Mobilität und Verkehr in Ostdeutschland

Auflösung der Städte, Verflüssigung der Lebensstile, Freiheit statt Planung1

Markus Hesse

Mobilität und Verkehr in den neuen Bundesländern sind seit 1990 durch sprunghafte Veränderungen gekennzeichnet. Diese Entwicklung folgt im Grunde aber einem langfristigen Trend: Seit den 70er Jahren wächst der Verkehr, steigt die Bedeutung des Kfz. Unser Autor skizziert nach eingehender Analyse Möglichkeiten einer Trendumkehr.

Der Motorisierungsgrad hat sich seit der Wende extrem schnell an westdeutsche Verhältnisse angepaßt und gibt insofern ein treffendes – bisher womöglich einmaliges – Beispiel für die gelungene Angleichung von Lebensverhältnissen in Ost und West (siehe etwa das Beispiel Cottbus in Abb. 1).2 Obwohl die Motorisierung der Haushalte nach 1989 sprunghaft angestiegen ist, stellt diese Entwicklung gleichzeitig auch die Fortführung eines Kontinuums dar, das in der DDR bereits seit den 70er Jahren erkennbar war. Unter der Voraussetzung eines offenen, funktionierenden Marktes für Kraftfahrzeuge und unter vergleichbaren Kaufkraftbedingungen wäre die Motorisierung in beiden Teilen Deutschlands sicher annähernd gleich hoch gewesen.3

Bemerkenswerter noch als die Entwicklung der Kfz-Bestände sind aus Sicht der Raumforschung deutliche Veränderungen in der individuellen Mobilität. Dazu sei beispielhaft auf einige empirische Daten verwiesen, insbesondere basierend auf den Ergebnissen des Systems der repräsentativen Verkehrsbefragungen (SrV). Die im Personenverkehr der Stadt Cottbus täglich zurückgelegten Distanzen stiegen zwischen 1972 und 1998 von 12 auf 24 Kilometer pro Person (s. Abb. 2). Während die Zahl der Aktivitäten beziehungsweise Wege sowie der dabei durchschnittlich erforderliche Zeitaufwand nur geringfügig gestiegen sind, haben sich die Entfernungen stark vergrößert, steigt der gesamte tägliche Zeitaufwand, um Arbeitsplatz, Einkaufsort oder Freizeitstätten zu erreichen. Dies geht vor allem auf die Vergrößerung der Aktionsradien der Menschen zurück, das heißt, die Quellen und Ziele der jeweiligen Aktivitäten fallen räumlich und zeitlich immer weiter auseinander.4

Diese Entwicklung des "Verkehrsumfeldes" bleibt nicht ohne Folgen für die Verkehrsmittelwahl, denn wachsende Distanzen und komplexe Raum-Zeit-Muster stärken den Trend zum schnellen, flexiblen Individualverkehr. Der Anteil des Kfz-Verkehrs am Gesamtverkehr in Cottbus stieg zwischen 1972 und 1998 von 13,5 auf 46,5 Prozent, der Anteil des sogenannten Umweltverbundes (Fußwege, Fahrrad, ÖPNV) sank von 86,5 auf 53,5 Prozent. In der "Nahverkehrsstadt" Halle hat sich der Anteil von Bus und Straßenbahn an den werktäglichen innerstädtischen Wegen seit 1982 nahezu halbiert, der des Pkw fast verdreifacht – obwohl der öffentliche Verkehr sowohl vor der Wende wie auch seitdem im Mittelpunkt der Stadt- und Verkehrsplanung gestanden hat (s. Abb. 3). Entsprechende Entwicklungen aus anderen Städten ließen sich hier nahtlos einfügen.

Raumbilder

Der skizzierte Wandel in Mobilität und Verkehr hat nicht nur mit individueller Fortbewegung von A nach B zu tun (und geht insofern auf Faktoren wie die Angebotsqualität der Verkehrsträger, unterschiedliche Reisezeiten, Transportpreise et cetera zurück), sondern spiegelt in zunehmendem Maße die Entwicklung und Überformung der Kulturlandschaft wider. Veränderte Moblitätsmuster sind Ausdruck tiefgreifender sozialräumlicher Veränderungen, und diese bringen umgekehrt auch neue Anforderungen an die räumliche Mobilität mit sich. Dieser Wirkungszusammenhang läßt sich nur vor dem Hintergrund einer übergreifenden Perspektive und unter Einbezug der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen des Verkehrs richtig verstehen und interpretieren.

