Politische Freiheit braucht Bürgeraktivität

Öffentliche Dienste demokratisch organisieren

Willfried Maier

Seit ihrer Gründung haben die Grünen ein ambivalentes Verständnis von "Freiheit". Im Bereich der inneren Sicherheit, der Justiz, in der Drogenpolitik, im Eherecht, im Ausländerrecht vertreten sie libertäre Positionen. Der Einfluß des Staates soll so weit wie möglich zurückgedrängt, die individuelle Entfaltungsmöglichkeit so unbehindert wie möglich bleiben. Grüne Rechtspolitiker beschäftigen sich normalerweise weniger mit dem Verbrechen als mit Übergriffen des Staates bei der Verfolgung von Verbrechen. Das ist die eine, die liberale Fassung des grünen Freiheitsverständnisses.

Soweit sich die Grünen zu Fragen der Umweltpolitik, zur Wirtschafts- und zur Sozialpolitik äußern, klingt die Richtung anders. Da geht es eher um die Einschränkung privater Handlungsmöglichkeiten und um Regulierungen und Steuerungen: vom Straßenverkehr bis zu den internationalen Kapitalmärkten. Beklagt wird dann eher, daß dem Staat die Macht und die Freiheit fehle, um sich gegen "die Wirtschaft" oder die Unvernunft der Autofahrer durchzusetzen.

Diese grüne Ambivalenz in Freiheitsfragen spiegelt eine Problemlage und eine Mentalität wider, die nicht nur für die Grünen charakteristisch ist, sondern für immer größere Teile der Gesellschaft. Es hat in den letzten Jahrzehnten einen massiven Individualisierungsschub gegeben. Familiäre Bindungen haben sich weiter gelockert, traditionelle Milieus aufgelöst, viele Menschen sind zu immer höherer Mobilität gezwungen worden und erfahren sich in der Folge dieser Entwicklungen als freier und unabhängiger. Wahrung und Steigerung dieser individuellen Freiheits- und Unabhängigkeitsempfindung sind zu einem immer stärkeren Motiv in den öffentlichen Äußerungen geworden. - Diese Motivlage wird bedient von den libertär-liberalen Positionen in der grünen Politik.

Gleichzeitig sind dieselben Menschen allerdings immer abhängiger geworden von staatlichen Schutz- und Sicherheitsleistungen. Die Lockerung der familiären Bindungen, die Auflösung von Nachbarschaften und sozialen Milieus erhöhen die Abhängigkeit von sozialen Leistungen, aber auch von ökologischen Regulierungen des Staates. - Dieser Motivlage der Schutz- und Sicherheitsbedürftigkeit des isolierten Individuums versucht die grüne Sozial- und Ökologiepolitik gerecht zu werden, die faktisch hauptsächlich auf den Staat setzt.

Der letztjährige Hannah-Arendt-Preisträger Massimo Cacciari, Philosoph und Bürgermeister von Venedig, charakterisiert den Menschentypus, der durch diese Entwicklung geprägt wird mit Tocqueville als "homo democraticus": "Extremer Individualismus auf allen Ebenen und ein Streben nach vollständiger persönlicher Freiheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein ganz stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit." Die Politik der Grünen kommt dieser Mentalität des "homo democraticus" weit entgegen. Sie teilt aber auch deren Widersprüchlichkeit und ist insofern nicht die Lösung des Problems, sondern seine Bestätigung. Im praktischen Leben führen unaufgelöste oder zumindest nicht behandelte Widersprüche zu einer schwankenden Gangart.

Aktuell ist viel die Rede von der Entmächtigung der Politik, von den Problemen, gegenüber der Wirtschaft noch den Primat der Politik aufrechtzuerhalten. Diese Schwierigkeiten werden meistens erklärt mit den Folgen der sich globalisierenden Ökonomie, mit einer neuen Stufe der Internationalisierung der Kapitalmärkte. Aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Ausschlaggebender dürfte sein, daß politisches Handeln vor dem Hintergrund eines dominanten Sozialcharakters vom Schlage des "homo democraticus" an Kraft verliert.

