Wahn und Unsinn

Henryk M. Broders "Volk und Wahn"

Wilhelm Pauli

"Gut 74 Millionen Deutsche leben - friedlich miteinander vereint - zusammen mit sieben Millionen Ausländern in einem Staat, der seinen Einwohnern individuelle Freiheit, kollektiven Wohlstand und soziale Sicherheit in einem Maß garantiert, wie dies in einem deutschen Gemeinwesen nie zuvor der Fall war. Das Sozialprodukt wie das Pro-Kopf-Einkommen gehören zu den höchsten weltweit. Nirgendwo haben die Arbeitnehmer mehr Urlaubstage, geben die Verbraucher mehr Geld für Reisen, Körperpflege und Luxusgüter aus. In keinem Industrieland ist das soziale Netz dichter geknüpft, werden Umweltschutz und Datenschutz ernster genommen..."

Diese Erbauung stammt nicht etwa aus einer Kanzlerrede der späten achtziger Jahre. Sie steht ziemlich am Anfang des aktuellen Sammelwerks Broderscher Kostbarkeiten, Volk und Wahn, die der Autor vornehmlich für den Spiegel, Die Woche und Profil geschrieben hat. Es handelt sich dabei um neue Arbeiten, deren Entstehung bis weit ins laufende Jahr hineinreicht. Diese Positionierung offenbart nicht nur ein unverdrossen "altes Denken" und vermittelt dem Leser das Gefühl, als gilbe das Papier unter seinen Händen dahin, diese Positionierung ist auch unabdingbar, damit uns Broder seine Spezialmacken scheinschlüssig und völlig losgelöst aufführen kann. Nur dann sind wir so richtig krank und wahngebeutelt, wenn unser ständiges Jammern aus der Fettlebe aufsteigt. Da aber weder diese Voraussetzung gegeben noch der Mensch soviel jammern kann und will, wie zu jammern Anlaß wäre, hat heute das Jammern über das angebliche Jammern im trendsetzenden Journalismus das bejammerte Grundjammern im Volkskörper qualitativ und quantitativ weit übertroffen. Jeder Depp weiß, welch seelenhygienische Funktionen einer ordentlichen Jammerportion zu eigen sind, jeder zweite, was alternative Verhaltensmuster in unserem schönen Land anzurichten in der Lage sein könnten. Nur Broder nicht. Statt dessen weiß er: "Das zentrale deutsche Problem ist weder das Waldsterben im Allgäu noch das Ozonloch über der Antarktis, es ist die nicht erfüllte Bestrafungserwartung nach dem kollektiven Ausrasten von 1933 bis 1945." Das könnte ihm so passen. Selbst die Tätergeneration war - zuckend von Dolchstößen - völlig davon überzeugt, daß sie das Opfer war, das falsche Schwein geschlachtet würde, und ihre ganze Bestrafungssehnsucht richtete sich auf Befreier und Verräter. Man kann es fünfzig Jahre später, am Haß der Brüder und Schwestern auf diverse Figuren der DDR-Bürgerbewegungen, noch einmal exemplarisch studieren. Broder aber nähert sich mit seinem Befund in verwegener Verwandtschaft dem von Gauweiler neu aufgelegten Franz Josef Strauß'schen Schmäh, den er gegen Goldhagen aufbot, daß nämlich, so der Meister, im Dritten Reich "die moralische Substanz" des Volkes "erhalten" geblieben sei. Abgesehen davon, daß die noch niemand gesehen oder betastet hat und niemand weiß, wo die Völker sie konservieren - richtig ist: sie gab es vorher schon nicht. Und wenn Broder in seinen Beiträgen zum gesamtdeutschen Justizunwesen höhnt, daß, je mehr Verbrecher im Land sauen, desto größer die Chance ist, ungeschoren davonzukommen, so zielt er auch da haustürscharf vorbei: Wer sollte denn den traurigen Mut besitzen, als gerade noch Befehlsausführer über andere Befehlsausführer zu Gericht zu sitzen, es sei denn im Rahmen ideologischer Nachhutgefechte, wie wir es als Sonderfall heute bestaunen können, die als Siegerjustiz der Alt-BRD über die Neuländer - von der Seite der "moralischen Substanz" her betrachtet - nicht gänzlich zu Unrecht gegeißelt werden.