Wie stark der gesellschaftliche Stellenwert von Mobilität und Verkehr in den letzten Jahren gestiegen ist und wie dieser Wandel in den Stadträumen sichtbar wird, sollen drei Beispiele illustrieren. Sie können, dem Blickwinkel der raumwissenschaftlichen Forschung folgend, auch als "Raumbilder" bezeichnet werden:

-- neuen Gewerbegebiete an den Rändern der Städte bestehen zu einem Großteil aus der "Ökonomie des Autos". Viele Betriebe verdienen ihr Geld mit der Organisation von Erwerb, Nutzung/Unterhaltung sowie Entsorgung von Kfz: Tankstellen, Autowaschanlagen, Kfz-Handel, -Reparaturwerkstatt, -Teilehandel. Läßt man diese Unternehmen einmal außer acht, dann bleibt oft nur wenig ökonomische Substanz übrig.

-- Einkaufszentrum ("Shopping Mall") bildet zunehmend den ökonomischen und kulturellen Kristallisationspunkt eines konsum- und mobilitätsgeprägten Lebens. Dieses organisiert sich in hohem Maße über den Pkw-Verkehr. Anteile des Pkw an den Kundenverkehren von über 90% sind an vielen nicht-integrierten Standorten des Einzelhandels keine Seltenheit.

-- Tankstelle dient nicht mehr nur zum Betanken von Pkw, sondern hat zunehmend auch sozialräumliche Funktionen. Sie ersetzt vielerorts den Einzelhandel und ist Treffpunkt.5

Jenseits der spezifischen Bedingungen des Transformationsprozesses in Ostdeutschland gibt es weiterhin Anzeichen einer umfassenden "Kulturalisierung" des Autos: Gemeint sind hier die themenbezogenen Events oder Erlebnisparks, mit denen Automobilkonzerne gegenwärtig nicht nur das Produkt Auto, sondern auch sein sozio-kulturelles Umfeld inszenieren. Bei Volkswagen geschieht dies mit dem bezeichnenderweise "AUTOSTADT" getauften Expo-Projekt auf dem Werksgelände in Wolfsburg (Investitionsvolumen: 800 Mio. DM); die Adam Opel AG hat in Rüsselsheim kürzlich den Erlebnispark "Opel Live" für das allgemeine Publikum eröffnet. Diese Art von Inszenierung betrifft mittlerweile auch den Produktionsprozeß selbst, wie die von VW geplante sogenannte "Gläserne Manufaktur" zur Endfertigung von Luxusautomobilen in der Dresdner Innenstadt zeigt.

Diese Bilder symbolisieren einen tiefgreifenden Wandel unserer Lebenswelt, in der sich individuelle und gesellschaftliche Trends offenbar verstärkt um räumliche Mobilität und das Auto herumgruppieren. Versucht man diese Ursachen des Verkehrswachstums zu verstehen und nachzuvollziehen, dann rücken komplexe Raum-Zeit-Muster in den Blick. Sie wirken im doppelten Wortsinn als "driving forces" der Siedlungs- und Verkehrsentwicklung. Sie wurden gerade in der Phase der rapiden "Mobilisierung" Ostdeutschlands seit der Wende stark vernachlässigt. Es ist kein Zufall, daß die verdienstvolle sozialwissenschaftliche Arbeit der Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels (KSPW) ohne jede vertiefende Auseinandersetzung mit räumlicher Mobilität und Verkehr blieb (was bisher offenbar niemand als relevantes Defizit betrachtet hat). Diese Prozesse verdienen jedoch aus der Sicht der Raumwissenschaft eine besondere Beachtung in Forschung und Planung.

