Kafka geht ins Kino

Renate Wiggershaus

In einem vor Jahrzehnten entstandenen Essay, der noch immer zu den ergiebigsten Arbeiten über Kafka gehört, in Theodor W. Adornos "Aufzeichnungen zu Kafka", findet sich auch ein knapper Hinweis auf das Filmische an Kafkas Werk. Seine Texte, heißt es da, ließen kein kontemplatives, identifikatorisches Verhältnis des Lesers zu ihnen zu. Das Erzählte komme auf ihn zu wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten dreidimensionalen Filmtechnik.

Daß für Kafkas Werke und für das anderer moderner Künstler der Film als stilistisch und formal repräsentative Kunstgattung ihrer Zeit von großer Bedeutung war, leuchtet sofort ein, ist aber nie ausführlich untersucht worden. Nun hat erstmals jemand die Beziehung zwischen Kafka und Film/Kino zum Gegenstand einer monographischen Untersuchung gemacht.

1978, während der Dreharbeiten an einem Film über Kafka, entdeckte der Schauspieler und Publizist Hanns Zischler in frühen Tagebüchern und in Briefen Kafkas Bemerkungen zum Kino. Neugierig geworden, suchte er nach weiteren Äußerungen, verglich sie mit Anzeigen und Filmkritiken der damaligen Tagespresse, informierte sich in Filmarchiven, interviewte Filmexperten und -restauratoren, suchte alte Kinos auf oder forschte, wenn es sie nicht mehr gab, nach Abbildungen von ihnen. So gelangte er nach allerlei Recherchen in Verona an Pino Breanza, Bäcker und Heimatforscher in einem, der ihm ein Originalfoto des längst verschwundenen Cinema Calzoni schenkte. Darin hatte Kafka, 30jährig, einen Film gesehen, der ihn zum Weinen brachte. Im Prager Filmarchiv entdeckte Zischler den verschollen geglaubten Film Shiwath Zion, der enthusiastisch das Leben der jüdischen Bevölkerung in Palästina vorführte. Zwar findet sich in Kafkas Tagebuch aus dem Jahre 1921 nur die lapidare Notiz: "23. Okt. Nachmittag Palästinafilm". Doch muß ihn der Film sehr bewegt haben. Vier Tage zuvor hatte er, der erwog, nach Palästina auszuwandern, in seinem Tagebuch über "das Wesen des Wüstenwegs" nachgedacht. Er kam zu dem Schluß: "Nicht weil sein Leben zu kurz war, kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war." Die im menschlichen Schicksal begründete Absurdität, trotz aller entsagungsvollen Bestrebungen nicht ans Ziel zu gelangen, durchzieht leitmotivisch Leben und Werk des Dichters. Stets hatte er aus dem als schwer erträglich empfundenen Familienleben seines Elternhauses ausbrechen wollen, aber er verließ es erst 1914, mit 31 Jahren, als äußere Umstände ihn dazu zwangen. Antisemitische Ausschreitungen in Prag legten eine Auswanderung nahe. Zischler zitiert aus einem Brief Kafkas an Milena Jesenska: "Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß... ,Räudige Rasse` habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird?" Verglichen mit der beklemmenden Wirklichkeit Prags stellte das freie, egalitäre Leben der Juden Palästinas, wie es der Film Shiwath Zion zeigte, sicherlich eine große Verlockung dar. (Unter den zahlreichen, dem Buch beigegebenen Abbildungen sind auch Bildsequenzen aus diesem Film zu sehen.) Aber Kafka ging nicht nach Palästina. Die Auswanderung erschien ihm als etwas so "Ungeheures", daß er verzagte. Unüberhörbar, so Zischler, sei "der immer wieder sehnsuchtsvolle und resignierte Ton", der sich durch seine Briefe ziehe. Aber ein Mann, der von sich sagt "Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben... Der Schriftsteller in mir wird natürlich sofort sterben, denn solche Figur hat keinen Boden, hat keinen Bestand, ist nicht einmal Staub...", ein solcher Mann kann - so Hanns Zischler - "nicht mehr wirklich auswandern, er ist immer schon mehrfach isoliert und in einem gewissen Sinn auch exiliert - als Schriftsteller, Junggeselle und Jude."

Nachdem Zischler über viele Jahre hinweg Materialien aller Art - Fotos, Programmzettel, Annoncen - gesammelt hatte, die Tagespresse auf die von Kafka erwähnten Filme hin durchforscht und verschollen geglaubte Filme angesehen hatte, verknüpfte er diese Dinge vorsichtig mit den die Kinematographie betreffenden Stellen aus Kafkas Tagebüchern und Briefen. Es ist erstaunlich, was für ein weites und beziehungsreiches Umfeld er um karge Eintragungen wie die nur zwei Wörter umfassende Tagebuchnotiz: "Nachmittag Palästinafilm" aufzudecken und vor Augen zu führen vermag. Dies letzte von insgesamt 15 Kapiteln schließt mit den Worten, Palästina sei für Kafka "ein uneinholbares, unbetretbares Terrain" geblieben, nah und fern zugleich, "ein Film" - ein Film, der abrollt und den Zuschauer zurückläßt.

