"Mal mit, mal ohne Brechstange"

Ein Interview mit Anthony Giddens

Margarete Hasel/Herbert Hönigsberger

Im Oktoberheft hatte Thomas Schmid das Buch Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie besprochen: "Anthony Giddens und sein atemloser Versuch, die Chancen der Zukunft auszuloten". Nun kommt Giddens in einem Gespräch mit Margarete Hasel, Redakteurin der Zeitschrift Mitbestimmung, und Herbert Hoenigsberger, Sozialwissenschaftler in Heidelberg, selbst in der Kommune zu Wort. In einer gekürzten Fassung ist das Gespräch in Mitbestimmung 7-8/97 erschienen. Wir danken für die Möglichkeit, es in ganzer Länge zu veröffentlichen. (Redaktion)

Seit dem Wahlsieg von Tony Blair, gefolgt vom nicht minder spektakulären Wahlsieg Lionel Jospins, sind in Europa nur Spanien und Deutschland ohne sozialistische oder sozialdemokratische Regierungsbeteiligung. Da mag nun wortgewaltig über das Ende der Geschichte, von Zeit, Politik oder der Gewerkschaftsmacht spekuliert werden - das Ende der Sozialdemokratie jedenfalls scheint ferner denn je. Haben wir in Europa eine neue sozialdemokratische Ära vor uns?

Blairs Projekt ist eine Antwort auf den Neoliberalismus: Durch Übernahme einzelner Elemente wird das neoliberale Modell als Ganzes zurückgewiesen. Sein Projekt wurzelt aber auch in der Überzeugung, daß eine Rückkehr zum sozialdemokratischen "Urzustand" nicht möglich ist. Deshalb haben wir alle die wunderbare Aufgabe, Ausschau zu halten nach etwas, das mehr ist als eine bloße Fusion beider Systeme und das adäquat auf die grundlegenden Veränderungen in der Welt reagiert. Diese Veränderungen im Gefolge der Globalisierung, die nicht nur als ein Wettbewerb der Kapitalismen zu verstehen ist, sondern als ein grundlegender Wandlungsprozeß hin zu einer kosmopolitischen Gesellschaft, führen auch zu gewaltigen Veränderungen im Alltagsleben. Veränderte Lebensstile und -formen sind die Folge. Die Sozialdemokratie hingegen ist eng verknüpft mit dem europäischen Nachkriegsprojekt Sozialstaat, der in Deutschland sicherlich anders funktionierte als in Großbritannien - der jeweilige Hintergrund aber ist durchaus vergleichbar. Die große Frage ist jetzt: Können wir Wegbereiter sein für etwas Neues, das jenseits von Neoliberalismus und Nachkriegssozialdemokratie liegt? Die Regierung Blair könnte dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Sie haben die weitverbreitete Rede vom Ende verschiedener Dinge angesprochen: In der Tat weiß im Moment niemand, wohin das derzeitige System führt. Wir kennen zwar die Wurzeln der Veränderungen, aber niemand weiß, wie angemessen auf sie reagiert werden könnte. Diese Suche wird die europäische Landkarte und die Grundlage der EU verändern.

New Labour nennen sich die britischen Wahlsieger und der Name ist Programm, das beispielsweise Frankreichs Sozialisten weit von sich weisen. Straft die Wahl in Frankreich nicht Ihre These Lügen, daß die Sozialdemokratie auf dem Kontinent das Ausmaß der Veränderungen durch die Globalisierungsprozesse noch nicht erfaßt hat?