"Auflösung der Städte" 6

Eine zentrale Bestimmungsgröße der Verkehrsentwicklung Ostdeutschlands ist die Stadtentwicklung, denn hier wird der äußere Rahmen für Erreichbarkeit und Mobilität gesetzt. Die Revitalisierung der Innenstädte hat zwar vielfach Fortschritte gemacht, die Innenentwicklung läuft jedoch der sich dynamisch vollziehenden Suburbanisierung weiter hinterher. Dem großflächigen Einzelhandel sind Gewerbe und Dienstleister an den Stadtrand und in das Umland gefolgt; nun kommt es verstärkt zur Abwanderung des Wohnens (vgl. Hesse/Schmitz 1998). In den ostdeutschen Ländern ist dabei ein vom Westen abweichender, "exogen" gespeister Suburbanisierungstypus zu beobachten, der stark von ortsfremden Kapitalverwertungsstrategien (Handel, Immobilien) und direkter politischer Intervention (Gewährung von Steuervergünstigungen) bestimmt war. Sein Resultat: Kleinräumige Beziehungen werden durch grobmaschigere Netze ersetzt, mit Zunahme der Distanzen verändern sich Raum-Zeit-Muster und Verkehrsmittelwahl. Mit Blick auf die Entstehungsbedingungen von Verkehr wird dadurch eine verhängnisvolle Spiralendynamik in Gang gesetzt, bei der neue Flächennutzungen, die erweiterte Verkehrsinfrastruktur und neue Mobilitätsmuster sich mit dem Resultat gegenseitigen Wachstums selbstverstärkend "füttern".

Während die politisch induzierten Effekte der Speckwürfel-Suburbanisierung mit Auslaufen der Sonderabschreibungen an Bedeutung verlieren und sich diese Entwicklung insofern schon kurzfristig normalisiert, wird die Randwanderung der Wohnbevölkerung als Teil der Suburbanisierung hier auf Dauer eine zentrale Rolle spielen. Die residentielle Mobilität von Haushalten verlagert sich vor dem Hintergrund niedrigerer Bodenpreise, guter Verkehrserschließung und ausdifferenzierter individueller Wohnwünsche vorrangig in disperse Räume zwischen den Verkehrsachsen und in größerer Distanz zur Kernstadt; Analoges gilt für Standortentscheidungen der Betriebe. In Abhängigkeit von der individuellen Motorisierung und der Verfügbarkeit des Pkw entwickelt sich die Bereitschaft zu einer mehr oder minder verkehrsaufwendigen Alltagsorganisation. Während der Arbeitsplatz vielfach noch in der Stadt verbleibt, verschieben sich die Einkaufs- und Freizeitmobilität räumlich sehr stark. Als Folge der Suburbanisierung entsteht ein konfliktreiches mobilitätsbezogenes Wirkungsschema:

-- Zunahme der Distanzen und komplexere Struktur der Wegeketten,

-- höhere Anteile von Motorisierung und Pkw-Nutzung,7

-- zuehmende Nutzung des in dispersen Räumen benachteiligten NMV/ ÖPNV,

-- zunehmender Stau auf den Zufahrtsstraßen,

-- wachsender Druck auf den Ausbau des Straßennetzes,

-- weitere Entfaltung dieser eigendynamischen "Autoverkehrsspirale".

-- Qualitativ handelt es sich bei suburbanen Verkehrsformen um vielgestaltige Beziehungen, etwa: Pendelbeziehungen der UmlandbewohnerInnen, die in der Kernstadt arbeiten; zentrumsorientierte Versorgungsbeziehungen (Einkaufen in der Stadt); umlandorientierte Entsorgungsbeziehungen (Abfall auf die Deponie); disperse Verflechtungsbeziehungen (Zuliefertransporte, Geschäftsreisen) oder umland- wie stadtorientierte "Freizeitverkehre" (über die die Verkehrswissenschaft in den letzten Jahrzehnten kaum mehr als Halbwissen produziert hat). In Abhängigkeit von der raumstrukturellen Entwicklung gewinnen dabei interne Verflechtungen in den Außenbereichen (z.B. Tangentialverkehre) an Gewicht gegenüber den früher dominierenden radialen Verkehrsströmen (vgl. Universität Rostock 1995). Quantitative Daten zum Umfang dieser Entwicklung und ihre Bedeutung im Vergleich zum Verkehr in der Kernstadt liegen aber bisher kaum vor. Kutter und Stein (1998, S. 57) haben am Beispiel der Region Dresden-Oberer Elbraum den Anteil des Binnenverkehrs (in der Kernstadt) mit 38 Prozent des Personen- und 34 Prozent des Güterverkehrs angesetzt; der Rest verteilt sich zu 27 Prozent des Personen- und 25 Prozent des Güterverkehrs auf die Achsen und zu 33 Prozent (Güterverkehr: 41%) auf das disperse Umland. Ausgehend von der Mobilität in der Kernstadt, die bisher im Zentrum von Forschung und Planung stand, sind insofern erhebliche räumliche Verschiebungen feststellbar.