Die Freiheitsvorstellung, die ihn beherrscht, ist privatistisch: Sie lebt von der Auflösung von Bindungen und im Bild der vollständigen Unabhängigkeit gegenüber Traditionen, Autoritäten und Institutionen, die Ansprüche geltend machen könnten. Das kann zwar das Selbstgefühl des Individuums steigern, macht dieses Individuum aber zugleich machtloser, weil es die spontanen sozialen Bezüge schwächt, in denen es durch Zusammengehen mit anderen Macht entfalten könnte.

Im Beispiel: Der Facharbeiter, der sich im gewerkschaftlichen und politischen Milieu der Arbeiterbewegung verhielt, war vielleicht weniger empfindlich für Fragen des individuellen Selbstausdrucks als seine gebildetere Enkelin im heutigen Angestelltenmilieu. Aber er war zusammen mit seinen Kollegen und Genossen mächtiger auf der politischen Bühne. Die von ihm getragenen Parteien und Verbände erlaubten ein politisches Handeln, das sich wirtschaftlichem Druck unabhängiger gegenüberstellen konnte. Die von ihm mit unterhaltenen Kommunikationsstrukturen in Nachbarschaft und mit eigener Presse erlaubten auch mehr eigenständigen politischen Bewegungsspielraum gegenüber den Medien.

Der "homo democraticus" und die von ihm geprägte Gesellschaft erleiden also einen politischen Machtverlust. Das bringt ihn (und sie) in eine hoch widersprüchliche Lage, weil gleichzeitig seine (und ihre) soziale Schutz- und Sicherheitsbedürftigkeit durch öffentliche Instanzen zunimmt, wozu mehr politische Machtentfaltung nötig wäre.

Wiederum am Beispiel: Heute verkünden die tonangebenden Medien einhellig, daß wir uns den bisherigen Sozialstaat nicht mehr leisten könnten. Das ist eine Botschaft, die der schutzbedürftige Mensch ganz ungern hört und bei ihren Verkündern mit politischen Symphieverlusten bestraft.

Gleichzeitig erklären die Medien, der Umbau der sozialen Sicherungssysteme solle so gestaltet werden, daß darüber die individuellen Wahlmöglichkeiten und damit die Freiheit des einzelnen gesteigert würde. Außerdem würden die Beitragszahlungen geringer. Dieser Teil der Botschaft findet die Zustimmung des auf Freiheit von Abhängigkeiten bedachten Individuums.

Tatsächlich sind es zwei Seiten ein und derselben Botschaft. Und häufig ist es ein und derselbe Mensch, der einmal mit Ablehnung, das andere Mal mit Zustimmung darauf reagiert. - Keine gute Lage, um einen kraftvollen, von vielen getragenen politischen Willen zu bilden. Der "homo democraticus" gerät so in eine Situation konstitutioneller Initiativunfähigkeit, eines ständigen Schwankens der Motive bei gleichzeitiger Unfähigkeit, seine individuelle Absonderung von anderen zu überwinden und sich dauerhaft und wirkungsvoll mit anderen zusammenzuschließen, was ja unabwendbar gegenseitige Abhängigkeiten mit sich bringen würde.

Durch die Vorherrschaft des "homo democraticus" gerät die Gesellschaft in die Lage, sich gegen die alternativlos scheinenden "Sachgesetzlichkeiten" der Wirtschaft und der Technik kaum mehr wehren zu können. Auch das wäre ja eine Form der Tyrannei - wenn auch eine milde -, denn Freiheit braucht Handlungsmöglichkeiten. Diese Handlungsmöglichkeiten schwinden aber, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger der Republik nicht mehr als solche empfinden und für Alternativen des Handelns sich aktiv zusammentun, sondern sich immer stärker als "Kunden" empfinden, die Parteien und Regierungen als Dienstleister wahrnehmen, von denen man angemessene Bedienung erwartet. Damit verliert das Politische als republikanisch verfaßtes Gemeinwesen seine Machtbasis. Die besteht ja gerade darin, daß der Republik nicht einzelne Kunden gegenüberstehen, die ihre Ansprüche geltend machen, sondern daß sie basiert auf dem politischen Willen, der sich in der Öffentlichkeit durch aktive Bürgerinnen und Bürger bildet.

