Gespräch mit André Gorz

"Die verwendete Zeit wird nicht mehr die Zeit der Verwendung sein"

Der große alte Mann der Neuen Linken und einer der Paten der Alternativbewegung hat wieder ein Buch veröffentlicht: Misères du présent. Richesse du possible (Galilée ,Débats', 230 S., 160 F.), vereinfachend übersetzt mit "Aktuelles Elend, möglicher Reichtum". Der Rezensent von Libération hat einen "prophetischen Ton" herausgehört, auch wenn der Autor das von sich weise. - Wir veröffentlichen den größten Teil eines Gesprächs von Robert Maggiori und Jean-Baptiste Morongiu mit André Gorz aus Libération vom 25. September 1997.

Die Arbeit ist heute das zentrale Thema. Wie sehen sie es?

Ich versuche, den Endpunkt ins Auge zu fassen, zu dem die gegenwärtigen Veränderungen gemäß ihrer eigenen Logik führen. Diese Logik mündet in der Auflösung des Lohn- und Kapitalverhältnisses, und zwar durchaus zu den Bedingungen, die Marx in den Grundrissen vorausgesehen hat und die heute selbst manche "subversive" Denker aus dem Unternehmerlager erkennen. Man muß diese Perspektive wählen und sich fragen, was man machen kann, um die Arbeit ihr anzupassen und schon heute in Richtung dieser Anpassung vorzugehen. Man muß sich in der Mentalität aus der lohnabhängigen Gesellschaft, aus der Arbeitsgesellschaft als einziger Form der Gesellschaft zurückziehen: Das nenne ich den Exodus. Der erste Akt jeder politischen Veränderung, jeder gesellschaftlichen Umwälzung, ist eine kulturelle Veränderung. Die erste Aufgabe ist die Entwicklung dessen, was Felix Guattari die Subjektivität nannte: Die Herstellung neuer Formen der Geselligkeit, die weder auf den Warentausch noch auf den Verkauf der Arbeitskraft gegründet sind.

Sie sprechen auch vom Exodus des Kapitals, um anzudeuten, daß sich das Kapital aus seiner Abhängigkeit vom Staat gelöst und der Staat sich in den Dienst der Unternehmen gestellt hat. Muß man dahinter ein "kapitalistisches Hirn" sehen?

Der Sinn dessen, was gegenwärtig vor sich geht, erschließt sich tatsächlich nur, wenn man dahinter einen Akteur vermutet. Wir haben es nicht mit einem Naturprozeß aus heiterem Himmel zu tun. Es handelt sich um ein Gegenprojekt des Kapitals, das seit Anfang der 70er Jahre die Mittel in die Hand bekommen hat, um das rückgängig zu machen, was es immer verabscheut hat: die Macht der Politik über die Ökonomie.

Wie kam das Kapital dazu in die Lage?

Ohne die Informatisierung wäre gar nichts möglich gewesen. Man befand sich in einer Gesellschaft, in der die Energie die Quelle der Produktivität war. Sie mußte in immer größeren Mengen produziert werden. Man ist zu einer Ökonomie übergegangen, die auf Information beruht. Über die Elektronik kann nicht nur Wissen, sondern auch Know-how gespeichert und, wo und wann immer es beliebt, in Bewegung gesetzt werden. Dank der Informationsrevolution wurde es möglich, die Schranken der weltweiten Tauschbewegungen zu durchbrechen und Lohnarbeitmassiv massiv auszumerzen, erst in der Industrie und dann bei den Dienstleistungen. Die Arbeiter hatten ja schon begonnen, im Namen der individuellen Selbstbestimmung über ihr Können, ihre Qualifikation und die Art ihrer Arbeit den Taylorismus zurückzuweisen. Diese Krise ist dadurch überwunden worden, daß dem Arbeiter die Möglichkeit, Wissen zu entwickeln und eine gewisse Autonomie wieder eingeräumt wurde. Zugleich wurde er der permanenten Drohung ausgesetzt, arbeitslos zu werden.

Ihrer Ansicht nach gehen die Abschaffung der Arbeit und die Auflösung des Kapitals Hand in Hand?

Von dem Moment an, in dem das Kapital in seiner Geldform verharrt, weiß es mit dem produzierten Mehrwert nichts mehr anzufangen! Heute versucht das Geld, Geld zu produzieren, ohne sich in Arbeit zu verwandeln.

Besteht nicht eine der radikalsten Veränderungen darin, daß die Information, die Wissenschaft, das Wissen, die Phantasie zum "Lebensnerv" der Produktion und des Reichtums geworden sind?

