Bekämpfung der Kriminalitätsfurcht und automatisches Strafen

Neue Tendenzen in der Kriminalpolitik

Hendrik Walther

Warum begehen Menschen kriminelle Handlungen, warum gibt es überhaupt Kriminalität? Diese Fragen werden seit langer Zeit gestellt, offensichtlich ohne eine ausreichende Antwort, die dazu führen könnte, die Kriminalität zum Verschwinden zu bringen. Die registrierte Kriminalität jedenfalls nimmt in den meisten westlichen Staaten eher zu oder bleibt zumindest auf konstant hohem Niveau. Außerdem weiß man auch nicht so recht, wie man die verurteilten Tätern dazu bringt, in Zukunft keine weiteren Straftaten zu begehen. Die bisher angewandten Methoden, ob Gefängnisstrafen oder Therapien, sind wenig bis überhaupt nicht erfolgreich und führen zu Rückfallquoten, die auch dann nicht höher wären, wenn nichts unternommen würde.

Kriminologische Versuche, die Entstehung von Kriminalität zu erklären, gibt es wie Sand am Meer: von genetischen Ursachen über die wirtschaftliche und soziale Situation bis hin zur Behauptung, daß es eigentlich gar keine Kriminalität gibt, weil der Staat in seiner Reaktion auf unbotmäßiges Verhalten diese erst herstellt, sind zahlreiche Varianten im Umlauf. Besonders die Genetik spielt in den letzten Jahren wieder eine wichtigere Rolle, spätestens seit die US-amerikanischen Kriminologen James Q. Wilson und Richard J. Herrnstein einen Bestseller über den Zusammenhang zwischen Verbrechen und der menschlichen Natur veröffentlicht haben. Sogar die Verbrecher selbst beginnen, sich auf diesen Umstand zu berufen: Schlagzeilen machte dieses Jahr in den USA der Fall von Stephen "Tony" Mobley, einem wegen Mordes angeklagten und bereits mehrfach vorbestraften 28jährigen in Georgia, der mit der Begründung, seine Gene seien für seine Taten verantwortlich, dem elektrischen Stuhl entgehen wollte.1

Bereits seit den berüchtigten Forschungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, die mit dem Namen Cesare Lombroso verbunden sind und in denen nach den Merkmalen geborener Verbrecher gefahndet wurde, treffen solche und andere Erklärungsansätze, die Kriminalität aus einzelnen Ursachen ableiten wollen, auf durchaus nachvollziehbare Einwände und Kritik: Es erscheint wenig denkbar, daß Menschen aufgrund ihrer genetischen Ausstattung beispielsweise zu Wirtschaftskriminellen oder zu Kriegsverbrechern werden. Außerdem haben die meisten dieser Theorien - zum Beispiel auch diejenigen, die Kriminalität auf Armut und dergleichen zurückführen - die Schwierigkeit, daß sie zu "gut" sind: falls sie zutreffen würden, müßten noch sehr viel mehr Menschen, noch weit über die Dunkelziffer hinaus, kriminell werden und sein.

Im allgemeinen wird heute die eine oder andere Variante einer Mehrfaktorentheorie vertreten: Irgendwie entsteht Kriminalität eben als Ergebnis sehr vieler Einflüsse. Die soziale und wirtschaftliche Situation, die Erziehung und psychische Faktoren sind verantwortlich, selbstverständlich nimmt man auch die Geschlechterdifferenz zur Kenntnis, Krankheiten, auch persönliche und biologische Eigenschaften und Dispositionen sowie die Gelegenheitsstruktur und nicht zuletzt die politischen Verhältnisse und die strafrechtliche Reaktion des Staates auf das Verhalten seiner Bürger sind in diesen Ansätzen immer mit zu beachten.

Die Diskussion um die Gewichtung dieser einzelnen Faktoren wird zwar auf höchstem wissenschaftlichem Niveau geführt, trotzdem bleibt ein fader Beigeschmack: daß alles irgendwie miteinander zusammenhängt und ein komplexes soziales Problem wie Kriminalität sehr schwierig und kompliziert zu erklären ist, hätte man auch ohne die Kriminologie gewußt.

