Demontage oder Selbstdemontage?
Noch einmal zur Aufregung um Corinos Hermlinbuch

Lutz Rathenow

Vielleicht liebten wir an Hermlin, was wir selbst gern gewesen wären in der DDR: weltläufig, gewandt, gebildet, erhaben und dem Fortschritt dennoch leidenschaftlich zugewandt. Er verkörperte einen Stil, den der Staat nicht vorsah. Noblesse vor tadellosem historischen Hintergrund. Natürlich lasen wir die Aura mit: die Lebensgeschichte lieferte den Assoziationsraum, in dem unsere verschiedenartigen Vermutungen Hermlin zur schillernden Größe aufleuchten ließen. Damals, DDRmals, gab es keine zielgruppenorientierten Magazine für jede Art der Sehnsucht. Wir projizierten unsere Wünsche in Menschen, von denen wir erhofften, was wir uns nicht zutrauten. Natürlich läßt sich der Satz auch in die Gegenwart übersetzen. Jede Legendenbildung, jede Art Abhängigsein von Idolen funktioniert so. Der Markt macht damit Kasse. Diktatorisch strukturierte Gesellschaften, die es nicht mehr schaffen, wirklich totalitär alles zu regeln, brauchen Ventile und Ablenkungen von den Regeln. Damit die nicht jeder als Regeln durchschaut. Ein Schriftsteller ist dann mehr als ein Schriftsteller. Eine Institution - wie Hermlin, der Kultur und Literatur forderte und förderte. Das durfte er (beargwöhnt und auch benötigt vom Staat) vor dem Hintergrund seiner Geschichte und solange grundlegende Regeln des Machterhalts nicht verletzt wurden. Regel eins: Bewahre das vorkapitalistische Prinzip, die Eingabe, die Bitte um Gnade an jene, die alles regeln können. Feudalismus in Farben der DDR. Der herausgehobene Einzelne spricht stellvertretend für andere und wird - manchmal - erhört. Ein paar Etagen niedriger nannte sich das "vertrauensvoller Dialog". Der Bittsteller redet von sich, und der andere zieht seine Schlußfolgerungen. Hermlin verkörperte den Fürsprecher brillant und aristokratisch. Darf man einmal darüber nachdenken, warum gerade die Einzelgänger im (schein-)bürgerlichen Gewande (Peter Hacks, Werner Tübke) zunehmend glänzend mit den Verhältnissen in der DDR klarkamen? Autoren mit proletarischer Bodenhaftung wetteiferten in düsteren Kommentaren zum Weltgeschehen und im Saufen. Keine Namen. Hermlin gehörte zu den nicht demontierbaren Einzelnen, die eine kritische Instanz sein wollten und waren. Der Einzelne als Instanz, ein anderer Beginn für Andersdenken und Andershandeln war in der DDR nicht zu haben. Doch dann entwickelten sich Haltungen bei Menschen, die zu oppositionellen wurden und in sehr kleinen und später in nicht so kleinen Kreisen zu wirken begannen. War es die Biermann-Ausbürgerung? Die Wehrdienstverweigerer und ihre Treffen? Die offene Jugendarbeit in den Kirchen? Noch die Platten von Biermann und die Bücher von Reiner Kunze? Schon die ersten in die DDR eintröpfelnden Bücher von Jürgen Fuchs, Thomas Brasch, Wolfgang Hilbig oder Frank-Wolf Matthies? Die interessierten Westjournalisten und die nicht immer blasierten Westdiplomaten?

Zwischen 1973 und 1977 erlebte ich in Jena das, was ich zwischen 1977 und 1980 in Berlin erlebte: aus vielen vernachlässigbaren kleinen Ansätzen entwickelte sich eine Szenerie, die gefährdet und sich ihrer unsicher war. Ihre Akteure wollten lange Zeit nicht Dissidenten genannt werden, sie waren es aber. Unter politisch krisenhaften Bedingungen würde sich ihr Einfluß sehr rasch vergrößern. Wer Real-Politik betreiben wollte, ob als Ost-Prominenter oder als West-Diplomat, durfte sie in seinen Kalkulationen nicht vernachlässigen.