Geht diese Machtbasis der Republik verloren, so verschwindet die politische Freiheit als die Fähigkeit der Gesellschaft, etwas Neues anfangen und ihrem Leben eine veränderte Richtung geben zu können. Das ist vor allem für Parteien fatal, die gerade das für geboten halten, etwa wegen der Bedeutung der ökologischen Frage. Gerade eine Partei wie die Grünen muß jedes Interesse daran haben, daß politische Freiheit existiert im Sinne der Fähigkeit der Gesellschaft, neue Initiativen zu ergreifen und dafür gegenüber dem Selbstlauf der Apparate Macht bilden zu können. Bildung von Macht aus der Gesellschaft aber erfordert in der Gesellschaft und bei den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern die Fähigkeit zum Zusammenschluß.

Diese Fähigkeit aber haben sie gerade nicht als Privatleute und auch nicht als Individuen, die einzeln dem Staat gegenüberstehen und bei jeder Gelegenheit erklären: Das steht mir zu! Dieses Beharren und Bestehen-Auf ist gerade keine politische Initiative. Diejenigen, die so auftreten und darauf beharren, daß ihnen dies oder das zustehe, definieren sich damit selbst als Klientel des Apparats, und sie vereinzeln sich als jeweils Berechtigte. Die Fähigkeit zur politischen Freiheit haben Menschen aber nur, soweit sie in der Lage sind, über gemeinsame öffentliche Angelegenheiten zu reden, zu streiten, sich zu verständigen und sich zu deren Verwirklichung zu vereinigen.

Wenn die Grünen ihre selbstgestellte Aufgabe eines ökologischen Umbaus oder einer ökologischen Modernisierung ernst nehmen, dürfen sie nicht nur demoskopisch fragen: Was an Versprechen kommt bei den Wählern an? Sie müssen sich vielmehr immer zugleich fragen: Wie müssen wir handeln, damit politische Freiheit gegenüber dem Lauf der Dinge gewonnen werden kann? Was müssen wir tun, damit die Fähigkeit der Menschen gestärkt wird, als Bürgerinnen und Bürger gemeinsam zu handeln?

Tocqueville hat diese für demokratische Gesellschaften zentrale Frage anhand seiner Beobachtungen im Neuengland des vergangenen Jahrhunderts erörtert. Seine Grundthese lautet: "Sind die Bürger gezwungen, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen, so werden sie notwendig ihren persönlichen Interessen entzogen und ab und zu aus der Selbstschau herausgerissen."

Um diesen Effekt zu erzielen, hätten die Amerikaner zwei Mittel angewendet:

1. Sie haben "jedem Gebiet sein eigenes politisches Leben gegeben, um die Gelegenheit zu gemeinsamem Handeln der Bürger ins Unabsehbare zu vermehren und diese täglich spüren zu lassen, daß sie voneinander abhängen". - Die Grünen verfolgen das als Grundsatz der Dezentralisierung und sollten daran festhalten, auch wenn ihnen entgegengehalten wird, daß die Rationalität des Verwaltungshandelns größere Einheiten erforderlich mache. Die Betätigung der politischen Freiheit ist wichtiger als reibungslose Verwaltung.

2. "Die Kunst, Vereine zu bilden ... In den demokratischen Ländern ist die Lehre von den Vereinigungen die Grundwissenschaft; von deren Fortschritten hängt der Fortschritt aller anderen ab." Denn nur durch "gegenseitige Wirkung der Menschen aufeinander erneuern sich die Gefühle und die Gedanken, weitet sich das Herz und entfaltet sich der Geist des Menschen". Da aber diese Wechselwirkung der Menschen aufeinander in demokratischen Gesellschaften mit ihrer Tendenz zur Individualisierung so gut wie gar nicht gegeben sei, muß man sie "dort künstlich hervorrufen. Und das können allein die Vereinigungen tun".

