Tierrechte

Die Grenzen der Moral

Peter Köpf

Silke Ruthenberg, die Vorsitzende des Tierrechtsvereins "animal peace", ist ein Medienstar. Seit sie mit ihren Mitkämpferinnen und Mitkämpfern nackt durch Fußgängerzonen rennt, um gegen das Tragen von Pelzen zu demonstrieren, haben die Macher in den TV-Schwatzbuden ihren Wert erkannt. Selbst Der Spiegel hat ihr in einem "Special" fünf Seiten gewidmet, Joy nahm sie in die Rubrik "reich, schön und berühmt" auf, das Foto zwischen Richard Gere, Madonna, Jodie Foster und Sönke Wortmann. Doch Silke Ruthenberg strebt nach höheren Weihen. Sie ist unter die Philosophinnen gegangen. Ihr Aufsatz, abgedruckt in der Vereinszeitschrift, trägt den Titel "Ethik der Tierrechte". Den Text, so versichert sie voller Stolz, hätten "sogar Philosophieprofessoren gelobt".

Ihre Schützlinge will Ruthenberg endlich in die "Gemeinschaft der Gleichen" aufgenommen wissen. Die Unterdrückung der Frauen, Schwarzen und Homosexuellen, der Alten, der Dritten Welt insgesamt, der psychisch Kranken, der Behinderten und der Kinder sei erst jüngst erkannt worden. Hohe Zeit, die Tiere einzuschließen. Es müsse die Einsicht wachsen, daß "Macht zu besitzen nicht die moralische Rechtfertigung ergibt, diese Macht uneingeschränkt ausnützen zu können".

Albert Schweitzer, der geklagt hatte, daß die europäischen Denker darauf achteten, "daß ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen", kann jetzt ruhig schlafen. Denn neben Silke Ruthenberg haben sich andere Philosophen endlich der Tiere angenommen. Manche meinen es dabei ziemlich gut mit "Bruder Tier": Die Berliner Philosophin Ursula Wolf stellt sich einen Notfall vor, bei dem ein Mensch und ein Tier zu retten wären. Der Retter kann nur einem helfen. Entscheidet er sich für den Menschen, so sei dies "prinzipiell legitim". Doch Wolf ergänzt: "Wenn das Tier ein bekanntes Tier ist, wäre ebenso die umgekehrte Entscheidung möglich." Man stelle sich vor, in einem brennenden Haus wären ein kleines Kind und ein Hund eingesperrt. Ein Helfer naht, er sieht den Hund, es ist der seine ...

Abgesehen davon, daß die Situation eine konstruierte ist, bedeutet Ursula Wolfs Pflichtverständnis einen Tabubruch. Wolf und mit ihr eine ganze Bewegung von Tierethikern und Tierrechtlern verschiedener Radikalität brechen mit einem Grundprinzip der Gesellschaft. Der Mensch wird nicht mehr als Primus der Schöpfung gesehen. Tierrechtler wie Wolf suchen nach einer Gerechtigkeit, in die auch Tiere einbezogen werden, selbst wenn ihr gelegentlich ein Mensch zum Opfer fällt.

Die britischen Utilitarismustheorien liefern den Tierethikern die Basis für ihre Theorien von der "Befreiung der Tiere". Jeder kann heute Jeremy Benthams zentrale These auswendig herunterbeten: "Was ... sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit zu sprechen? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind unvergleichlich verständiger oder mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Aber selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: Können sie denken? oder: können sie sprechen?, sondern: können sie leiden?"

Heute geht Benthams Saat wieder auf. Peter Singers konsequente, aber abstoßende Philosophenlogik ist bekannt. Auf der Suche nach einer schlüssigen Theorie der Rechte für Tiere stellte er die Frage, warum man denn so intelligente Tiere wie Schweine töten dürfe, nicht aber schwerstbehinderte Neugeborene. Den Mensch als Spezies ins Zentrum zu stellen, ihm mehr Rechte zuzuschreiben, verurteilt Singer mit seinem amerikanischen Kollegen Richard Ryder als "Speziesismus". Singer lehnt Tierversuche generell ab. Auch Fleisch zu essen sei verwerflich, denn: "Die Tiere werden behandelt wie Maschinen, die billiges Futter in teures Fleisch umwandeln."

Wie weit sollen wir hinuntersteigen auf der Evolutionsleiter? Singer: "Irgendwo zwischen einer Krabbe und einer Auster" sei wohl die Grenze zu ziehen. Ursula Wolf wehrt sich grundsätzlich gegen eine "moralische Zäsur" in der Natur und fragt, ob nicht auch Schnecken oder Schwämme, Steine und ganze Biotope, Automobile oder Teekannen einen moralischen Status haben. Dann besinnt sie sich doch noch und erklärt, die Grenze sei da zu ziehen, wo "Tiere ein Nervensystem besitzen, das gewisse Konzentrationen aufweist". Insekten schließt sie ausdrücklich ein. "Daher kann man bei den meisten Arten von Tieren Leidensfähigkeit unterstellen." Günter Altner geht noch weiter. In der Hamburger Wochenzeitung Die Woche erklärte der Koblenzer Professor für Theologie und Ethik: "In Wahrheit teilt der Mensch mit allen Lebensformen eine lange gemeinsame Entstehungsgeschichte, und auch darin gibt es eine fundamentale Gleichheit, daß alle Lebensformen leben wollen." Ausdrücklich fügte er hinzu: "Das gilt auch für die uns fernstehenden Mikroorganismen und Pflanzen."