Jede Debatte entwickelt sich offenbar aus kleinen Mißverständnissen. Da legt nun Joachim Walther seine lange - und von vielen vorher beargwöhnte - Untersuchung zu den Stasi-Verstrickungen der Schriftsteller vor. Und alle loben es tot. Oder glänzen, wie Egon Bahr, mit Erkenntnissen, daß jeder Bundeskanzler IM des CIA gewesen wäre. Das nicht nur von ihm praktizierte Dauergeschwätz zur Organisationsart der Machtverhältnisse à la DDR hat natürlich das Ziel, vor jeder Analyse deren Ergebnisse zu relativieren und mögliche Schlußfolgerungen zu entwerten. Entwertet werden dadurch aber die Erfahrungen und Verhältnisse in der DDR schlechthin, da ihnen jede Eigenart weggeredet wird.

Hätte Stephan Hermlin die Noblesse, die er ausstrahlt, so bedankte er sich bei Karl Corino für das Buch zu ihm. Und gäbe ihm Tips und ermunternde Worte für weitere Recherchen auf den Weg. Zahlreiche Oberseminare, manche Doktorarbeit lauert da. Nichts ist interessanter für Germanisten als solche völlig logische und berufsgemäße Spurensuche zum Werk und den Umständen seiner Entstehung. Stephan Hermlin wird dadurch dieser Tage noch einmal gelesen. Es gab ja auch wenig Neues von ihm seit 1990. Zu seinen bewundernswerten Eigenschaften gehörte immer, seine Aura und Zeitvorstellungen gegen die (west-)marktgängigen durchzusetzen - als Kunstkenner und -vermittler sowieso. Aber auch als Autor blieb er mit einem Werk von im Grunde drei Bänden (die Gedichte, die Erzählungen, Abendlicht) über Jahrzehnte im Gespräch. Ich finde es gut und nachahmenswert, wie hier einer die Buchmarktnötigung zur permanenten Neuproduktion unterläuft. Die Erzählungen sind es ja wert, alle paar Jahre wieder aufgelegt zu werden. Mitunter ergänzt und erweitert um eine neue, die (in Sinn und Form vorabveröffentlicht) kurze Prosa als Ereignis präsentiert.

Lächerlich ist nur die Pose jener, die ihre rein literarische Lesart des Werkes von einem Kritiker beschmutzt sehen. Versuchen wir uns einmal Abendlicht als Debüt eines älteren Menschen vorzustellen, den kaum einer kennt, und das in einem Verlag der DDR vielleicht auch so hätte erscheinen können. Ein merkwürdiges Buch wäre da gekommen. Fast unbemerkt, denn auch die neueren Autoren jeglichen Alters erschienen in den letzten beiden Jahrzehnten des Landes oft fast unbemerkt - oder erinnert sich ein Leser dieser Zeitung an heftige Debatten über ein neues Buch von Wolfgang Sämann oder Bernd Wagner? Es hätte schon Leser gefunden, die seinen ungewöhnlich sicheren Stil und die gelegentlich außerordentliche poetische Verdichtung schätzten. Die Kritiker würden das Talent eines Autors loben und (zu Recht) einige altväterliche Betulichkeiten in der Schilderung anmahnen. Aber da versagt der Vergleich schon, denn ein Hermlin, der kein Stephan Hermlin wäre, hätte manche Stellen anders geschrieben. Das Buch lebt von der Selbstgewißheit eines ausgefüllten Lebens, das seine gebührende Anerkennung fand. Hermlins Verteidiger demontieren sich und das Objekt ihrer Verteidigung, indem sie den Zustand der biographischen Unschuld zurückfordern, aus dem längst alle vertrieben worden sind. Und zwar durch uns selbst, durch Handlungen und ausgebliebene Handlungen. Durch Verweigerung von Erkenntnissen. Und davor durch die Wahrnehmungsverweigerung von Realität.