Über die Wirkung dieser beiden Mittel urteilte Tocqueville: "Die Amerikaner haben den Individualismus, die Frucht der Gleichheit, durch die Freiheit bekämpft, und sie haben ihn besiegt." Ob er dieses Urteil heute so aufrechterhalten würde, kann man füglich bezweifeln. Wichtig ist aber der Gedanke, daß Freiheit nicht einfach an den Individualismus als Motivationsgrundlage anknüpft, sondern ihm gerade entgegenwirken muß, wenn es politische Freiheit geben soll.

Was können diese Überlegungen für uns heute bedeuten? Wir haben die Vereinigungsfreiheit im Grundgesetz garantiert, die Rede- und die Pressefreiheit, das allgemeine Wahlrecht, die Demonstrationsfreiheit, alle entscheidenden politischen Gestaltungsrechte. Die Grünen wünschen, durch das Recht auf Volksabstimmungen diese politischen Gestaltungsrechte noch zu erweitern. Aber die Garantie dieser Rechte ist nicht identisch mit ihrem Gebrauch. Die politische Freiheit existiert nicht in Form verbriefter Rechte, so wichtig sie sind. Sie existiert immer nur in, in ihrer Ausübung.

Da aber steht es nicht zum besten. Die Redefreiheit wird natürlich auch in Talkshows in Anspruch genommen, aber was ist das für ein Gebrauch? Häufig nichts anderes als eine endlose Veröffentlichung des Privaten und Intimen. Dadurch entsteht kein politischer Raum mit gemeinsamen Angelegenheiten, keine Öffentlichkeit und keine Bürgerinnen und Bürger.

Die Schlüsselfrage zur Verteidigung und zur Ausweitung politischer Freiheit lautet deshalb heute: Wie ist die Bereitschaft und Fähigkeit zu aktiver Bürgerschaft zu stärken, insbesondere die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, Vereinigungen zu bilden, die ihnen in den öffentlichen Angelegenheiten Gewicht geben?

Die Grünen als politische Partei sind ursprünglich hervorgegangen aus Vereinigungen, aus verschiedenen Initiativen und Bewegungen. Die Ausrichtung dieser Initiativen war typischerweise oppositionell. Das machte schon den Übergang in die Parteiform und zur Teilnahme an Parlamentswahlen schwierig. Diese Schwierigkeiten mußten zunehmen mit der Teilnahme an Regierungen. Oppositionelle Initiativen haben zumeist einen so dezidierten Charakter bei der Verfolgung ihrer Ziele, daß sie sich in der Politik einer Regierung, die immer gesamtgesellschaftliche Mehrheiten für ihre Vorhaben im Auge haben muß, nur schwer wiederfinden.

Aber nicht nur die Art der Beziehungen zu den Initiativen und Bewegungen, aus denen die Grünen hervorgegangen sind, hat sich geändert. Anzahl und Größe dieser oppositionellen Initiativen selbst sind erheblich zurückgegangen. Wiederbelebungsversuche sind aussichtslos. Vereinigungen entspringen jeweils besonderen Situationen. Und wenn bestimmte Initiativen schwächer werden, hat sich offenkundig zumindest in der Wahrnehmung der Situation etwas geändert.

Das ändert aber nichts an der grundlegenden Orientierung, daß eine an politischer Freiheit interessierte Partei eine möglichst hohe Zahl aktiver Bürger wollen muß. Und diese Aktivität kann sich nur äußern in der Übernahme öffentlicher Ämter oder in freien Vereinigungen.

Aktuell werden in diesem Zusammenhang vor allem zwei Modelle diskutiert: Einmal die Ausweitung ehrenamtlicher Tätigkeiten, angelehnt an amerikanische Modelle des Volunteering. Zum anderen die Bürgerarbeit, die in vielen Überlegungen bevorzugt adressiert ist an Leute, die keine normale Lohnarbeit gefunden haben.

