden Gleichheitsprinzipien, auf denen die Union beruht, die Gleichheit der Mitgliedsstaaten und die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger, schlecht und recht unter einen Hut zu bringen. Man kann erwarten und muss anstreben, dass dies auch in einer um die jetzigen Beitrittskandidaten erweiterten Union gelingen wird. Und sicher enthält auch der Stabilitätspakt für Südosteuropa eine Beitrittsperspektive, die auf längere Sicht realistisch ist und den Rahmen der EU nicht sprengen wird. Darüber hinaus aber kann die Nachbarschaftspolitik der EU vernünftigerweise nicht darin bestehen, mit der Möglichkeit weiterer Mitgliedschaften zu winken und in der konkreten Politik umso zurückhaltender zu bleiben.

Die europäische Integration ist Teil des Ausbaus und der Sicherung einer gesamteuropäischen Friedensordnung, indem sie in ihrem Inneren Freiheit und Demokratie sichert und ihr Gewicht im Rahmen der OSZE zu diesem Zweck geltend macht. Dabei bleibt das Bündnis mit den USA grundlegend und die Entwicklung einer guten nachbarschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ausschlaggebend für eine Friedensordnung, die die Szenarien der wechselseitig gesicherten Vernichtung als Garantie der Stabilität überwindet. Integration als modernes und Gleichgewicht als klassisches Prinzip der Staatenwelt und speziell des europäischen Staatensystems stehen sich dabei nicht absolut gegenüber. Integration kann das Gleichgewichtsproblem nicht einmal im Inneren der EU völlig überwinden. Zielte die EU auf eine kontinentale Einigung Europas, überforderte sie nicht nur ihre eigenen Möglichkeiten, sondern störte auch die Gewichtsverhältnisse der gesamteuropäischen politischen Ordnung. Sie verlangen nach der EU als Faktor von eigenem politischen Gewicht gegenüber den gesamteuropäischen Flügelmächten.

Ihre innere Grenze findet die europäische Integration in der Existenz der Mitgliedsstaaten der EU. Die Absicht, die Nationalstaaten durch die europäische Integration zu überwinden, hat sich als verfehlt herausgestellt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Nationalstaaten als Mitglieder der EU sich selbst transformieren und dadurch ein Grundelement der Union bleiben. Die EU ist weder bloßer Staatenbund noch unvollendeter Bundesstaat. Indem die Mitgliedsstaaten teils über einen Staatenbund nicht hinauswollten, teils alles, was sie ins Werk setzten, nur als Schritt zu einem Bundesstaat verstanden, haben sie gemeinsam etwas Neues geschaffen, das diese Alternative hinter sich gelassen hat.

Dieses Neue ist am besten als Staaten- und Bürgerunion zu verstehen. Damit wird die Doppelstruktur des Repräsentations- und Legitimationsgefüges der Europäischen Union ausgedrückt. Auf Unionsebene sind die Individuen indirekt als Staatsbürger durch ihre Regierungen vertreten und direkt als Unionsbürger durch das Europäische Parlament. Die Europäische Kommission bildet die initiative und vermittelnde Spitze in diesem institutionellen Dreiecksgefüge der Union. Alle Reformen und konstitutionellen Bestrebungen sollten auf die Verbesserung des Zusammenwirkens in diesem Gefüge der Europäischen Union zielen. Mit dem EuGH und der EZB hat sich die spezifische Struktur von "checks and balances" der Union, die kaum auf die klassische Gewaltenteilung zugeschnitten werden kann, erweitert. Wahrscheinlich wird sich die Macht auf der Unionsebene weiter differenzieren, ohne vertikale Hierarchien auszubilden. "Governance without government" wird die EU weiterhin auszeichnen. Die EU wird ihre Verfassung präzisieren. Es wird aber keine Staatsverfassung sein.

Mit den immer komplexeren Anforderungen an die Union, der fortschreitenden Vertiefung und Erweiterung, sind die Formen der Willensbildung und Entscheidung immer komplizierter geworden. Die Reformen der EU müssten diesen Mechanismus, in dem eine wachsende Komplexität der Entscheidungsgegenstände in ein immer komplizierteres bürokratisches Gestrüpp führt, durchbrechen. Dabei in erster Linie auf Kompetenzbeschränkung der Union zu setzen, dürfte sich als Holzweg erweisen. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU größere Kompetenzen brauchen. Sobald es hier zu Mehrheitsentscheidungen kommt, wird die Kontrolle durch die nationalen Parlamente nicht mehr ausreichen und die Stellung des Europäischen Parlamentes auch in diesem Bereich gestärkt werden müssen.