Die Schieflage der versammelten Beiträge, die einzeln, weil es da nicht so penetrant wird, genießbar sein mögen, ergibt sich aus einem völlig opportunistischen und trendgesättigten Abessen und Vernichten von längst Abgegessenem und Vernichteten. Vom Volk - irreführender Titel des Buches - ist da keine Rede. Gerührt wird im sattsam verkochten Mischpokenbrei, in dem die Kotzbrocken von Diether Dehm, über Gysi und Wolf, Hermlin und Jens bis Lea Rosh treiben. Wie Broder das Rumoren des Spießers verinnerlicht hat, zum Ausdruck bringt und die landestypische Methode des effektiven und affektiven Verallgemeinerns anwendet, betört. Jedenfalls dürfen Inge Meysel und Heide Wieczorek-Zeul keinesfalls gegen die Atombombenversuche auf dem Mururoa-Atoll sein (leider sagt uns Broder nicht, wer dagegen sein darf, damit auch wir dagegen sein dürfen, oder ob überhaupt jemand dagegen sein darf), und richtig diskreditiert werden unser aller Weinerlichkeiten über den Zustand von Mütterchen Erde nach Landsknechtsart: "Wenn eines nicht allzu fernen Tages Dagmar Berghoff, die 1995 zur ,glaubwürdigsten Frau im Lande` gewählt wurde, als Regierungssprecherin unter Bundeskanzler Jens Reich bekanntgeben wird, der Minister für allgemeine Ethik und öffentliche Moral Ulrich Wickert habe Annemarie Schimmel zu seiner persönlichen Beraterin in Fragen des interkulturellen Dialogs ernannt, dann werden alle begreifen: Das Überleben der Menschheit ist noch nicht gesichert, aber den größtmöglichsten Unglücksfall haben wir schon hinter uns." Ach, schlimmer kann das scharfe Schwert des sarkastischen Kritikers denselben wohl nimmer verletzen. Das dumpfe Demokratieunverständnis, das sich in solchen Sätzen ausdrückt: "Der Rechtsstaat ist eine prima Einrichtung und kommt vor allem jenen zugute, die ihn abschaffen würden, wenn sie die Macht dazu hätten", begleitet uns spätestens seit '49 aus den gurgelnden Kehlen der Globkes, Kiesingers, Schönhubers, Kanters... Da bleibt dann, um sich hervorzutun im Platzhirschenrevier, nur noch, den Zynismus ein bisserl hochzutunen. Sein Witz aber gleicht aufs Haar dem des von ihm gegeißelten DDR-Nachfolge-Kabaretts, beispielsweise wenn er vorschlägt, die Etagen des neuen SPD-Hauses in Berlin separat nach ihren führenden Köpfen zu benennen, statt das ganze nach dem fremdelnden Willy: "Im Keller könnte es die Egon-Bahr für Entspannung geben. Im Erdgeschoß den Oskar-Lafontaine-Rotlicht-Salon, in dem verdiente Genossen beim Ausfüllen ihrer Rentenanträge beraten werden. Die Cafeteria im Hof sollte einfach ,Schröder's` heißen: Wer einen Doppelkorn bestellt, bekommt ein Tofu-Schnitzel gratis dazu." Und so fort.

Da auch sein Spezialthema, der Umgang mit dem Holocaust, auf der Annahme genetisch bedingten deutschen Antisemitismus beruht, was immer also getan oder unterlassen wird, entweder seine Offenbarung oder eben die Offenbarung seiner Verschleierung, gehen, je weiter die Geschichte ihren Gang geht, zunehmend Rohrkrepierer statt Feuerwerke der Entlarvung hoch. Immerhin ist die Chuzpe zu bewundern, mit der Broder, ausgerechnet er, die Kriegsgewinnler der zweiten und dritten Generation mit ihren Dissertationen und ABM-Stellen im Bewältigungssektor auf die Hörnchen nimmt.

Es gibt eigentlich nur einen Punkt, mit dem Broder in der Gegenwart ankommt, und das ist - völlig schlüssig - die mangelnde Dienstleistungsbereitschaft anderer für seinesgleichen, speziell der Ladenschluß, der ihm geradezu als Kulminationspunkt lebensunwerten deutschen Lebens gilt. Statt, wie man von einem gescheiten Burschen erwarten könnte, die durchsichtige Höhnerei aller der Schlampen und Schlamper, die zu blöd sind, sich einen Zettel zu machen, oder die ärmsten Säue im Distributionssektor in ihrem Deregulierungs-, oder Rebarbarisierungsfeldzug mißbrauchen wollen, zu durchleuchten, zitiert er uns allen Ernstes Newsweek: "Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhe, und man kann sonntags immer noch keine Milch kaufen." Verbreitet das 20-Milliarden-Wunder und reiht sich ein in das Heer jener, die so unflexibel sind, daß sie die bisherigen Zeiten nicht zu nutzen in der Lage sind und die Flexibilität selbstverständlich von anderen verlangen. Höhnt vom "Grundrecht auf Feierabend", statt mit "Menschenrecht" auf denselben zu kontern. Hier kommt der ausgewiesene Spießer zur schäumenden Vollendung. Ein österreichischer Bildhauer hat, so schreibt Broder - und ich vermute es handelte sich um Hrdlicka -, den Deutschen diverser Religionszugehörigkeiten im fruchtlosen Streit um ihre Sühnemale vorgeschlagen, zur Versöhnung Gartenzwerge mit Schläfenlocken aufzustellen. Obwohl diese Vorstellung, angesichts der Tatsache, welch Zauber- und Bannwirkung die jüdischen Bürger vollständigen Goethesammlungen in den Regalen, Hölderlins in den Tornistern und Eisernen Kreuzen aus dem Weltkrieg I. zuschrieben, nicht gänzlich ohne Charme ist, finde ich, daß das entschieden zu weit geht. Für eine Charakterisierung Broders allerdings, kann man es besser nicht sagen.

Henryk M. Broder, Volk und Wahn, Hamburg (Spiegel-Buchverlag) 1996 (256 S., 36,00 DM)