Der Virus ist noch lebendig

Über Detektive und Anarchisten, braune Kommunisten und eitle Literaten

Marko Martin im Gespräch mit Didier Daeninckx

Monsieur Daeninckx, Ihren Büchern stellen Sie oft ein Motto voran, einen Satz von Václav Havel oder eine Überlegung von Marc Bloch, wonach "die Duldung der Lüge, ganz gleich, unter welchem Vorwand, die schlimmste Pest der Seele" sei. Das ist nicht unbedingt typisch für Detektivromane. Der Krimi-Autor als Moralist?

Um was es mir geht, ist ein Höchstmaß an Genauigkeit. Auch und vor allem im Umgang mit der Vergangenheit, der kollektiven ebenso wie der privaten. Václav Havel und Marc Bloch stehen für diese Ehrlichkeit, für dieses sich Nichtwegdrücken aus der eigenen Verantwortlichkeit. Die Gestalten meiner Kriminalromane sind dazu zumeist nicht fähig, sie verdrängen das Vergangene in der Illusion, so die Gegenwart besser meistern zu können. Aber gerade das wird für sie zum oft tödlichen Trugschluß, und die Katastrophe, der sie durch ihre wohlkalkulierte Vergeßlichkeit entfliehen wollten, holt sie nun erst recht ein.

Dann wäre Überlebenskampf auch immer der Kampf um die Erinnerung und gegen das Vergessen?

In der Tat. Milan Kundera hat einmal sehr genau das widerständige Potential des Erinnerns beschrieben als eine Form, dem verlogenen, auf Amnesie gegründeten Diskurs der Macht zu entgehen. Mit meinen Mitteln hoffe ich, zu dieser Konfrontation, die ja auch immer eine Konfrontation mit sich selbst ist, beizutragen. Stendhal bezeichnete die Literatur als einen Spiegel, der sich am Wegrand bewegt. Meiner Meinung nach ist dieser Spiegel noch näher: genau vor unserem Gesicht. Vielleicht kann er im ersten Moment nichts ändern, aber er zeigt uns genau, wie wir wirklich sind. Das hinterläßt Spuren.

François Maspero hat Ihren jüngsten Roman, Nazis in der Métro, als einen "Roman in der Tradition Balzacs" bezeichnet. Ist es ein Zufall, daß Sie das Genre des Krimis gewählt haben, um Zeuge und Chronist der Gesellschaft zu sein?

Ich glaube, daß unsere strukturell so hochkomplizierten Gesellschaften nicht ganz so transparent sind, wie sie sich gern selbst darstellen. Das Obskure, das Undurchschaubare, das der Öffentlichkeit geflissentlich Verborgene ist nach wie vor präsent; vielleicht sogar stärker als vorher, da alle wichtigen Entscheidungen längst den engen nationalen Rahmen sprengen und weltweite Auswirkungen haben können. Hier kommt der Detektiv ins Spiel.

Ihre Detektive tummeln sich vor allem im Showbusiness, in der Werbeindustrie, im Fernsehen und in Verlagen ...

Ja, denn dort gibt es nicht nur viele Scheinwerfer, sondern auch entsprechend genug dunkle Ecken. In diesem Milieu läuft alles in so rasender Geschwindigkeit und Schnellebigkeit ab, daß man normalerweise nicht mehr die Zeit finden kann, die Nachtseiten dieses Geschäfts aufzuspüren und zu lokalisieren. Aber genau das ist die Aufgabe des Detektivromans: die Rekonstruktion. Die Katastrophe ist bereits geschehen, die Leiche ist da - aber warum ist die Leiche da, was hat sich hier vorher abgespielt? In einer Gesellschaft der permanenten Reizüberflutung, wo ein Effekt den anderen erschlägt, ist dieser Moment sehr wichtig: die Zeit wird für einen Augenblick angehalten, das übliche Gewäsch für eine Weile suspendiert und die Hintergründe werden ausgeleuchtet. Warum wurde am Donnerstag, den zweiten Oktober, um 16 Uhr nachmittags, diese Person getötet?

Aber am Ende dieser proustschen Suche nach der verlorenen Zeit steht bestenfalls der überführte Mörder, und dann geht die Show weiter wie vorher.

Das stimmt, nur gibt es wohl kaum eine andere Alternative. Defekte aufzeigen, Manipulationsmechanismen für einen Moment leerlaufen lassen, Spuren nachzugehen und als Chronist anwesend zu sein - eine andere Möglichkeit haben wir als Schriftsteller in unserem Beruf ohnehin nicht.