So schafft es die Wissenschaft nicht, der Politik praktikable Lösungsvorschläge im Kampf gegen die Kriminalität zu liefern - was ja im übrigen auch nicht ihre Aufgabe ist. Gerade komplexe Theorien, die alles berücksichtigen, sind schwer umzusetzen; wo soll man auch anfangen, wenn die gesamte Gesellschaft daran schuld ist. Einfache und nachvollziehbare Erklärungen, die sich grundsätzlich leichter in staatliche Maßnahmen integrieren lassen könnten, fehlen zwar nicht, sind aber häufig auch nicht leichter umsetzbar: Selbst die Genetik eignet sich dazu nicht. Es mangelt allein schon an den technischen Möglichkeiten; hätte man eines Tages dann doch die geborenen Verbrecher mittels Kriminalitätsgentests aussortiert, bliebe das Problem, wie mit diesen Menschen weiter umgegangen werden soll. Vorbilder aus der Vergangenheit gibt es genug, allerdings ist das auch ein Grund dafür, daß im Moment jedenfalls nur wenige Politiker ihre Hoffnungen auf solche kriminalbiologische Erkenntnisse setzen.

Wenn also die Wissenschaft keine Lösungen präsentieren kann und es offenkundig keinen Erfolg in der Bekämpfung der Kriminalität gibt - trotz oder gerade wegen Ausweitung der Kompetenzen des Staates, härteren Strafen und verstärkter Überwachung -, dann verlagert man den Kampf auf ein Gebiet, jenes, auf dem er erfolgreich zu sein scheint: das der Kriminalitätsfurcht.

In den letzten zwei oder drei Jahrzehnten stellt die Furcht vor Kriminalität zunehmend ein eigenständiges politisches wie wissenschaftliches Problem dar. Wenn sich Menschen aus Angst vor Kriminalität nicht mehr auf die Straße trauen und sich statt dessen zu Hause einschließen - so ein häufig gezeichnetes Schreckensbild -, wird dies teilweise als schlimmer betrachtet als die Entwicklung der Kriminalität selbst und deren direkte Auswirkungen auf die Opfer.2

Dabei sind der Begriff "Kriminalitätsfurcht" und die dahinterliegenden Vorstellungen keinesfalls eindeutig und nur sehr problematisch zu bestimmen oder gar zu messen. Bereits die Formulierung der sogenannten Standardfrage "Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie bei Dunkelheit in Ihrem Ortsteil oder Stadtteil allein auf die Straße gehen?"3, die den meisten Befragungen zugrundeliegt, engt den Bereich krimineller Handlungen, auf den sich möglicherweise Angstgefühle beziehen, erheblich ein. Nicht nur von feministischer Seite wird daher kritisiert, daß einer solch eingeschränkten Fragestellung weitaus wichtigere Ursachen für die Entstehung von Furcht und Angst entgehen müssen: beispielsweise die über die gesamte Lebensspanne angesammelte Erfahrung sexueller Verletzbarkeit und Gewalt, auch und vor allem innerhalb der Familie oder des sozialen Nahbereichs sowie das gesellschaftlich bedingte Fehlen psychischer und sozialer Kompetenz zur Bewältigung problematischer Situationen.4 Aus letzterem erklärt sich wohl auch das als "Kriminalitätsfurcht-Paradox" in die Literatur eingegangene Phänomen, daß ausgerechnet die Gruppe von Menschen mit der geringsten Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden (Frauen und Ältere), am meisten Angst vor Kriminalität zeigen, während bei denjenigen mit dem höchsten Risiko (junge Männer) die geringste Furcht gemessen wird. Erklären lassen sich solche, früher als "irrational" bezeichneten Ängste wohl nur über einen breiteren Kriminalitätsbegriff.5