Mit den sich an der Peripherie herausbildenden neuen Raum-Zeit-Strukturen, die grundsätzlich sowohl Ausdruck als auch Voraussetzung der raum- und siedlungsstrukturellen Entwicklung sind (die individuellen, sozialen und kulturellen Dispositionen sind auf ähnliche Weise mit der Mobilität rückgekoppelt, s.u.), werden sowohl die Ziele der gegenwärtigen Stadtpolitik als auch der Verkehrsentwicklungsplanung konterkariert. Der Pkw-Verkehr kann in diesen Räumen seine systembedingten Vorteile nahezu idealtypisch ausspielen, ohne daß es zunächst zu den sonst im städtischen Raum typischen Restriktionen (Staus, Zeitverluste, Parkplatzmangel) kommt. Sind die Möglichkeiten zur Anpassung des Straßennetzes an diese Entwicklung begrenzt, steigt allerdings auch schnell der Druck im Gefäß ... Umgekehrt hat der klassische öffentliche Nahverkehr in der dispersen Stadtlandschaft kaum eine Chance auf steigende Verkehrsanteile. Er spiegelt in gewisser Weise noch die Raum-Zeit-Beziehungen der industriegesellschaftlichen (Kern-)Stadt wider; das ÖV-System ist auf die neuen peripheren und flexiblen Konstellationen räumlicher Mobilität bei weitem nicht eingerichtet (vgl. Heinze/Kill 1992).

"Verflüssigung der Lebensstile"

Durch das Wachstum der Siedlungsräume werden die tradierten Raum-Zeit-Muster zweifellos erheblich überformt. Das Verkehrswachstum läßt sich aber nicht allein mit der Tendenz zur "Auflösung" der Städte erklären. Auch die individuellen Handlungsmuster vieler (wenn auch bei weitem nicht aller) Menschen haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Dazu tragen veränderte Lebensweisen (Familienorganisation, Wohnformen), neue Arbeitsmuster und -zeiten, Erwerbslosigkeit oder eine stark veränderte Freizeitorganisation bei. Das Spektrum beruflicher und privater Tätigkeiten hat sich erheblich erweitert, nicht nur bei Jugendlichen oder Senioren. Gleichzeitig werden die persönlichen Aktionsräume ausgedehnt, viele Beziehungen über größere Distanzen organisiert. Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt fördern die Pendlermobilität ebenso wie staatliche Prämien zum Führerscheinerwerb. Berufstätigen Paaren gelingt es nur selten, einen der jeweiligen Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz am gleichen Ort zu finden. Konsequenz: exzessives Fernpendeln. Auch die Tatsache, daß viele Menschen mehrere Wohnsitze haben oder zumindest ein Wochenendhaus nutzen, läßt den Mobilitätsdruck steigen. Selbst am unteren Ende der gesellschaftlichen Wohlstandsskala, bei der wachsenden Zahl von Marginalisierten und Deprivilegierten in Städten (die gewöhnlich nicht im Blick der Verkehrsforschung stehen), steigt der Bedarf an Beweglichkeit und Erreichbarkeit. Wo flexible Arbeit an mehreren Teilzeit-Orten an die Stelle der traditionellen, früher stark standortgebundenen Fabrikarbeit tritt, ist mit einem weiteren Anstieg von Wegehäufigkeiten und Verkehrsaufwand zu rechnen.8

Verkehr und räumliche Mobilität sind wichtige Werkzeuge dieser Entwicklung, denn sie ermöglichen erst die umfassende Teilhabe an einer komplexer gewordenen Welt. Umgekehrt sind diejenigen Bevölkerungsteile zunehmend ausgeschlossen, die keinen oder einen eingeschränkten Zugang zu Mobilität und Verkehr haben. Dazu gehören ganz erhebliche Teile der Gesellschaft, in Städten und in peripheren Räumen. In einer Stadt wie Berlin, in der 48 Prozent der Haushalte nicht über einen Pkw verfügen, ist davon auszugehen, daß deutlich weniger als die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugriff auf einen Pkw hat. Selbstverständlich ist Mobilität nicht mit Auto-Mobilität gleichzusetzen. Trotzdem sind individuelle Mobilitätsmöglichkeiten und anderes auch in Abhängigkeit von Haushaltsmotorisierung und Pkw-Verfügbarkeit unterschiedlich verteilt. Umgekehrt ist räumliche Mobilität in peripheren Regionen – dies belegen Länder wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern – ohne Kfz kaum sicherzustellen. Dies erklärt die besondere Sensibilität der Gesellschaft gegenüber allen Versuchen, Verkehr (und ggf. auch Mobilität) einzuschränken.