In den Grundrissen von Marx findet man den entscheidenden Begriff des "allgemeinen Wissens einer Gesellschaft", des général intellect. In Zeiten des Internet, der Kybernetik und Informatik, der Vernetzung alles Wissens, wird vollends sichtbar, daß die Arbeitszeit nicht mehr als Maß der Arbeit, und die Arbeit nicht als Maß des produzierten Reichtums dienen kann, weil die unmittelbare Arbeit zum großen Teil nur noch die materielle Fortsetzung einer immateriellen, intellektuellen Arbeit, der Reflexion, der Verständigung, des Austauschs von Informationen, der Verbreitung von Wissen, kurz, des général intellect, ist. Heute ist im Prinzip möglich, daß die Arbeitskraft eines jeden zu einer phantastischen Entfaltung der Selbsttätigkeit führt und daß der Reichtum nicht mehr in kapitalistischen Unternehmen mit einem fixen Kapital, einer Direktion, Marketing et cetera produziert werden muß. Man muß also Orte zum Leben fordern, um tätig zu werden und sich auszutauschen, wo die Leute sowohl Geselligkeit als auch materiellen und immateriellen Reichtum produzieren können.

Wie soll der Staat daran Interesse finden, das zu fördern?

Er wird es tun müssen, um den Bürgerkrieg und den völligen Zusammenbruch der Gesellschaft zu vermeiden. Das läßt sich an Südamerika, aber auch an den USA oder Großbritannien absehen, wo in einem Drittel der Haushalte niemand mehr eine reguläre Arbeit hat.

Früher haben Sie ein garantiertes Mindesteinkommen immer abgelehnt. Warum schlagen Sie es jetzt vor?

Damals hatte ich den Begriff des général intellect noch nicht in meine Überlegungen einbezogen, die Tatsache also, daß der Erwerb in sich selbst nicht produktiver Fähigkeiten heute die große Quelle der Produktivität ist. Außerdem wird es immer schwieriger, eine meßbare Menge unerläßlicher Arbeit, die alle in einem bestimmten Zeitraum ableisten müssen, festzulegen. Also kann nur ein allgemein und ohne Bedingungen garantiertes Grundeinkommen, das durch ein Arbeitseinkommen aufzustocken ist, dazu anreizen, die professionelle Erwerbsarbeit zugunsten eines vielseitig tätigen Lebens zu reduzieren, und vermeiden, daß man sich auf einem verstopften Arbeitsmarkt schlagen muß, um ein paar Brosamen abzubekommen.

Sie sind darauf gefaßt, daß man diesen Vorschlag utopisch nennt?

Schon heute sind 50 (in manchen Ländern 60) Prozent der Einkommen von jeder Arbeit unabhängige Sozialeinkommen. Das garantierte Mindesteinkommen wird gar nicht zu umgehen sein. Ohne es wird kaum jemand die produzierten Reichtümer kaufen können, weil niemand oder fast niemand bezahlt worden sein wird, um sie zu produzieren. Die Forderung nach einem ausreichenden Grundeinkommen hat schon heute einen, sagen wir, "heuristischen" Wert: Sie zeigt die Richtung, auf die die aktuelle Entwicklung hinsteuert.

Aber wird das nicht zur Arbeitsverweigerung führen? Wer wird da noch "arbeiten gehen" wollen?

Einerseits sagt man, die Arbeit sei eine Quelle der Selbstverwirklichung, der Zufriedenheit, der Identität und sozialen Zugehörigkeit, anderseits sagt man, wenn sie nicht bezahlt werden, werden die Leute nicht mehr arbeiten gehen! Ich für mein Teil bestehe darauf, daß die Arbeit eine Tätigkeit werden soll, auf die man Lust hat und in der man sich entfaltet. Das Ziel einer Grundversorgung ist eine Gesellschaft, in der sich die Notwendigkeit der Arbeit nicht mehr als solche aufzwingt, weil sich alle angeregt und angezogen fühlen durch eine Fülle von künstlerischen, sportlichen, handwerklichen, technischen, wissenschaftlichen, ökologischen Tätigkeiten und den "Reichtum" in diesen Tätigkeiten und darin, sie zu teilen. Ein Schritt in dieser Richtung ist, daß alle ihre Form gelegentlicher oder zeitlich reduzierter Arbeit wählen können und dennoch ein ausreichendes Einkommen zugesichert haben. Das gibt es in Nordeuropa. Letztlich wird die Selbsttätigkeit überwiegen. Die verwendete Zeit ist nicht mehr die Zeit der Verwendung.