Beide Modelle sind sozial nicht unschuldig. Die Freiwilligenagenturen werden sich in erster Linie an Mittelschichtangehörige, bevorzugt an Jugendliche und an Rentner wenden. Die gemeinwesenbezogene Bürgerarbeit in Verbindung mit der Sozialhilfe wendet sich an die Unterschicht. Der Übergang zur erzwungenen Gegenleistung für die Sozialhilfe ist zumindest in der Debatte fließend. - Diese Wahrnehmung einer sozialen Differenzierung ist kein ausreichender Grund für eine Ablehnung solcher Modelle. Ganz im Gegenteil. Freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit ist ebenso erwünscht wie gemeinwesenbezogene Bürgerarbeit. Alles das sollte erleichtert werden. Aber es ist vielleicht ein Anlaß über einen breiteren Rahmen nachzudenken, der sozial nicht diskriminiert, sondern für alle geeignet ist und der eine Klammer bilden könnte zur Ermöglichung der verschiedenartigsten Formen freier Zusammenschlüsse.

Ich meine, wir sollten bei einer Institution anknüpfen, deren Reform ohnehin dringlich ist: Bei der Reform der allgemeinen Wehrpflicht und des Zivildienstes. Die Grünen sollten vorschlagen, den verpflichtenden Charakter einer für öffentliche Angelegenheiten einzusetzenden Zeit zu kombinieren mit der Form freier Vereinigung, in der sie organisiert wird. Oder anders ausgedrückt - jede Bürgerin und jeder Bürger sind verpflichtet, sich im Lauf ihres Lebens neun oder zwölf Monate für öffentliche Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen. In welcher Organisation, bei welchem Projekt sie das tun, mit welchem bestimmten Ziel, wählen sie innerhalb eines weit gesteckten Rahmens selber. Die innere Verfassung solcher Organisationen und Projekte soll demokratisch sein und der Selbstorganisation Raum lassen. Welche zeitliche Form gewählt wird - alles an einem Stück, neun Monate in kleineren Portionen oder auch etwa regelmäßige Wochenenddienste - bleibt frei.

Von staatlicher Seite müßte dafür gesorgt werden, daß die Projekte ihre sachliche Ausstattung bekommen und eine dem jetzigen Wehrsold im Gesamtumfang vergleichbare Sicherung des Lebensunterhalts während der Dienstzeit.

Ebenfalls sicherstellen müßte der Staat, daß die Institutionen, die professionell öffentliche Dienste verrichten, die Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Pflegeheime, Gartenbauämter, Entwicklungsdienste, Hilfsorganisationen et cetera sich öffnen für die Mitarbeit nicht-professioneller Bürgerinnen und Bürger. Damit würde gewissermaßen das Milizprinzip auf alle öffentlichen Angelegenheiten angewandt und nicht - wie bisher in der Schweiz etwa - auf das Militär. Es geht dabei um das ganze riesige Feld von Tätigkeiten, bei denen der einzelne auf die Hilfe anderer angewiesen ist und das durch freie Vereinigungen aller Bürgerinnen und Bürger zur öffentlichen Angelegenheit gemacht wird.

Es ist gegen diesen Vorschlag eingewandt worden, freiwillige Vereinigungen seien ja in Ordnung, aber der Zwangscharakter, daß jeder und jede an Bürgertätigkeiten teilnehmen müsse, sei abzulehnen. Dieses Argument ist nicht plausibel. Auch die Steuern sind ein Zwang. Auch dafür muß Lebenszeit in der Arbeit hergegeben werden. Sie wirken dann aber so, daß ein Professioneller an meiner Stelle die öffentliche Tätigkeit verrichtet. Ich muß sie nicht selber tun, sondern werde die öffentliche Verpflichtung gewissermaßen durchs Geldzahlen los. Damit aber auch zugleich die unmittelbare Teilnahme an öffentlichen Tätigkeiten. Ich höre auf, aktiver Bürger zu sein und werde räsonierender Steuerzahler. Der Tendenz nach teile ich dann die Perspektive des Bundes der Steuerzahler, in klassisch/griechischer Benennung die Sicht des Idioten (= Privatmanns). Freilich kann es nicht darum gehen, die Pflicht zum Steuerzahlen abzuschaffen, sondern sie teilweise durch eine gerechtere und aktivierendere Lösung zu ersetzen.