Dennoch fällt auf, daß viele Krimi-Autoren ihre Arbeit wohl kaum von einem so emanzipatorischen Standort aus beurteilen würden. Der Detektiv als unpolitischer Gutmensch, als mürrischer lonely hero, der nur seine verdammte Pflicht tut oder der ausgefuchste Experte, der die Illusion hegt, durch einen aufgeklärten Mordfall das Leben der Gesellschaft wieder in ruhiges Fahrwasser zu bringen ... Auf Ihre Detektive aber trifft das alles nicht zu, sie sind sogar zu desillusioniert, um noch den Kult des müden Zynismus zu pflegen, und an eine gesellschaftliche Harmonie, die sich durch Haftbefehl wiederherstellen ließe, glauben sie erst recht nicht ...

Das will ich doch auch hoffen. Tatsächlich ist meine Herangehensweise den traditionell konsumierbaren Krimis diametral entgegengesetzt. "Meine" Kriminalfälle sind kein Fremdkörper innerhalb der Gesellschaft, sondern ihr originäres Produkt. Deshalb gibt es am Ende, trotz der Lösung des Mordfalls, auch kein simples Happy-End. Was heute passiert, kann auch morgen passieren, wenn sich ein Mord wieder einmal als die beste Gelegenheit darstellen sollte, dunkle Geschichten zu vertuschen.

Trotz dieser düsteren Erkenntnis gibt es in Ihren Büchern eine Menge Humor. Situationskomik, Wortspiele, literarische Persiflagen, die aufzuspüren ein Vergnügen ist. Und immer wieder den Spott gegenüber Prominenten. Ich denke da an den Esel, der um das gestürzte Denkmal des bulgarischen Kommunistenchefs Schivkow läuft und auf den Namen Jack Lang, des ehemaligen sozialistischen Kulturministers, hört. Oder Ihre Seitenhiebe auf medienbewußte Schriftsteller wie Françoise Giroud und Alexandre Jardin - fühlen Sie sich, der hier in einem kleinen Häuschen im Vorort Aubervilliers lebt, als Outsider?

Ja, und ich fühle mich gut dabei. Ich interessiere mich nicht im geringsten für das Pariser Literaten-Milieu. Ich frequentiere keine der einschlägigen Bars, Redaktionsräume oder Cafés und kenne auch nur sehr wenige Kulturjournalisten und Schriftsteller ... (Im Erdgeschoß seines Hauses beginnt ein Hund zu bellen.) ... Hören Sie ihn? Sobald ich Pariser Schriftsteller erwähne, schlägt er Alarm! Dieses Milieu tötet jegliche Kreativität, alles dreht sich nur noch darum, wer wen kennt, wann und wo man besprochen wird, wer einen im Fernsehen oder in den Presse-Magazinen lancieren kann. Es gibt genug Schriftsteller, die unter dieser Daueranspannung, unter die sie sich selbst begeben haben, ihr Talent und ihren Einfallsreichtum komplett verloren haben.

Welche Autoren haben einen größeren Einfluß auf Sie ausgeübt?

Natürlich Balzac, aber auch Jack London, dessen Martin Eden ich ganz besonders schätze. Hinzu kommen Schriftsteller wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler oder Chester Himes und Jean Vilar. Besonders letzter hat mich nach der Lektüre sehr ermutigt, selbst zu schreiben.

Wann haben Sie Ihren ersten Roman geschrieben?

1977, da war ich immerhin schon 28 Jahre alt. Ich war damals gerade arbeitslos geworden und hatte aufgrund technischer Rationalisierungen meinen Job als Drucker verloren. Seit ich mit 16 Jahren die Schule verlassen hatte, weil mich das autoritäre Getue dort nervte, habe ich immer mit meinen Händen gearbeitet und so meinen Lebensunterhalt bestritten.

Sie wohnen mit Ihrer Familie heute noch in einem Arbeitervorort. Die Cafés sind hier anders als unten in Paris, weniger kühle Distanz, dafür mehr Lautstärke, Zurufe und Schulterklopfen, François Cabrels Lieder aus dem Kassettenrecorder ...

Welches Album haben Sie gehört?

Ich glaube Les murs de Poussiére ...

Dieses Viertel hat mich geprägt. Dieses Völkergemisch hier, auch die Gleichheit und Solidarität unter Arbeitern, die ich immer wieder erfahren habe. Ich weiß, diese Worte sind mittlerweile zum Slogan verkommen und durch die kommunistische Propaganda völlig unmöglich gemacht worden, aber ich beharre darauf, daß es so etwas immer noch gibt: Solidarität. In der französischen Literatur ist freilich davon nichts zu spüren, das Arbeiter-Milieu kommt dort einfach nicht vor, ist fast völlig inexistent.