Mobilität und Verkehr sind eng verwoben mit der individuellen Lebensführung und der Organisation von Unternehmen. Mit diesem Tatbestand verbindet sich nicht nur ein Steuerungsproblem (die Menschen handeln anders, als es die Planer gern hätten), sondern es bestehen auch zahlreiche Wissenslücken über den Zusammenhang von individueller Lebensweise und räumlicher Mobilität. In der Verkehrsplanung wird die Mobilität tendenziell aus ihren sozialen und räumlichen Entstehungsbedingungen isoliert, was vor allem der forschungspraktischen Operationalisierung geschuldet ist (das kommt davon, wenn man messen statt erklären will). Mit dieser Reduktion geht jedoch eine erhebliche Simplifizierung des Gegenstandes einher. Statt dessen wäre es notwendig, zu einem besseren Verständnis der relevanten Regelkreise und ihrer Kontexte zu kommen und ihr Zusammenwirken genauer zu beobachten. Dies setzt auch andere methodische Zugänge voraus, vor allem sollte eine umfangreiche, vertiefte qualitative Forschung an die Stelle der empirisch-quantitativ "hochgezüchteten" Verkehrsmodellierung und -simulation treten. Erst auf der Basis eines besseren Verstehens von Mobilität und ihren Umgebungsbedingungen erscheint eine zielgerichtete Steuerung, etwa in Richtung nachhaltige Entwicklung, möglich.

"Freiheit statt Planung": Ost und West9

Stadt- und Verkehrsplanung haben auf den Umbruch nach der Wende zunächst sehr differenziert reagiert. Neben dem Versuch, die stürmische "Mobilisierung" der Gesellschaft durch den Bau von Straßen und Parkplätzen aufzufangen, gab es viele Ansätze einer problembewußten Planung. Ihr Ziel war nicht nur Sicherstellung der Erreichbarkeit, sondern auch städtebauliche Qualität und ökologische Tragfähigkeit, ausdrücklich auch auf dem für die städtische Umwelt erfahrungsgemäß kritischen Gebiet des Verkehrs.

Heute zeigt sich, daß die Planungspraxis das Verkehrsproblem in den meisten Städten nicht "lösen" konnte, in den neuen Bundesländern ebenso wie in den alten. Erst recht sind die ökologischen Folgeprobleme des motorisierten Verkehrs ungelöst, etwa wenn man bestimmte Luftschadstoffemissionen (Rußpartikel, Kohlenwasserstoffe, CO2), den Flächenverbrauch oder die anhaltend hohe Lärmbelastung betrachtet. Darüber hinaus steht der Versuch, den Verkehr an die Stadt anzupassen (und nicht umgekehrt), vielerorts ganz grundsätzlich zur Disposition. Auch hier unterscheiden sich die Städte in Ost und West nur wenig: Der Traum von der "planbaren Mobilität" (B. Ciesla) ist in ganz Deutschland wohl ausgeträumt, Stadtstraßen und Parkraumkapazitäten werden als Mittel der Verkehrspolitik wiederentdeckt.

Diese Entwicklung ist jedoch nicht allein komplexen Realitäten geschuldet, sondern auch der voreiligen Anpassung an die ökonomischen Verhältnisse. Unter dem Druck der schwierigen wirtschaftlichen Situation gerade in den neuen Bundesländern drohen die Ansätze und Erfolge einer behutsamen Stadterneuerung und Verkehrsplanung leichtfertig über Bord geworfen zu werden, ohne daß sich an der materiellen Substanz der Probleme (s.o.) Grundlegendes geändert hätte. Dies bahnt einem einseitigen Begriff von "Freiheit" den Weg (= die Straße), verschenkt politische Gestaltungsspielräume und riskiert eine zukunftssichere Entwicklung der Städte. Der immanente Konflikt zwischen den positiven Wirkungen des Kfz und den mit seiner Nutzung gleichzeitig einhergehenden Belastungen kann mit dieser Hauruck-Mentalität natürlich nicht im Ansatz gelöst werden.