Die kriminellen Handlungen, an die in der Öffentlichkeit und in der Politik bei dem Begriff Kriminalitätsfurcht gedacht werden, bleiben allerdings im traditionellen Bereich der Einbruchs- und Gewaltverbrechen außerhalb des sozialen Nahfeldes. Sie beziehen sich üblicherweise auch nicht auf Versicherungsbetrug, die Abgabe falscher Steuererklärungen oder Wirtschaftskriminalität großen Stils, vor denen man sich nicht eigentlich "fürchtet".6 Die Entscheidung, ob Handlungen mit Kriminalitätsfurcht assoziiert werden oder nicht, hängt wohl außer vom Gefühl persönlicher Bedrohtheit vor allem davon ab, welche Instanz man für die Bewältigung der Ursachen und Folgen verantwortlich macht: Darum spielt bei vielen Befragungen zum Beispiel der Zustand der Straßen, Müll oder Dreck in der Umgebung oder das Herumlungern irgendwie verdächtiger Gestalten an U-Bahnhöfen eine Rolle - alles keine kriminellen Erscheinungen, Erscheinungen aber für die mehr oder weniger der Staat oder die Politik zuständig sind, von denen man eine Lösung dieser Probleme erwartet. Diese Erwartung besteht so nicht in anderen, durchaus kriminellen Bereichen, beispielsweise bei Gewalt innerhalb der Familie (wo sich der Staat weit weniger einmischt) oder bei den sogenannten Kavaliersdelikten wie Steuerhinterziehung oder Versicherungsbetrug.

So geht auch die staatliche Auseinandersetzung mit der Kriminalitätsfurcht über dieses Verständnis von Kriminalität im allgemeinen nicht hinaus. Gleichzeitig wird unter dem Aspekt der Kostenersparnis versucht, die Verantwortung von der Gesellschaft auf die individuelle Ebene zu verlagern,7 so daß zum Beispiel statt umfassender angelegten sozialen Programmen jetzt Strategien gefragt sind, bei denen die Bürger teilweise mit integriert sind. Aus diesem Grund sind in den letzten Jahren, ausgehend von den USA und Großbritannien, verschiedene Maßnahmen unter dem Stichwort community policing entwickelt worden, die das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung anheben sollen: Dort werden dann Bürger zur Verstärkung nachbarschaftlicher Kontrolle (neighborhood watch oder citizen patrol) animiert oder werden, wie in England, nach kurzer Unterweisung in eine spezielle Polizeiuniform gesteckt (special constables, neuerdings neighbourhood constables, im Volksmund auch hobby bobby genannt).

Um der Kriminalitätsfurcht zu begegnen, werden insbesondere an vielbesuchten Stellen in den Innenstädten und dort vor allem an den Wochenenden alle verfügbaren Polizeikräfte auf die Straße geschickt, um eine möglichst hohe Präsenz zu zeigen (high visibility policing).

Allerdings gibt die Polizei selbst durchaus zu, daß derartige Maßnahmen eher kosmetischer Natur sind und lediglich der Beruhigung des Publikums dienen: Zum einen wird die Kriminalität dadurch in weniger gut überwachte Stadtviertel (meistens die ärmeren) verdrängt, zum anderen erfaßt man so nur einen sehr kleinen Teil der Gesamtkriminalität.

Auch in Deutschland steht zu erwarten, daß die Sicherheits- und Innenpolitik ihre Priorität zunehmend von der Kriminalitäts- zur Kriminalitätsfurchtbekämpfung verschiebt, die auf einem Bild des typischen Kriminellen beruht, das der Wirklichkeit nicht im geringsten entspricht8 und zahlreiche Bereiche, die für die Entstehung von Angstgefühlen verantwortlich sind, fast völlig ausblendet.

Da keiner so genau weiß, warum Menschen kriminell werden und auf welche Weise Kriminalität erfolgreich zu bekämpfen ist, wird eine zweite Entwicklung verständlich, die die staatliche Strafrechtspolitik in Zukunft wohl ebenfalls verstärkt bestimmen wird. Auch sie deutet sich in den USA und Großbritannien an9, wo bei den sogenannten "Gewohnheitsverbrechern" völlig auf den Versuch verzichtet wird, Motivationen oder Ursachen für ihr individuelles abweichendes Verhalten zu ergründen und in die Strafzumessung mit einfließen zu lassen. Nach dem 1994 unter Clinton verabschiedeten "Violent Crime Control and Law Enforcement Act" bekommen verurteilte Straftäter zwei "Bewährungschancen". Für den Fall einer dritten Gesetzesübertretung wird eine lebenslange Freiheitsstrafe angedroht. Als politische Vermarktungsstrategie wurde für diese Regelung ein dem amerikanischen Volkssport Baseball entlehnter Slogan verwandt: "Three strikes and you are out" - dreimal zuschlagen und du bist draußen.