Es gibt defensive Reaktionen, die zu einem gewissen Grad auch verständlich sind, denn die globalen Veränderungen erschüttern die Klassenstruktur, sie vergrößern die Ungleichheit, sie produzieren Unsicherheit und Beschleunigung. Die Versuchung, sich hier festzubeißen, überrascht nicht. Deshalb schreibe ich in meinem Buch Jenseits von rechts und links, daß der Sozialismus konservativ wird und der Konservatismus radikal. Der gleiche Prozeß jedoch, der die Sozialdemokratie unterhöhlt, zerstört auch die Grundlagen des Konservatismus. Eine seiner Grundlagen war die Idee, daß die Vergangenheit mittels Tradition auch in die Zukunft führt. Die globalen Marktkräfte, die von vielen Konservativen beschworen werden, zerstören jedoch Traditionen, ja, sie zerstören jede Möglichkeit der Konservierung. In der Ökologie-Debatte läßt sich dies gut nachzeichnen. Die politischen Gedankengebäude auf beiden Seiten sind also in der Krise.

Lassen sich aus Ihrer britischen Perspektive soziale Dynamiken identifizieren, die die deutsche Gesellschaft besser als andere in die Lage versetzen, auf die Herausforderungen der Globalisierung zu reagieren? Oder gibt es umgekehrt Hinweise, daß Deutschland eher auf der Verliererseite steht?

Wenn es so etwas wie einen deutschen oder rheinischen Kapitalismus gibt, dann wäre es ein großer Fehler, ihn über Nacht einzureißen, denn gerade ein solches System organisiert Verpflichtungen und langfristige Verbindlichkeiten. Und manches ist fraglos erhaltenswert. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch die neue Realität der Globalisierung zur Kenntnis nehmen - den Skeptikern zum Trotz, die Globalisierung schlicht leugnen. Es handelt sich dabei um einen fundamentalen Prozeß, der erst am Anfang steht. Jede Gesellschaft, jede Ökonomie muß sich ihm anpassen. Alles wird kräftig durchgeschüttelt, neue Strukturen entstehen. Davon bleibt weder das institutionelle Gefüge des deutschen Modells - mit der Mitbestimmung und einer starken Rolle der Gewerkschaften - noch die Funktionsweise des Arbeitsmarktes unberührt. Das deutsche Modell wie auch der Wohlfahrtsstaat basieren auf einer Art Klassenkompromiß zwischen Kapital und Arbeit. Mitbestimmung, aber auch die Institutionen des Wohlfahrtsstaates garanierten ein fragiles Machtgleichgewicht. In Zeiten der Globalisierung wird das Kapital flüchtig, die internationalen Finanzmärkte übernehmen die Schlüsselrolle, kein Staat, mit Sicherheit aber keine Gewerkschaft ist in der Lage, sie zu kontrollieren. Ob die Europäische Union diese Kräfte bändigen kann, ist fraglich, wirken auf sie doch die gleichen Kräfte wie auf die Mitgliedsstaaten. Auf diese Frage läßt uns die Geschichte mit einer Antwort allein. Hier hilft auch die Marxsche Geschichtsphilosophie nicht weiter.

In Deutschland wird diskutiert, daß sich hochregulierte Gesellschaften - wie die unsrige - besonders schwer tun mit diesen Anpassungsprozessen. Stimmen Sie dem zu?

Das trifft vermutlich zu. Im Unterschied zu Deutschland hat sich in Großbritannien eine gewisse Amerikanisierung vollzogen, etwa in der Arbeitszeitgestaltung, aber auch in der Kommerzialisierung vieler Lebensbereiche. In Deutschland schließen die Läden zu einer bestimmten Zeit und sind am Wochenende dicht. Hier hingegen nimmt die Zahl der Läden zu, die 24 Stunden und sieben Tage die Woche geöffnet haben. Die Gewerkschaften widersetzten sich dieser Entwicklung. Mittelfristig ist es jedoch nicht möglich, diese Kommerzialisierung aufzuhalten. Ich bin kein Befürworter der blinden Übernahme des amerikanischen Systems, wie sie hier durch Thatcher betrieben wurde. Entscheidend wird aber sein, einen gestaltenden Zugang zu den globalen Veränderungen zu finden, nicht nur einen verhindernden. Die bestehenden Institutionen müssen in die Lage versetzt werden, schneller und flexibler zu reagieren, denn vor den reaktionsschnellen Kräften des neuen globalen Kapitalismus gibt es kein Entkommen. Das war anders zu den Zeiten, als die Sozialstaaten und der deutsche Nachkriegskapitalismus sich etablierten.