In Ihren Büchern tauchen alle auf: rumänische Kellner, der mauretanische Filmemacher und der pakistanische Kleinfabrikant, der behinderte Computerfreak oder der Trödler mit dem großen Herz - ist das eine Möglichkeit, rassistischer Ausgrenzung und Homogenitätswahn etwas entgegenzusetzen?

Auf jeden Fall. Ich habe versucht, den sogenannten kleinen Leuten, die man immer abwertet, ein Denkmal zu setzen. Wenn man genauer hinsieht, verflüchtigen sich die Stereotypen von selbst. Arbeiter lesen nicht? Ich kenne genug, die das tun, die sich als Autodidakten weiterbilden und heftigst über Bücher diskutieren können. Ausländer sind alle eine graue Masse? Unsinn. Da gibt es hier im Norden von Paris eine starke Minorität von Spaniern, die vor Jahrzehnten aus politischen Gründen vor Franco fliehen mußten. Ihre Kinder sind nun schon gebürtige Franzosen. Oder man spricht mit einem afrikanischen Straßenkehrer, und es stellt sich heraus, daß er aus Mocambique stammt und unter Lebensgefahr nach Frankreich gekommen ist. Und schauen Sie sich die Kambodschaner an! Da gibt es fast keinen, der nicht ein Familienmitglied oder einen nahen Freund während des Pol-Pot-Terrors verloren hat. Diese Menschen haben alles daran gesetzt, hierher zu kommen, und das mindeste, was sie von uns verlangen können, ist, daß wir sie als Individuen wahrnehmen und respektieren.

@Ini-2z = Sie sehen sich als unorthodoxen Linken, dem Antifaschismus keine leere Worthülse ist, der aber aus seiner Abneigung gegenüber den Kommunisten, ja, aus seinem Antikommunismus, nie einen Hehl gemacht hat. Gibt es da entscheidende Prägungen in ihrer Biographie?

Und ob. Mein Großvater war Anarchist. 1917 ist er aus dem Krieg desertiert, hat sich falsche Papiere besorgt, wurde 1919 festgenommen und zur Zwangsarbeit verurteilt. Mein anderer Großvater war Bolschewist und wurde irgendwann zum kommunistischen Bürgermeister in einem banlieu rouge gleich hier in der Nähe gewählt. Ich wuchs also zwischen einem kommunistischen Funktionär und einem anarchistischen Deserteur auf. Das waren auch zwei Lebenshaltungen und Erziehungsmethoden: rigid und hart die eine; offen, spielerisch und libertär-humanistisch die andere. Keine Frage, welche mir mehr zusagte. In meinem Büchern wird diese Differenz weiter ausgelotet.

In dem Roman Nazis in der Métro wird ein alter links-libertärer Schriftsteller beinahe totgeschlagen, weil er Dokumente über das Zusammengehen von Nazis und Kommunisten sammelte und man seine Enthüllungen fürchtete. Ich fand dort den Satz, "daß die Front National den Slogan der Kommunistischen Partei, ,produzieren wir französisch`, nur noch durch ,mit französischen Arbeitern` vervollständigen mußte, um die Sache auf den Punkt zu bringen". Wo sehen Sie weitere Gemeinsamkeiten zwischen Rot und Braun?

Zum Beispiel in der Idee der Revolution. Beide wollen die sozialen Klassen zerstören und die Gesellschaft von Grund auf neu konstruieren, wohlgemerkt, zu ihren eigenen Konditionen. Sehen Sie sich Pétain an. Seine Bewegung während des Krieges trug den Namen "Révolution nationale". Immer geht es um den absoluten Umsturz, um die vollständige Machtergreifung, mit welchen Ideen man auch immer das kaschiert.

Emmanuel Lévinas hat einmal geschrieben: "Die Hand, die zur Waffe greift, leidet gewiß an der Gewalt dieser Geste. Das Betäuben dieses Schmerzes bringt den Revolutionär an die Grenze des Faschismus."

Genau darum geht es ja. Den Schmerz zu betäuben, den Zweifel - und den Zweifler gleich mit - zu vernichten und eine neue "reine" Ordnung herzustellen.

Im Sommer 1993 unterzeichneten französische Intellektuelle einen "Aufruf zur Wachsamkeit", in dem sie vor einer Verbindung von rechtsextremem und kommunistischem Gedankengut warnten. Beziehen sich die haarsträubenden Episoden in Ihrem Roman darauf oder sind sie Produkt Ihrer Phantasie?