Dieses automatisch anzuwendende Verfahren hat geradezu groteske Folgen. In Kalifornien wurde in diesem Jahr der 26jährige Jerry D. Williams zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er einem Kind ein Stück Pizza gestohlen hatte: Es war seine dritte Straftat.

Diese Politik, die unter den Begriffen selective oder differential incapacitation (also etwa: selektives oder differenziertes Unschädlichmachen) und bifurcation10 seit einigen Jahren wieder neu auf der politischen Tagesordnung steht, ist allerdings keinesfalls neu. Beispielsweise teilte schon im 19. Jahrhundert Franz von Liszt, der als Gegner der reinen Vergeltungsstrafe in die Lehrbücher eingegangene Begründer der deutschen soziologischen Strafrechtsschule, die Verbrecher in drei Kategorien ein, nämlich die Besserungsfähigen, die Nichtbesserungsbedürftigen und die Nichtbesserungsfähigen. Mit letzteren wußte er auch nicht mehr anzufangen, als dies immer noch der Fall ist: "Gegen die Unverbesserlichen muß die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. auf unbestimmte Zeit)."11 Heute hört sich dieses Zitat allerdings in Hinblick auf die Todesstrafe geradezu fortschrittlich an. Eine solche Einteilung in verschiedene Tätertypen führt jedoch fast zwangsläufig zur Selektionsidee des nationalsozialistischen Deutschlands, die sich dort dann jedoch nicht "nur" auf Kriminelle bezog.12

Daß diese Ideen heute wieder hervorgekramt und mit neuen Namen und Slogans versehen den Weg "zurück in die Zukunft" weisen sollen, paßt ins Gesamtbild einer ratlosen Kriminalpolitik. Abseits der politischen Rhetorik erwartet niemand mehr ernsthaft, daß sich die Kriminalität entscheidend eindämmen läßt. Kriminalität - nicht als Einzelerscheinung, sondern als gesellschaftliches Phänomen - wird letztlich hingenommen und nur noch verwaltet.

Da es der konventionellen Kriminalpolitik mit ihren seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten erfolglosen Mittel nicht gelingt, die Kriminalität wirkungsvoll zu reduzieren, sondern die Situation eher noch verschlimmert,13 bekommt das Phänomen der Kriminalitätsfurcht einen immer größeren Stellenwert.

Dabei besteht durchaus ein Interesse daran, daß die - wie auch immer ermittelte und in der Öffentlichkeit dargestellte - Furcht vor der Kriminalität nicht zu groß wird, um nicht delegitimierend zu wirken. Bei zu übertriebener Darstellung könnte diese gegenüber den tatsächlichen Erfahrungen der meisten Menschen unglaubwürdig wirken. Wenn aber die Furcht zu groß wird, besteht die Gefahr, daß die sich fürchtenden Menschen das Vertrauen in Schutzfunktion des Staates verlieren, wie dies beispielsweise bei vielen Frauen der Fall ist. So sehr beispielsweise die Einführung des Straftatbestands "Vergewaltigung in der Ehe" aus anderen Gründen auch zu begrüßen ist, so wenig besteht Anlaß zur Hoffnung, daß ein solch neuformulierter Paragraph an der realen Situation in den Ehen etwas ändern kann.

Das Spiel mit der Kriminalitätsfurcht wird so zu einem wichtigen Bestandteil der Politik. Der Verweis auf die ständig anwachsende Kriminalitätsfurcht dient mittlerweile als ein ebenso stichhaltiges Argument für eine repressivere Strafrechtspolitik wie der Anstieg der registrierten Kriminalität in den vergangenen Jahrzehnten.14 Erfolgreicher wird diese dadurch nicht werden.

Fußnoten und Literaturhinweise bitte im Heft nachlesen