Nicht nur in Deutschland herrscht eine ideologische Begriffsverwirrung. Die konservative FAZ schimpft die CDU sozialdemokratisch, hängt der SPD das Etikett "strukturkonservativ" an und vermißt bei den Liberalen die Werteorientierung jenseits des Ökonomismus. Auf der anderen Seite wittern Linke gleichermaßen hinter der FAZ wie hinter Ideen der Grünen Neoliberalismus pur. Können Sie Kräfte identifizieren, die die von Ihnen angemahnte positive Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels ernsthaft angehen?

Wir sind in politischen Schlüsselfragen jenseits von rechts und links angekommen. Damit meine ich nicht, daß es zwischen links und rechts keine Unterschiede mehr gibt. Ungleichheit muß bekämpft werden: Von dieser Idee sind Linke nach wie vor ebenso überzeugt wie davon, daß der Staat ein wichtiges Instrument in diesem Kampf ist. In bezug auf die Globalisierung als solche oder damit eng verknüpfte Aspekte - wie die Veränderungen der Familienstrukturen - gibt es keine einfache Rechts-links-Unterscheidung mehr. Dadurch entsteht ein neues Koordinatensystem für die Politik: Dessen Mittelpunkt nenne ich "radikale Mitte". Tony Blair hat den Nachweis geliefert, daß eine radikale Politik quer zu den traditionellen Klassenlinien mehrheitsfähig sein kann. Manche halten ihn für einen Konservativen, er ist jedoch dabei, einen neuen gesellschaftlichen Konsens der radikalen Mitte aufzubauen. Dieser Konsens nimmt das Problem der Ungleichheit ernst, verbindet es aber mit der Wettbewerbsfähigkeit auf globalen Märkten als Voraussetzung für Wohlstand und Vollbeschäftigung. Die alten sozialdemokratischen Parteien müssen also ihre Positionen überdenken.

Ein ehemaliger Vorsitzender der IG Metall hat einmal Gewerkschaften als "das Stärkste" beschrieben, das die Schwachen haben. Im Vergleich zu anderen Industrieländern spielen sie in Deutschland noch immer eine gewichtige Rolle. Warum also sollten sie sich verändern? Andrerseits repräsentieren sie einen zunehmend kleineren Ausschnitt der Arbeitnehmerschaft. Wenn sie sich also doch verändern müssen, in welche Richtung denn?

Wichtig ist, daß Deutschland auch künftig neoliberale Experimente vermeidet. Gewerkschaften müssen beim Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft eine führende Rolle spielen. In Großbritannien wurden die Gewerkschaften durch die ständigen Attacken der Neoliberalen in eine extreme Verteidigungshaltung gedrängt, die Zahl ihrer Mitglieder schrumpfte. Das ist keine gesunde Situation. Gewerkschaften müssen versuchen, Wegbereiter für Antworten auf die globalen Veränderungen zu sein. Dafür müssen sie die veränderte Realität erst einmal zur Kenntnis nehmen, was natürlich unbequem ist. Aber sie könnten die Motoren für Lösungen sein - weil in Europa und auf der ganzen Welt heftig nach Antworten gesucht wird: Was ist Arbeit? Ist Arbeit leichter umzuverteilen als Einkommen? Welche Folgen hat dies für Ungleichheit? Die Antworten auf diese Fragen ergeben neue Schnittmengen zur Diskussion um neue Familienstrukturen, zum Stellenwert der Arbeit im Leben des einzelnen und zum Verhältnis bezahlter zu unbezahlter Arbeit. Es gibt "Zeitpioniere", die ihr Leben flexibler einrichten wollen, Frauen profitieren von Teilzeitarbeit, wie übrigens auch einige Männer. Dies alles sind Facetten, die in einem neuen inneren Zusammenhang gesehen werden müssen. In Deutschland habt Ihr dazu gute Voraussetzungen, wenn die Gewerkschaften bereit sind, eine aktive Rolle zu übernehmen. Eine rein defensive Haltung wäre jedenfalls gefährlich, denn unter den geballten Angriffen von Markt und Staat würde die Macht der Gewerkschaften schwinden.