Es macht wenig Sinn, auf die zahlreichen Verteidigungselogen (der Freitag mit 4 an der Spitze, FAZ und Tagesspiegel mit 2 gleichauf) im Detail einzugehen. Wer Stasi-Akten als das kleinere, die offene und in die Öffentlichkeit zielende Recherche (der er widersprechen kann) als das größere Übel für die Gesellschaft beschreibt, der kann dann wie Klaus Ensikat Dr. Karl Corino zum Spitzel erklären. Soll ich nun Ensikat als Spitzel outen, weil er reale oder vermeintliche Fehler anderer erkundet und als Kabarettist öffentlich benutzt? Selbst bestgemeintes konspiratives Mitwirken an einem diktatorischen Machterhaltungssystem spielt auf anderer politischer Ebene als ein auf Effekt (Honorar) zielender Enthüllungsjournalismus. Und Karl Corino liefert mehr als den, unabhängig davon, wie weit man seinen Deutungen folgt. Es ist viel (und häufig zu Recht) von West-Arroganz die Rede. Wie hier ein profilierter Musil-Forscher von den (Hermlin-in-uns-selbst-)Verteidigern zum Hexenjäger erklärt worden ist, bietet geballte Ost-Arroganz. Seit Jahren befaßt sich Corino mit Fälschungen in der Literatur und schrieb ein beachtetes Buch dazu. In den siebziger Jahren setzte er das erste DDR-Literaturmagazin im ARD-Rundfunk durch. Er entdeckte Wolfgang Hilbig, Gert Neumann und manch anderen Autor. Er sendete Strittmatter und Hermlin. Rainer Kirsch leitete meine ersten Texte an ihn weiter. In der DDR Lebende und aus der DDR Hinausfreiwilligte - bei Corino fanden sie zueinander. Karl Corino tat mehr für die DDR-Literatur als so mancher, der ihn angreift.

Warum läßt sich das "wir" vom Anfang nicht redlich aufrechterhalten? - Bis zu einem gewissen Zeitpunkt der DDR-Geschichte stellten mutig einzelkämpfende Dichter und Denker das Höchstmaß an vorstellbarer Dissidenz dar. Sie dachten voran. Ihren Texten und auch der Abwesenheit von Texten (durch Verbot) war immer ein "Bedeutungsmehrwert" (Kurt Drawert) sicher, der sich - ich folge da gern den Gedanken des Leipziger Autors - "weniger auf die Aussage als vielmehr auf die Unterstellung von Aussage berief". Jede Form demokratischer Mitverantwortung, auch für Schriftsteller in kleinen Kreisen zu DDR-Zeiten trainierbar, hätte mit der Selbstdemontage dieser vom Staat zugeschanzten Extrabedeutung beginnen müssen. In den Kreisen um Klaus Schlesinger, Karl-Heinz Jakobs oder Joachim Walther war etwas von diesem demokratischen Selbstbewußtsein zu spüren, solche Autoren wurden 1978 aus dem Verband ausgeschlossen und meist aus dem Lande geekelt. Oder von ihrem Lektorenposten im Lande (wie Walther).

Schon die Ausbürgerung Biermanns 1976 rief Proteste ins DDR-Leben, an die die Autoren des Schriftstellerappells nicht dachten. Die Ereignisse am Rande der intellektuellen Szenerie sind auch heute weitgehend unbekannt (zum Beispiel die in Jena). Es bildeten sich Strukturen heraus, aus denen sehr bald oppositionelle Aktivitäten wurden, auch grenzüberschreitende, zum Beispiel durch das von Hannes Schwenger und anderen Linken gegründete Komitee zur Verteidigung politischer Gefangener in der DDR. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit Ähnlichdenkender (dann besonders mit nach Westberlin hinausfreiwilligten Freunden praktiziert), wird heute merkwürdig umgangen als Form oppositionellen Verhaltens. Die Phantasie der stalinismustrainierten Autoren reichte nicht aus, Verhältnisse für möglich zu halten, in denen eine Solidaritätsaufforderung an Stefan Heym eben keine Provokation der Stasi mehr war.