Seit 1989 ist die europäische Integration aus dem Schatten des Blockgegensatzes herausgetreten. In diesem Schatten hatte sich das Bewusstsein der Akteure der Integration geformt. Wenn jetzt die bisherigen Formen der Integration in der Bewährungsprobe stehen, wird die Union bei den unvermeidlichen Schwierigkeiten der Zukunft nicht das institutionelle Gefüge riskieren, das Vertiefung und Erweiterung überhaupt erst ermöglicht hat. Es ist aber offensichtlich, dass die internationale Stellung einer erweiterten Union nicht mehr die gleiche sein wird wie die der EG in einer bipolaren Blockordnung. Als Staaten- und Bürgerunion wird die EU dieser veränderten Stellung auf neue Weise gerecht zu werden versuchen.

Die hoch vernetzte, aber zugleich fragmentierte Welt von heute sieht sich Gefahren gegenüber, die praktisch nicht kalkulierbar sind, weil alles passieren kann, was theoretisch denkbar ist. Auf solche Gefahren können sich Gesellschaften nur durch effiziente und demokratische Entscheidungsstrukturen und -verfahren einstellen. Die Aussichten der EU, den sehr unterschiedlichen Anforderungen der Globalisierung gerecht zu werden, sind nicht schlecht. Gelingen kann es nur im Verbund mit den anderen Organisationen der Staatenwelt und Weltwirtschaft.

(1)

Dieser Essay geht auf die Einladung zu einer Tagung am Europäischen Universitätsinstitut zurück. Mein Thema waren Strategien für ein politisches Europa. Die Referenten wurden zum Ausgleich für anregende Junitage in Florenz verpflichtet, bis Anfang September Beiträge für eine englischsprachige Buchpublikation zu verfassen. Die deutsche Fassung meines Beitrages wird hier vorab veröffentlicht. Er wurde vor dem 11. September geschrieben. Indem ich darauf verzichtet habe, "Nachbesserungen" vorzunehmen, läßt sich überprüfen, ob ein bestimmtes "Vordienstagsdenken" nicht doch zur Klärung der Situation beitragen kann, in der laut allgemeinem Chorgesang nichts mehr so ist, wie es vorher war. Warum dann aber die nicht weniger allgemeine Furcht, Anschläge wie in New York und Washington könnten sich wiederholen? Die Bedingungen, die ein Anwachsen des Terrorismus befürchten lassen und seine Bekämpfung notwendig machen, bleiben nach dem 11. September die gleichen wie zuvor. Schlagartig erhöht hat sich am 11. September die Zahl der Opfer des Terrorismus. Und erhöht haben sich seither auch die Opfer des Kampfes gegen den Terrorismus. Die Frage bleibt, wie der Mechanismus einer asymmetrischen Eskalation, die keine Möglichkeit einer immanenten Gleichgewichtsbildung enthält, gebremst und außer Kraft gesetzt werden kann.

 

 

Kasten zum Essay:

Die Stunde der Mächte?

Mit "provokativen Thesen" hätte der "Vertreter russischer Optik" bei einer internationalen Konferenz der Lettischen Transatlantischen Gesellschaft zu Fragen der regionalen Sicherheitspolitik aufgewartet. Nach dem Bericht der NZZ hat der Außenpolitikexperte Andrei Fedorow zwar die Rolle der NATO als "Rückgrat für die europäische Sicherheitspolitik" nicht bestritten. Ob es Russland gefalle oder nicht, andere Organisationen wie etwa die OSZE hätten sich als zu schwach für diese Aufgabe erwiesen. Doch im Licht der Notwendigkeit einer Neuorientierung angesichts der aktuellen Bedrohungssituation gäbe es Wichtigeres als die NATO-Osterweiterung. Russland übersteige als "Partner für die USA inzwischen wohl alle NATO-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens" an Bedeutung. Russlands Stimme müsse im Westen "in voller Stärke" gehört werden. Sein Beitrag werde dann sehr konstruktiv sein.

Damit zerlegt der russische Experte die NATO in ihre Mitgliedsstaaten und misst deren jeweilige Bedeutung an der Russlands für die USA. Bezogen auf eine "weltumspannende Sicherheitspolitik" räumt er der NATO als "Kind des Kalten Krieges" bestenfalls eine provinzielle Position ein. Und so sieht es gegenwärtig auch aus. Die USA führen ihren Kampf gegen den Terrorismus, dem sie zunächst die Form des Krieges gegen das Talibanregime gegeben haben, auf Basis eines Sicherheitsratsbeschlusses und damit im Rahmen der UNO. Sie stützen sich auf eine formlose Koalition gegen den Terrorismus, die in konzentrischen Kreisen um die USA als führenden und die Taliban in Afghanistan als feindlichen Pol gruppiert ist. Das Gewicht der Partner dieser Koalition erwächst dabei aus der politischen Nähe zu den USA einerseits und aus der strategischen Relevanz und der politisch-militärischen Präsenz auf dem Kriegsschauplatz und seinem Umfeld andererseits. Die Schnittmenge zwischen den beiden Kreissystemen ist gering. Weder NATO noch EU finden sich dort.