Ein heftig diskutierter Vorschlag von Gewerkschaftsseite war das "Bündnis für Arbeit". Ist ein solcher Ansatz ein letztes Aufbäumen einer in die Defensive geratenen Arbeitnehmerorganisation oder reichen solche Konzepte offensiv in die Zukunft?

Das hängt davon ab, wie sie konzipiert und organisiert sind. Wir wissen aber nicht, und niemand weiß es, wie neue, anständig bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden können. Wir wissen nur, wie durch Flexibilisierung der Arbeitsmärkte Jobs geschaffen werden können. Wer alles den Marktgesetzen überläßt, kann eine Menge Teilzeitjobs im Dienstleistungssektor schaffen. Und wenn man dies wie in den USA mit High-Tech-Industrien kombiniert, entsteht eine Gesellschaft, die auf den ersten Blick "vollbeschäftigt" scheint. Aber die Dinge liegen komplizierter. Denn noch steht der Nachweis aus, daß eine moderne globalisierte Wirtschaft in der Lage ist, dauerhaft eine ausreichende Zahl annehmbarer Jobs zu schaffen. Diskutiert werden allenfalls zwei Szenarien: das orthodox-neoliberale Szenario, das die Entwicklung dem Markt überläßt, und das andere, in dem die Kombination aus globalen Märkten und neuen Technologien eher zu einer Jobvernichtung führt, die in letzter Konsequenz das Ende der Arbeit bedeutet. Selbst die Zunft der Ökonomen ist sich nicht einig, welches dieser Szenarien näher an der Wahrheit liegt. Aber weil die Rolle der Arbeit einem grundlegenden Wandel unterzogen ist, reicht es nicht aus, nur über mehr Beschäftigung zu reden. Die Gewerkschaften müssen sich deshalb mit großem Nachdruck in die Debatte um die Zukunft der Arbeit mit all ihren Auswirkungen auf die Familienstrukturen, auf die junge Generation und auf das Verhältnis zwischen den Generationen einmischen.

Als die deutschen Grünen vor 15 Jahren die Diskussion über die Rolle der Arbeit losgetreten haben, waren sie sehr weitsichtig. Ihre Ideen, so wirklichkeitsfern und vernachlässigbar sie damals gewirkt haben mögen, zielten auf den Kern der Probleme. Als erste europäische Partei von Rang waren sie bahnbrechend für diese Debatte. Man könnte zusammenfassen: Während die Diskussion um die Auswirkungen der Globalisierung erst allmählich Deutschland erreicht, kommt die Debatte um die Zukunft der Arbeit mit 15jähriger Verspätung jetzt in Großbritannien an.

Unlängst gingen die Bewohner des Ruhrgebiets auf die Straße. Zum einen demonstrierten Tausende Bergarbeiter vor dem Kanzleramt in Bonn gegen Subventionskürzungen und für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Zum andern wurden in Gelsenkirchen und in Dortmund die Siege im UEFA-Cup und in der Champions League gefeiert. Gemeinsam war beiden Ereignissen, daß die Menschen jedesmal auch den "Ruhrpott, Ruhrpott" zelebrierten. Was bedeuten solche regionalen Phänomene?