Trotz ständig intensivierter und nicht folgenloser Einflußnahme durch die Staatssicherheit wuchsen in den Folgejahren die Spiel- und Handlungsräume oppositioneller Kreise im Osten. Das war nur möglich, weil sich eben im Herbst '76 (und danach) einige Leute nicht an die Regeln prominenter Schriftsteller hielten, den öffentlichen Protest lieber ihnen zu überlassen. Außerdem gab es mit jemand wie Robert Havemann oder dem im Westen lebenden Jürgen Fuchs neue Bezugs- und Orientierungspunkte. Als dann noch in der DDR sich in kirchlichen und privaten Kreisen quasi eine zweite Kultur und (langsamer) eine politische Oppositionskultur herausbildete, waren die auf anderen Voraussetzungen basierenden Handlungskonzepte des Schriftstellers als Oppositionsersatz obsolet geworden. Ja, auch die des klassischen Dissidenten als Protestinstitution.

Als 1983 nach einer langen Vorgeschichte (in der der Tod eines Menschen in Stasi-Untersuchungshaft, Proteste dagegen, zahlreiche Verhaftungen in Jena, aber auch kulturelle und literarische Aktivitäten eine Rolle spielten) Roland Jahn gegen seinen Willen aus der DDR hinausgeschmissen worden ist, forderte ich Stephan Hermlin zur Solidarität auf. Er war nicht bereit, die Bedeutung des Falles zur Kenntnis zu nehmen. Adolf Endler und Elke Erb unterzeichneten einen Protest, mit der Verpflichtung (an mich), ihn nicht öffentlich zu machen. Die vielfältigen Schikanen gegen Schreibende in der DDR, so die Verurteilung Alexander Richters zu mehreren Jahren Gefängnis wegen in den Westen geschmuggelter Manuskripte, hätten von einem Mitglied des Internationalen P.E.N. wahrgenommen werden müssen. Diese Wahrnehmungsverweigerung Hermlins steigerte sich dann zu Angriffen auf in den Westen ausgereiste Autoren. An solchen Punkten zeigte sich einer, dessen Verdienste ich nicht bestreite (auch für mich setzte er sich privat zweimal ein), von einer leider unter den bekannten Autoren nicht untypischen Borniertheit, die sie gegenüber den konsequenteren oppositionellen Kreisen fast zu Feinden machte. Sicher ist eine differenziertere Analyse nötig. Ich brauche jedenfalls keine Akten, um meine Bedenken zu formulieren. Die Erinnerungen werden durch diese oft bestätigt, manchmal präzisiert, manchmal hinterfragt.

Ein Dokument möchte ich doch als Frage an Stephan Hermlin weiterreichen, obwohl ich die Antwort schon zu kennen glaube. Ein Freund (das Nichtnennen des Namens durch Hermlin zeigt, daß er sich bewußt ist, was für eine Information er einem Staatsvertreter übermittelt) wollte Havemann und bekannte DDR-Autoren zusammenbringen. Dazu schreibt der Staatssekretär (im Ministerium für Kultur) Kurt Löffler am 5. Juni 1979: "Während des Empfangs in der italienischen Botschaft am 31. Mai 1979 hatte ich mit dem ebenfalls anwesenden Stephan Hermlin ein Gespräch. In diesem Gespräch teilte Stephan Hermlin ausdrücklich offiziell mit, daß er vor einigen Tagen von dem Sohn eines verstorbenen Freundes aufgesucht worden sei, der ihm die Bitte vorgetragen hat, an einer Zusammenkunft führender Schriftsteller der DDR mit Professor Havemann teilzunehmen. Stephan Hermlin erklärte, daß er dieses Ansinnen empört zurückgewiesen hat ... Von Günter Kuhnert (Schreibweise nach Original, Kunert nahm meines Wissens später Kontakt auf zu den Kreisen um Havemann) wurde Stephan Hermlin informiert, daß die Absicht dieses Treffens die Bildung einer Gruppe gewesen sei, die sich als Vertreter der DDR der in mehreren sozialistischen Länder bestehenden Konzentrationen für die ,Samisdat` konstituieren sollte." Kein Kommentar zur Weitergabe dieser Information an einen, der sie prompt der Staatssicherheit weitergab.

Denkmäler werden nicht durch angebliche Westkampagnen gestürzt. Ihre bereits zu DDR-Zeiten vollzogene Demontage tritt nur langsam ins Licht der Öffentlichkeit.