Damit schließt sich der Bogen zum ersten Kapitel, das Hanns Zischler mit einem frühen Kafka-Zitat eröffnet. "Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt". Bewegliche Bilder überfallen den Zuschauer, entschwinden wieder. Lassen keine Zeit zur Kontemplation und verlangen Reaktionen auf Schockierendes. Zwar gibt es den "Versteller", der dem Publikum die stummen Szenen zu erklären sucht. Doch was der sagt, hat - wie es Zischler in einem amüsanten, eigens dieser Figur gewidmeten Kapitel darlegt - häufig wenig mit dem im Film Gezeigten zu tun.

Angesichts des Ansturms der rasch aufeinanderfolgenden Bilder stellt sich für Kafka die Frage, wie er damit umgeht. Im Reisetagebuch von 1911 notiert er, was er im sogenannten Kaiserpanorama, einem Rotundenbau, durch die stereoskopischen Fensterchen an erstarrten Genreszenen zu sehen bekam: "Die Bilder" - so Kafka - "lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung...", läßt dem Zuschauer also keine Zeit zum Verharren und Abschweifen, zur Versenkung und Reflexion. Die Gegenüberstellung von verräumlichtem Stillstand und automatisierter Unruhe deutet Zischler als "ein Erproben von Stufen der literarischen Wahrnehmung."

Kritische Distanziertheit zur Kinematographie kommt bei Kafka außer in der eben zitierten Äußerung sonst nirgendwo vor. Im Gegenteil, sein Enthusiasmus fürs Kino, den er mit vielen Zeitgenossen teilte, ist immens und wird nur von einer anderen Leidenschaft übertroffen: dem Schreiben, das allerdings nicht nur lustvoll, sondern auch quälend sein konnte. Das Filmesehen hatte den unübertrefflichen Vorzug genußvoller Zerstreuung, die ihn sich selber, seine Selbstvorwürfe und Selbstbeschuldigungen vergessen ließ.

Hanns Zischler schildert an Beispielen, wie der Film Kafkas Leben affizierte. Von realen Ereignissen, die ihn an bestimmte Filme erinnerten, ließ er sich gleichsam in Filmstimmung versetzen und zu einer entlastenden Fiktionalisierung des Alltags anregen. Reisen, die er mit Max Brod unternahm, bereiteten ihm kinetisches Vergnügen; Fahrten im Zug, im Taxi oder in der Metro wurden zu einem Erleben aus der Kameraperspektive. Die Kinematographie bereicherte Kafkas Leben, half ihm, es zu bewältigen. Das war durchaus nicht immer ein ausschließlich lustvolles Vergnügen. 1910 hatte Kafka den berühmten Schauspieler Albert Bassermann als Hamlet in einer Aufführung des Deutschen Theaters in Berlin erlebt. 1913 kam der Film Der Andere mit Bassermann in der Hauptrolle nach Prag. Kaum hatte Kafka die Filmplakate gesehen, schrieb er an Felice Bauer... "Auf einem Plakat, wo Bassermann allein im Lehnstuhl abgebildet war, hat er mich wieder ergriffen, wie damals in Berlin und wen ich nur gerade fassen konnte, Max oder seine Frau oder Weltsch, den zog ich zum allgemeinen Überdruß immer wieder vor dieses Plakat." Mit dem bewunderten Theater-Schauspieler Bassermann als Hamlet im Kopf wirkten die Augenblicksaufnahmen der ausgehängten Film-Standbilder jedoch, je länger und öfter er sie betrachtete, desto ernüchternder auf ihn - "leicht nichtssagend", wie er an Felice Bauer schrieb. Er setzte sich mit Kritiken zum Film auseinander, mit Bassermanns Erwiderungen darauf, bemitleidete ihn, weil er von jeglichem Einfluß auf den Film ausgeschlossen worden sei. Kafka meinte, Bassermann habe sich mißbrauchen lassen, und sah ihn schließlich als jemanden, der "älter" wird, "schwach, in seinem Lehnstuhl zur Seite geschoben", der "irgendwo in der grauen Zeit versinkt." Dann plötzlich die Vorstellung, auf ihn treffe zu, was er über Bassermann denke. Bassermann, so Kafka, bliebe stets Bassermann, er selber aber umflöge wie ein Vogel, "der durch irgendeinen Fluch von seinem Nest abgehalten wird, dieses gänzlich leere Nest immerfort".

Es sind solche Wechselwirkungen von Film, Filmgeschehen, Filmgestalten einerseits, Kafkas Befindlichkeiten, Wandlungen, Lebensgestaltung andererseits, die Zischler erhellt und akribisch, mit viel Feingefühl darstellt. Was der Film für Kafkas Prosa bedeutete, wird dabei höchstens am Rand berührt. Mit seinen vielen erstmals reproduzierten oder beschriebenen Dokumenten und Bildern ist Zischlers Buch aber andererseits auch ein Beitrag zur Filmgeschichte und führt die Zauberwelt des frühen Kinos mit seinen stummen beweglichen Bildern und den dazugehörigen beredten Dramatisten lebhaft vor Augen.

Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek (Rowohlt Verlag) 1996 (224 S., zahlr. Abb., 48,00 DM)