Das erste Ereignis läßt sich interpretieren als eine äußerst defensive Reaktion auf den Anpassungsdruck, der von den neuen globalen Umständen ausgeht. Und in solchen Siegesfeiern kann auch eine eher unangenehme Form von Fremdenfeindlichkeit zum Ausdruck kommen, wie sie immer mal wieder Fußballspiele begleiten. Aber man kann beides auch positiv sehen: Die Bergarbeiterdemonstration unterstreicht die Notwendigkeit, daß die Anpassungsprozesse, die die globalen Kräfte uns aufdrücken, kontrolliert ablaufen müssen und nicht nur den Marktkräften überlassen bleiben dürfen. Und die Demonstrationen der Fußballfans können als Teil einer vergleichsweise friedlichen neuen kosmopolitischen Kultur verstanden werden. Denn Globalisierung ist nicht nur ein ökonomisches Phänomen. Auch die kulturellen und die Gruppenidentitäten sind im Umbruch. Das kann zu einer Rückbesinnung auf Traditionen führen, aber auch zum Bruch mit ihnen. Vielfach sind neue Formen von Lokalpatriotismus oder von lokalem Nationalismus zu beobachten. Was sie bedeuten, hängt von den Intentionen und Gefühlen der beteiligten Menschen ab. Es droht auch die Le-Pen-Mischung...

... Weit und breit war kein Le Pen in Sicht ...

Gleichwohl besteht die Gefahr, daß sich die Forderung nach ökonomischem Protektionismus paart mit fremdenfeidlichem Nationalismus.

Die Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet liegt ungefähr im deutschen Durchschnitt und damit vergleichsweise hoch. Claus Koch, Sozialwissenschaftler, vertritt mit Nachdruck die These: Ohne eine Lösung der Massenarbeitslosigkeit hat auch die Demokratie keine Zukunft. Hat er recht?

Natürlich wünscht jeder eine Lösung dieses Problems, und es ist recht einfach, die Forderung nach Überwindung der Massenarbeitslosigkeit zu erheben. Nur: Wie soll das gehen? Die Neoliberalen wollen alles dem Markt überlassen. Aber wir müssen über die Beziehung von Arbeit, Familie und Generationen neu nachdenken, auch über das Verhältnis von Alt und Jung sowie Mann und Frau und über die Verteilung von Arbeit in der Gesellschaft insgesamt. Diese Verteilungsfrage ist für mich der Schlüssel zur Ungleichheit, mehr jedenfalls als die Verteilungsungerechtigkeiten, die im Finanz- oder im Sozialsystem angelegt sind.

Beim zweiten Teil Ihres Zitates handelt es sich eher um einen Slogan als um eine realistische Einsicht. Auf der einen Seite hat sich die parlamentarische Demokratie im Umgang mit den Motoren der Globalisierung als unzulänglich erwiesen. Auf der anderen Seite hat sie sich zu einem Referenzmodell entwickelt, das weltweit Gültigkeit hat. Es gibt keine Alternative zu einem demokratischeren Europa - wir brauchen aber auch mehr Demokratie auf der lokalen Ebene. Denn Demokratie ist mehr: Auch der Sozialstaat ist strukturell nicht darauf ausgelegt, die Menschen, die etwas von ihm wollen, als gleichberechtigte Subjekte zu behandeln. Jeder, der einmal in einer Warteschlange auf dem Arbeits- oder dem Sozialamt stand, weiß, wie erniedrigend dies ist. Deshalb muß Demokratie verstärkt auch die verschiedenen Bereiche des Alltagslebens, die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern erfassen. Ich nenne dies "Demokratie der Emotionen". In diesem Demokratisierungsprozeß spielt der Stellenwert der Berufstätigkeit allerdings eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Der demographische Wandel und die prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt drücken auf den deutschen Sozialstaat, der zudem mit seinem großen Versprechen gescheitert ist, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Im Gegenteil: Die Mechanismen tragen zu einer Verteilungsschieflage zwischen den Generationen bei. Welche Tabus müssen geopfert werden, um den Sozialstaat zukunftstauglich machen zu können?