Leider nicht. Wo ich Zeitungen und Namen zitiere, mußte ich nichts erfinden. Weder die antisemitischen Ausfälle gegen den Philosophen Bernard-Henri Lévy noch gegen den Sänger Patrick Bruel. Auch die Tatsache, daß ein stellvertretender Generalsekretär der kommunistischen Gewerkschaft CGT zusammen mit dem Chefredakteur von Le Pens Zeitung Présent in einer Nazi-Postille schreibt, daß sich der Leiter der literarischen Abteilung des kommunistischen Verlages mit dem antisemitischen Pamphletschreiber Mac Daube an einen Tisch setzt und Mitglieder des Zentralkomitees der KPF Editorials unter den Zeichnungen des rassistischen Karikaturisten des "National-Hebdo" verfassen - all das ist wirklich passiert. Daß sich Rote und Braune auch im Haß auf die USA und Israel treffen, ist ja ohnehin bekannt, besonders während des Golfkriegs wurde das noch einmal sehr deutlich.

Bei einer Figur habe ich etwas gestutzt. Der exsowjetische Dissident, der zum serbischen Faschismus überläuft und sich rühmt, Menschen in Sarajevo umgebracht zu haben - ist das nicht etwas zu dick aufgetragen?

Wenn man es erfunden hätte, dann ja. Aber die Wirklichkeit überholt uns. Diesen Typ gibt es tatsächlich, es handelt sich um den in Paris lebenden Schriftsteller Eduard Limonow. Er schrieb Kriegsberichte über Bosnien für links- und rechtsextreme Zeitungen. Die Sätze, die ich zitierte, stammen aus seinen Beiträgen für die polnische Zeitung Nié.

Ist das nicht das Skandalblatt, das Jaruzelskis ehemaliger Pressesprecher Jerzy Urban leitet?

Das kann gut sein. Les extrêmes se touchent. Dennoch ist es irrwitzig, was in manchen Menschen vorgeht. Limonow war ein Dissident aus der Breschnew-Zeit, der schreckliche Erfahrungen in der UdSSR gemacht hat. Außerdem war er als Homosexueller doppelt diskriminiert. Und so ein Mann geht zur Front National und läßt sich von der BBC filmen, wie er zusammen mit serbischen Scharfschützen auf Sarajewo feuert!

In ihrem Roman Das Schloß bei Prag wird in der Nachwendezeit ein französischer Schriftsteller ermordet, der vor 1989 ein gern gesehener Gast des offiziellen Schriftstellerverbandes der CSSR war und nun einige kompromittierende Dokumente zurückfordert, was ihn das Leben kostet. Sie erklären die Faszination westlicher Intellektueller am Realsozialismus vor allem mit materieller Motivation ...

Ja, denn die ideologischen Verblendungen, die sich etwa Eluard oder Aragon in den fünfziger und sechziger Jahren leisteten, wurden später von einem großen Zynismus abgelöst. Man wußte, daß der Osten geradezu nach westlichen Namen gierte, um sein Image aufzupolieren. Also bot man sich an. Bekam dafür Geld, wurde zu ominösen "Friedenskongressen" eingeladen, erhielt eine Bestätigung des eigenen Narzißmus, wie wichtig und bedeutend man doch sei und konnte im Osten noch einmal all seine Bücher veröffentlichen, für die sich daheim kein Mensch mehr interessierte. Das war kein Revolutions-Tourismus mehr, sondern ein kühl kalkuliertes Geben und Nehmen, ein défilé kleiner Lichter, die mit ihrem Pfund zu wuchern verstanden.

Hat Ihrer Meinung nach dann nach 1989 ein Wandel stattgefunden?

Weshalb sollte das passiert sein? Man wirft sich nun nur nicht mehr dem östlichen Realsozialismus an den Hals, sondern pflegt die französische Eigenart, die Religion des "chez nous". Antiamerikanismus, Haß auf Immigranten und eine widerliche Festungs-Mentalität sind die Folge. Der Virus, den ich in meinen Kriminalromanen zu beschreiben suche, ist noch immer lebendig.

Didier Daenickx, 1949 in Saint-Denis geboren, ist einer der erfolgreichsten Autoren der mittleren Generation und gilt als der derzeit bedeutendste Kriminalschriftsteller Frankreichs. Für seine in der "Série noire" bei Gallimard und Denoël erschienen Romane erhielt er zahlreiche Preise. - Eine Besprechung seiner auf deutsch erhältlichen Romane findet sich in dieser Ausgabe der Kommune, S. 64.