"Fehler der Vergangenheit"?

Dabei geht es an dieser Stelle nicht um die kurz nach der Wende beschworenen vermeintlichen "Fehler der Vergangenheit". Im Zuge der deutschen Vereinigung wurde die Mobilitäts- und Verkehrsentwicklung in Ostdeutschland vielfach als Musterbeispiel betrachtet, nicht zuletzt aufgrund einer um circa 50 Prozent unter den Werten Westdeutschlands liegenden Motorisierung der Haushalte, der hohen Anteile des ÖPNV im Stadtverkehr sowie einer auf den ersten Blick mengenmäßig relativ großen Bedeutung des Schienengüterverkehrs. Diese Sichtweise war jedoch offensichtlich zu kurz gegriffen: Zum einen war sie Resultat einer verzerrten Wahrnehmung der Ursachen dieser Entwicklung, zu denen sowohl die quasi erzwungene Nicht-Motorisierung der Haushalte als auch die tendenziell unwirtschaftliche, stark auf Ressourcenautarkie (Braunkohlestrom) basierende Güterverkehrspolitik gehörten.

Zum anderen wird im Rückblick deutlich, daß die ostdeutschen Städte und Regionen logischerweise nicht Experimentierfeld jener Versuche sein konnten, die schon vorher oder zur gleichen Zeit im Westen gescheitert waren. Die heute gelegentlich aufgeworfene Frage nach den möglichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Motorisierung, Mobilitäts- und Verkehrsentwicklung der neuen und alten Bundesländer ist insofern vermutlich falsch gestellt. Es gibt keine Indizien für einen "Sonderweg" Ostdeutschlands, und allem Anschein nach ist mittelfristig eher von einer Angleichung der Verhältnisse als von Divergenz auszugehen. Die Verkehrs- und Mobilitätsentwicklung differenziert sich weniger nach Ost-West-Koordinaten als vielmehr mit Blick auf regionale Unterschiede: Zwischen den größeren Verdichtungsräumen (neben Berlin vor allem Leipzig, Dresden, Halle, Chemnitz, Schwerin, Rostock, Erfurt und Magdeburg), den zahlreichen kleineren und mittleren Städten sowie den peripheren, im bundesweiten Maßstab extrem dünn besiedelten Regionen vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind vermutlich ganz verschiedene Probleme vorfindbar.

Aus Sicht der Raum- und Gesellschaftswissenschaften läßt sich die Mobilitäts- und Verkehrsentwicklung über das Theorem der allmählichen Mobilisierung durch Modernisierung (und umgekehrt) interpretieren und erklären (vgl. Giddens 1995). Moderne Gesellschaften zeichnen sich in dieser Hinsicht durch eine "Entbettung" oder Loslösung der sozialräumlichen Zusammenhänge vom konkreten Ort aus. Stadtraum, Lebensraum und Wirtschaftsraum sind immer weniger deckungsgleich. Bei wachsenden Freiheitsgraden zumindest eines Teils der Bevölkerung (Einkommen, Freizeit) wird räumliche Mobilität in einem zunehmend ausdifferenzierten Spektrum bei offensichtlich steigenden Aktionsradien praktiziert. Als große Unsicherheit in diesem Szenario verbleibt die absehbar schwierige ökonomische Situation und das Fehlen eines voll ausgeformten Sektors von Erwerbsarbeit in Ostdeutschland. Dieser Sektor stellt sowohl eine einkommensmäßige Voraussetzung von motorisierter Mobilität dar wie auch eine wichtige Bedingung für die ausgeübten Verkehrsaktivitäten (berufliche Mobilität); seine weitere Zukunft ist allerdings nur schwer prognostizierbar.