Das Dilemma bleibt also. Etwas kraftlos erklärt Singer: "Wenn wir Schmerz zufügen müssen oder aber verhungern, dann müßten wir das geringere Übel wählen." Es würde "vermutlich"(!) immer noch zutreffen, daß Pflanzen weniger leiden als Tiere. Mit dem deutschen Naturphilosophen Klaus-Michael Meyer-Abich könnte man sagen, Tierrechtler unterliegen der Gefahr, einen Chauvinismus durch den anderen zu ersetzen; nach den Schwarzen, den Frauen und den Tieren werden nun die Pflanzen ausgeschlossen. Oder mit der Terminologie eines Peter Singer: Sie gebären einen neuen Speziesismus.

Silke Ruthenberg hat ihre eigene, radikale Lösung parat: Würde die Wissenschaft eines Tages nachweisen können, daß auch Pflanzen Schmerzen und Leiden empfinden, "dann könnte die Entwicklung sein, daß wir alle Frutarier werden". Essen dürften Menschen dann nur noch, was die Pflanzen freiwillig hergeben, Früchte eben. Nicht dagegen: Kartoffeln, Salat, Kraut, Kohl...

Eine einfache Stammtischfrage bringt Tierrechtler aus dem Konzept: Würden nicht ganze Rassen aussterben, wenn der Mensch sie nicht mehr (ver-)brauchte? Der Salzburger Philosoph Helmut F. Kaplan, ebenfalls aktiver Tierrechtler, spottet mit Singer, dieser Einwand von den aussterbenden "Nutztieren" habe "etwas Lächerliches" an sich. Er lasse sich durch den bloßen Hinweis auf die modernen Fleischfabriken widerlegen. Deren Leben sei so freudlos und qualvoll, daß es in keiner Weise als ein Wohl für die Tiere angesehen werden könne. Was aber, wenn die Tiere freilaufend aufwachsen? Kann ein solches Leben nicht freudvoll sein, zumindest besser als gar kein Leben? Der billige Einwand, "Karnivoren" führten das Argument an, ohne wirklich besorgt zu sein, verrät Hilflosigkeit in einer entscheidenden Frage, der Frage nach dem Vorrang beim Erhalt einer Art oder der eines Einzeltiers. Die stellt sich auch, wenn Jäger Wild erschießen, um den Wald zu schonen, wenn auf Neuseeland von Menschen eingeschleppte Ratten, Marder und Füchse geschossen werden, weil sie eine Reihe auf dem Boden lebender, aussterbender Vogelarten bedrohen oder wenn in Großstädten Rattengift ausgestreut wird, um der Nager Herr zu werden.

Doch schon quält Tierrechts-Philosophen ein weiteres Dilemma: Tiere fressen auch Fleisch, warum also sollte man es den Menschen untersagen. Ist's nicht der Lauf der Natur? Fressen und gefressen werden. Ursula Wolf, sonst zu den radikalsten Denkern zählend, stellt fest, daß wir in solchen Fragen an "die Grenzen der Moral" stoßen. Das Ideal einer heilen Welt ohne Leiden sei nicht erreichbar, ja, Leiden gehöre zu dieser Welt.

Klaus Michael Meyer-Abich, alles andere als ein Tierrechtler, verzichtet ausdrücklich auf eine Hierarchie. Der radikale Realist will nicht Tierrechte schützen, sondern die Natur als Ganzes, die Mitwelt. Als größtes Hindernis für eine Umsetzung dieses Prinzips erkannte er die Praxis der Aneignung der natürlichen Mitwelt durch Industrie und Wirtschaft mit allen Folgen. Aus der Freiheit, die die Aneignung der Natur dem Menschen bringen sollte, sei Unterdrückung geworden, für andere Menschen ebenso wie für die natürliche Mitwelt. Meyer-Abich kratzt deshalb sogar an einem ehernen Grundrecht der bürgerlichen Ordnung, dem auf Eigentum. "Ohne das Eigentumsprinzip kommt man in den bürgerlichen Staat nicht hinein. Mit ihm aber, so meine ich, können wir spätestens jetzt nicht mehr darin bleiben."

Meyer-Abich toleriert, daß Tiere geschlachtet werden, wenn sie vorher "wenigstens gelebt haben". Tiere will er "nicht nur als Lebensmittel" sehen. Aber eben auch als solches, bei allem Respekt. Wenn aber auch die Pflanzen unsere Rücksicht verdienen, und das tun sie bei Meyer-Abich, dann wird die verfügbare Nahrung knapp. Die Einsicht müsse entstehen: Wir Menschen leben von anderem Leben, dies sei "ein Organisationsprinzip der Natur". Dafür gebe es bei solcher Betrachtung keinen Ausweg, nicht einmal den vegetarischen. Dies sei eine "grausige Tatsache".

Egal, was der Mensch ißt, er wird schuldig an der Natur. Wenn er schon Tiere (oder Pflanzen) verspeise, solle er dies wenigstens in Dankbarkeit und Freude tun, mit Genuß, aber nicht nur als Genuß. Provozierend fragt Meyer-Abich: "Trägt es vielleicht sogar zur Schönheit der Welt und nicht allein zu unserer Freude, geschweige denn nur zu unserer Ernährung bei, wenn ein Fisch kunstvoll angerichtet und gegessen wird? Ist der Fisch hier nur das bedauernswerte Opfer unseres Lebens von anderem Leben, oder erfüllt sich die Bestimmung des Fischs im Garten der Natur vielleicht auch darin, daß einige Fische durch ein Fest in Freude und Schönheit aufgehen?"

Silke Ruthenberg hält davon nichts. Ihr Ziel fest vor Augen, will sie "millimeterweise den Himalaja besteigen". In Theorie und Praxis ist ihr Blick fest nach oben gerichtet.

Zum Thema eben erschienen:
Peter Köpf, Ein Herz für Tiere? Über die radikale Tierrechtsbewegung, Bonn (J. H. W. Dietz Verlag) 1996 (175 S., 24,80 DM)