Der NATO bleiben regionale Sicherungs- und politisch-diplomatische Funktionen. Die Mitgliedsstaaten sehen sich einzeln herausgefordert. Sie verstricken sich in Positionskämpfe untereinander und mit anderen Staaten wie eben Russland. Großbritannien, da hat der russische Experte recht, ist gegenüber beiden Polen der aktuellen politisch-militärischen Konstellation am besten platziert. Und Russland kann die politische Distanz zu den USA durch seine Nähe zum Kriegsschauplatz und seinen Einfluss auf das strategische Umfeld überkompensieren. Damit steht es auch gut da. Die ersten Plätze in der zweiten Reihe sind besetzt. Staaten wie Frankreich und Deutschland müssen schauen, dass sie das Abonnement auf die nächsten Plätze in der zweiten Reihe sichern, andere müssen in der dritten und vierten Reihe den Kopf verrenken. China ist in so heftiger innerer Bewegung, dass es außenpolitisch auf seinem Sitz im Sicherheitsrat ruhig zuwarten kann. Den Sicherheitsratssitz hat auch Frankreich der Bundesrepublik und Japan aus historischen Gründen voraus.

Diese unerfreuliche Perspektive kann man nicht einfach verlassen, sondern nur ergänzend wechseln. Sie erklärt, warum deutsche Außenpolitik gelegentlich die Neigung zeigt, sich mit Worten aufzupumpen, um virtuell mitzuhalten. In einer Neuaufführung des Konzerts der Mächte, wie sie außerhalb des Bündnisgebietes der NATO und der Attraktionskraft der EU nicht zu verhindern und auch nicht zu schwänzen ist, hat die Bundesrepublik einen schlechten Part. Die Bevölkerung zieht mehrheitlich das Sonnenstudio dem Platz an der Sonne vor, beziehungsweise ist sich sicher, dass man ihn eher mit TUI als mit der Transall erreicht. Weltpolitische Militanz ist nicht populär. So droht die Bundesrepublik ständig in die Drittklassigkeit abzugleiten oder sich erstklassig aufzuplustern, um wenigstens zweitklassig dabei zu sein.

Daraus ergibt sich die Attraktion eines Perspektivenwechsels:

1. Statt an einer Einschränkung des Aktionsbereiches der NATO müsste die Bundesrepublik an dessen Ausdehnung interessiert sein. An der Vormachtstellung der USA wird dadurch nicht gerüttelt, sie kann aber nicht mehr bilateral entscheidend zur Geltung gebracht werden. Forum der Entscheidung bleibt das gleichberechtigte Bündnis von vielen, das aber eine eindeutige Vertragsgrundlage für alle hat.

2. Statt an einer Einschränkung der globalen Handlungsfähigkeit der EU auf Handelsfragen muss die Bundesrepublik daran interessiert sein, dass die EU ihr Gewicht auch weltpolitisch zur Geltung bringen kann. Das schließt militärische Handlungsfähigkeit innerhalb des potenziellen Beitrittsraumes ein, verlangt aber auch die Fähigkeit zur globalen Demonstration.

Die Stunde der Mächte ist seit Jahrzehnten vorbei. Noch aber gibt es Räume, in denen die Zeit stillsteht und in denen mangels Integration die stärkste Macht allein ihre Verbündeten wählt. Sie wird diese immer lieber nach eigenem Gusto aufstellen wollen.

Es ist paradox: Ausgerechnet für einen Fall internationaler Politik, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU nicht viel zählen und für den die EU eigentlich gedacht ist, verschwindet sie fast. Wo es um Leben und Sterben, Töten und Fliehen geht, bleiben die Mitgliedsstaaten vorläufig der Souverän. Das hat keinen anderen Grund als den, dass die Staatsangehörigen der EU-Mitglieder die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht als Unionsbürger teilen wollen. Zukunftsperspektive und Residualposition fallen auseinander.

Joscha Schmierer

 

 

 

Siehe zum Thema in der Kommune auch:

Christoph Scherrer: Das Spektrum möglicher Antworten. Globalisierung – eine Zwischenbilanz (7/00)

Christoph Scherrer: Die Spielregeln der Globalisierung ändern? Global Governance – zu welchem Zweck? (9/00)

Eike Hennig: Globalisierung/Glokalisierung. Perspektiven und Chancen. Teil 1, 2, 3 (11 + 12/00, 2/01)

Detlef Sack: Globalisierungsmanagement vor Ort? Debatte um lokale Innovationsnetzwerke (3/01)