Konsequenzen

In Ostdeutschland vollzieht sich derzeit ein Wandel zu einem verkehrsintensiven Typus von Stadtentwicklung, in dem Lebensweise, ökonomische Entwicklung und Raumstruktur eng miteinander verkoppelt sind und sich gegenseitig verstärken. Dieser Typus ist sicher in viel größerem Umfang paradigmatisch für die zukünftige Entwicklung in Gesamtdeutschland, als daß umgekehrt von den ostdeutschen Städten per Laborversuch ein Aufbruch zu einer Trendwende hätte ausgehen können. Alle Anzeichen sprechen für weitere Dynamik in der Verkehrsspirale: Verkehr schafft die Bedingungen für mehr Verkehr. Politik, Planung und Forschung haben auf diese Entwicklung bisher keine richtige Antwort gefunden. In der Praxis wurde und wird stark mit Strategien des Kapazitätsausbaus (Netzausweitung) reagiert, was logischerweise eine Zunahme des Verkehrs zur Folge hat. Weitergehende Steuerungsversuche, etwa das in großem Maßstab propagierte Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr, stellen sich aus heutiger Sicht als deutlich unterkomplex dar – gemessen an den raum-zeitlich immer stärker ausdifferenzierten Lebenswelten.

Politik und Planung sollten künftig verstärkt solche Strategien und Konzepte fördern, die dieser Komplexität angemessen sind. Das heißt zunächst: Verkehrsplanung und -politik stehen vor einer Neuausrichtung, die über ihre klassischen Aufgaben (Verkehrswegebau, Verkehrsangebote) hinausführt. Es ist dringend notwendig, ein Sensorium für die vielschichtigen Veränderungen der Gesellschaft zu entwickeln und ein zeitgemäßes Bild von Mobilität und Verkehr zu entwerfen, das Politik und Planung zugrunde gelegt wird.

Dabei ist ein offenkundiger Widerspruch zu bewältigen: Verkehrspolitik und -planung müssen sich auf der einen Seite den veränderten gesellschaftlichen Realitäten stellen, ohne möglichen Illusionen über ihre Steuerung zu erliegen. Wenn es stimmt, daß sich diejenigen Phänomene, die hier mit "Auflösung der Städte" und "Verflüssigung von Lebensstilen" bezeichnet wurden, der Tendenz nach nicht verhindern, sondern nur langfristig gestalten lassen, dann bedürfen diese Prozesse einer angemessenen, strategischen Antwort. Auf der anderen Seite hat die Politik einen Gestaltungsauftrag. Sie kann und soll die Menschen nicht bevormunden, aber private Bedürfnisse sind so lange entschieden gegen die Interessen des Gemeinwohls abzuwägen, wie Mobilität und Verkehr zu erheblichen ungedeckten Folgelasten beitragen.

Einen solchen Politikansatz würde man als "aufgeklärten Realismus" bezeichnen. Er beinhaltet den strategischen Spagat, bis zu einem gewissen Punkt "Frieden" mit dem Automobil zu schließen und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß dieses in seiner Eigendynamik so gezähmt wird, daß es weder die Stadt noch den Verkehr dominiert. Zu einem solchen Politikansatz gehören – auf unterschiedlichen Ebenen – beispielhaft die folgenden Punkte:

-- Als ordnungspolitische Rahmenbedingung: die Internalisierung externer Kosten durch eine schrittweise, kontinuierliche Erhöhung der Energiepreise, um das verlorengegangene Rationalitätsprinzip im Verkehr wieder einzuführen und die Subventionierung "falscher" Immobilien oder exzessiver Mobilität zu stoppen;

in großen Städten und ihrem Umland: die Integration des Verkehrs in die Siedlungsplanung, die auch zur Gestaltung der suburbanen Stadtlandschaften notwendig ist (etwa Stadtentwicklungsplan Verkehr/Planwerk Innenstadt in Berlin: theoretisch positive Ansätze, doch die Fixierung der Planung auf die Kernstadt reicht nicht aus, den selbstgestellten Anspruch einzulösen);

vor allem in peripheren Regionen: die Entwicklung neuer Dienstleistungen für einen flexiblen, "öffentlichen Individualverkehr" als Alternative zum Pkw. Anrufsammeltaxen, Rufbusse und andere moderne Mobilitätsdienste müssen die Lücke zwischen IV und ÖV schließen und durch intelligente, variable Organisationsmodelle ergänzt werden (vgl. die diesbezüglichen Empfehlungen des Forums Zukunft Brandenburg).