In einer auf Arbeitsteilung basierenden Gesellschaft erscheint die ausschließlich professionelle Erledigung öffentlicher Aufgaben auf den ersten Blick plausibel. Aber auch nur auf den ersten Blick, denn öffentliche Tätigkeiten sind nicht dasselbe wie marktbezogene Warenproduktion. In und mit ihnen wird zugleich die konkrete Gestalt des Gemeinwesens produziert und reproduziert. Sollen die Bürgerinnen und Bürger nicht in einem Meer aus lauter Privatheit versinken, sondern auch am öffentlichen Leben teilnehmen, dann müssen sie sich an dieser Produktion des Gemeinwesens beteiligen. Nur die direkte Beteiligung stärkt ihre Fähigkeit zur Vereinigung und bildet ihre Urteilskraft.

Zudem ist die direkte Beteiligung nicht nur freiheitsfördernder als die indirekte Beteiligung durchs Steuerzahlen. Sie ist auch gerechter. Steuern sind notorisch ungerecht. Der Reiche entledigt sich dieser Pflicht normalerweise leicht und bekommt heute zusätzlich - wegen Wirtschaftsförderung - viele Vergünstigungen. Bei allgemeiner, direkter Teilnahme an öffentlichen Tätigkeiten zahlen tatsächlich alle gleich, mit einem gleichen Stück von Lebenszeit. Und weil diese Verpflichtung an der Staatsbürgerschaft hängt, ist sie auch globalisierungsfest. Mit dem Unternehmen kann ein Manager auf die Bermudas ausweichen, um dort keine Steuern zu zahlen. Die Aufgabe der persönlichen Staatsbürgerschaft und die der Kinder geschieht weniger leicht, und wenn sie vorgenommen wird, dann nicht bevorzugt in die Steueroasen. Vielmehr werden die Leistungen etwa des Bildungswesens, die Sicherheit, die öffentliche Sicherheit in Deutschland auch von reichen Steuersparern gerne in Anspruch genommen.

Es lassen sich noch eine ganze Reihe von Vorteilen aufzeigen, die mit einer solchen Lösung verbunden wären: Genannt sei noch die verbesserte Situation für die Integration von Zuwanderern. Auch für diese würde das Bürgerrecht die Teilnahme an diesen öffentlichen Tätigkeiten nach sich ziehen. Und das ist eine ganz andere Chance auf Integration durch Zusammenarbeit in einer freien Vereinigung als die Integration auf Basis einer Einwanderung in die Sozialhilfe bei Arbeitsverbot.

Daß eine auf diese Weise geförderte vielfältige und freie Projektstruktur auch zugleich ein wesentlich erweitertes und zugleich in der gesellschaftlichen Anerkennung höher gestuftes Feld für freiwillige Tätigkeiten bieten würde, liegt auf der Hand. Da kann es dann tatsächlich eine Alternative sein, im Fall der Arbeitslosigkeit oder der Verrentung eine Tätigkeit freiwillig aufzunehmen, die man früher einmal freiwillig gewählt hat, in der man Erfahrung und Kenntnisse hat, die gesellschaftlich anerkannt ist und für die man ein Zusatzsalär als Anerkennung (nicht als Lohn) bezahlt bekommt.

Meine Argumentation hat sich entwickelt aus der Kritik an der Gestalt des "homo democraticus". Sie zielt darauf, daß die Grünen keine Politik betreiben sollten, die dessen Ansprüche einfach zu bedienen versucht. Sie verwickelten sich dabei nicht nur in die bekannten Widersprüche zwischen Ultraliberalismus und Perfektion des sozialen Sicherungsstrebens. Sie müßten darüber vor allem ihre eigentliche Aufgabe vergessen, etwas Neues anzufangen, die Freiheit für eine ökologische Wende zu erarbeiten. Dazu bedarf es aber der politischen Macht einer republikanisch verfaßten Gesellschaft. Der Typus, der diese Macht bilden kann, ist nur als aktive Bürgerin und aktiver Bürger vorstellbar - als "homo republicanus" oder "homo politicus".

 

Referat zum Forum 3 des Bündnisgrünen Strategiekongresses: "Wieviel Staat? Welche Freiheit? Eigenverantwortung, Bürgergesellschaft, soziale Solidaritäten", am 24. November 1999 in Kassel.