Man muß ihn verteidigen und gleichzeitig die Notwendigkeit seiner Veränderung anerkennen. Er ist Druck von zwei Seiten ausgesetzt: Der konstitutive Klassenkompromiß ist angesichts der Fluchtmöglichkeiten des Kapitals in Auflösung, das wirkt sich zumindest mittelfristig auf die materielle Ausstattung des Sozialstaats aus. Druck geht aber auch aus von den veränderten Lebensstilen, mit denen sich die Menschen in der globalen Informationsgesellschaft einrichten. Und anders als die Linke glauben wollte, war der Sozialstaat weniger ein Umverteilungsinstrument als ein Instrument, den Schutz vor äußeren Risiken zu organisieren, denen sich die Menschen passiv, ja, schicksalhaft ausgesetzt sahen. Eine ähnlich passive Rolle spielten sie dann als "Leistungsempfänger": Wer krank wird, dem greift der Staat unter die Arme. So hat der Sozialstaat Mechanismen entwickelt, die eine "Kultur der Abhängigkeit" fördern. Und Abhängigkeit ist eine psychologische Grundhaltung, die verhindert, sich in der Welt von heute zurechtzufinden. In einer offeneren, Aktivität fordernden Welt dagegen, mit vielen Informationsquellen, kommen alle ständig in Kontakt, beispielsweise mit Informationen über gesunde Lebensweise, über die Folgen von falscher Ernährung, zuviel Alkohol und Rauchen. Das sind nicht länger nur äußere Risiken. Und darauf muß sich auch der Sozialstaat einstellen. Dabei geht es auch hier nicht um Amerikanisierung pur, sondern um neue Formen individueller und kollektiver Verantwortung. Der herkömmliche Sozialstaat basiert auf der Annahme kollektiver Verantwortung für individuelles Wohlergehen. Jetzt ist ein partnerschaftlicher Ansatz gefragt; individuelle Verantwortungsbereitschaft muß die kollektive Verantwortung ergänzen. Auf der Ebene der Institutionen geht es um neue Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlich und privat organisierten Versicherungen. Dieser Ansatz könnte sich in eine stärker ökologisch ausgerichtete Beziehung zwischen dem einzelnen und seinem Lebensumfeld einfügen.

Kapitalismus gegen Kapitalismus - Entfaltung der Marktkräfte gegen den Sozialstaat. Ist das der neue Systemkonflikt der heraufdämmernden Epoche der Globalisierung? Braucht es Thatcherismus, ehe New Labour oder eine neue Sozialdemokratie den neuen gesellschaftlichen Kompromiß formulieren kann oder läßt sich die erforderliche Dynamik auch ohne Brechstange erzeugen?

Für eine ganze Reihe von Veränderungen ist die Brechstange nicht erforderlich, bei anderen, fürchte ich, kommt man ohne sie nicht aus. Im Grunde genommen aber halten wir Ausschau nach etwas jenseits des Kapitalismus, es geht nicht nur um einen Wettlauf verschiedener Kapitalismen. Das mag zwar im Augenblick der Fall sein, denn vieles, was Marx über den Kapitalismus geschrieben hat, trifft zu: Dieses wechselhafte, instabile System findet keine Ruhe. Über ein gewisses Niveau hinaus kann sich die Welt letztendlich aber mit diesem System nicht arrangieren. Jeder kann mit Händen greifen, daß der Kapitalismus zu viel und zu wenig produziert. Auch wenn es unsere Gewohnheiten zerstören sollte - es muß etwas jenseits des Kapitalismus geben, das ich als eine neue Form der Modernisierung beschreiben möchte, die sich von der Modernisierung durch unkontrollierte Markt- und Technologieentfaltung unterscheidet. Diese Modernisierung erkennt die Schwierigkeiten, die der Markt produziert, nimmt die Grenzen des Marktes wahr und weiß um die Probleme, die ungezügelter technischer Wandel mit sich bringt. Das muß nicht in einer überregulierten Gesellschaft enden, sondern in einer Gesellschaft, die sich auf ihr gemäße Ziele verständigt hat: eine Gesellschaft des permanenten Wandels, die aber auch Kontinuitäten und Sicherheiten braucht, um sich in dieser wechselhaften Welt zurechtzufinden. Danach halten die radikalen Köpfe unserer Zeit Ausschau. Das ist keineswegs Ausdruck eines speziellen linken Radikalismus, sondern Ausdruck des Radikalismus unserer Zeit. Der Marxismus ist tot, aber dieses politische Projekt nicht. Es liegt in der Luft. Wir haben es Tag für Tag vor Augen.