Bei der Suche nach konkreten Auswegen aus der skizzierten Eigendynamik der Verkehrsspirale muß jede Stadt und jede Region ihren eigenen Weg gehen. "Rezepte" oder Allheilmittel dagegen gibt es nicht. Sicher scheint aber, daß ein Teil der Probleme des Verkehrswachstums primär nicht vor Ort lösbar ist, sondern übergreifende politische Antworten voraussetzt. Verkehrswachstum kann nicht nur als systembedingtes Phänomen erklärt werden, das sich aus dem Zusammenspiel vieler Einzelfaktoren ergibt, sondern auch als Ausdruck des rationalen Handelns von Unternehmen und Haushalten. Mobilität und Verkehr sind relativ gesehen sehr preiswert, und niemand kann sich ernsthaft über das Wachstum der Siedlungsräume, über verkehrsintensive Lebensstile oder großräumig angelegte Unternehmenskonzepte wundern, solange diese durch einen preiswerten Verkehr erst ermöglicht werden. Eine verkehrssparsame Entwicklung kann umgekehrt vermutlich nur über die angemessene Abbildung von Knappheiten (Straßenraum, Umwelt) gefördert werden.

Fragen an die politische Ökologie

Sind die Konsequenzen, die aus der skizzierten Entwicklung für die Forschung resultieren, leicht absehbar (siehe Kasten), ist ihre politische Verarbeitung ungleich schwieriger. Dies gilt besonders für den ökologischen Diskurs, der für die bündnisgrüne und bürgerbewegte Programmatik Leitfunktion besitzt. Schließlich hat man sich mit guten Gründen das Paradigma der "Verkehrswende" auf die Fahnen geschrieben, und die kritische Kompetenz dieses Spektrums ist allgemein anerkannt.

Doch was tut man, wenn sich die Verhältnisse nicht nach dem Programm richten und der Wende womöglich das gesellschaftliche Fundament fehlt? Das Verkehrsproblem ist ja nicht nur in der Sache, sondern auch politisch kompliziert: Auf mächtige Allianzen kann hier niemand bauen. Nie war die verkehrspolitische "Bewegung" in Deutschland so schwach wie heute. Und die Partei- und Fraktionseliten machen Außen-, Finanz- oder Gesellschaftspolitik. Das Verkehrsthema war noch nie schick; wer hier dicke Bretter bohrt, ist schnell einsam.

Das Dilemma, das der bündnisgrünen Politik nun droht, ist offensichtlich: Bleibt es bei der Forderung nach grundsätzlicher Trendumkehr, steht das grüne Programm löblich, aber weltfremd da, die Partei als Sammelbecken historisch überholter Weltbilder. Kommt die Forderung nach der Trendwende in den Orkus, ist das Echo programmierbar: Wofür stehen die Grünen noch, außer daß sie regierungsamtlich all das toll finden, was ohnehin passiert?

Dieses Dilemma ist kurzfristig nicht auflösbar, zumindest nicht mit einem klaren Votum in diese oder jene Richtung. Die einzige Konsequenz kann nur sein, die anstehende Diskussion zu führen – so offen und selbstkritisch wie möglich, so gelassen wie nötig. Zwar gibt es keinen Grund, Ziele über Bord zu werfen, wenn die Mittel nicht mehr stimmen (insofern haben grundsätzliche Argumente und Begriffe weiterhin ihre Berechtigung). Doch es spricht viel dafür, komplexen Lebenswirklichkeiten und ihren immanenten Zielkonflikten ins Auge zu sehen. Die mobile Gesellschaft muß man annehmen und gleichzeitig mit ihren Grenzen und Widersprüchen konfrontieren.

Dies braucht, wie wir wissen, keine Oberlehrer, sondern den geschärften Blick fürs Wesentliche und fürs Detail: die richtigen Lösungen für einen besseren Verkehr fördern, aber auch ihre Grenzen thematisieren.

Nur mit der Nachhaltigkeit sollte man den Mund nicht zu voll nehmen: Wer neuerdings Mobilität für alle ("access for all") fordert, landet schnell bei solchen Glücksversprechen, die einst den Siegeszug des Automobilismus begründeten. Schließlich gibt es auch vor der eigenen Haustür viel zu kehren: Es ist längst nicht überall Ökologie drin, wo Bahn und ÖPNV drauf steht. Für bleibende Spannung ist also gesorgt.

Schaubilder, Fußnoten und Literatura befinden sich in der gedruckten Ausgabe