"Der Abschied vom feudalen Kastensystem ist überfällig"
Pascal Bruckner über Frankreich und seine Intellektuellen

Marko Martin

Neben Alain Finkelkraut und André Glucksmann ist Pascal Bruckner auch hierzulande als "nouveau philosphe" bekannt geworden. Wie die beiden anderen greift auch Pascal Bruckner mit seinen Schriften in die aktuellen politischen, kulturellen und moralischen Auseinandersetzungen ein. Auf Deutsch ist von ihm zuletzt eine Streitschrift "Ich leide, also bin ich" (BeltzQuadriga, s. Kasten) erschienen. Im Zentrum seiner publisizistischen Tätigkeit steht die Auseinandersetzung mit den jeweils modischen Ausflüchten, sich der individuellen Verantwortung zu entziehen. Das Gespräch fand Ende des letzten Jahres statt.

Monsieur Bruckner, wenn man Ihre Bücher liest, stößt man immer wieder auf Zeitungs- und Zeitschriftenzitate, auf die Auseinandersetzung mit Filmen, aktuellen Themen et cetera. Man hat den Eindruck, daß Philosophie für Sie weniger die Konstruktion neuer Denkgebäude bedeutet als vielmehr den Aufruf zu permanenter Wachsamkeit gegenüber irrationalen und populistischen Ideen.

Ja, das beschreibt in etwa meine Intention. Die Konstruktion von neuen Systemen oder das Repetieren und Einordnen vergangener philosophischer Schulen interessiert mich eigentlich recht wenig. Deshalb entspricht mir das Genre des Essays am besten. Dieser "Cocktail" aus Philosophie, Literatur und Soziologie erlaubt es, ein Auge auf die Gegenwart zu werfen, ohne die Traditionslinien der Vergangenheit vernachlässigen zu müssen - er ist so etwas wie ein Diskurs im eigenen Text.

Seit der Publikation meines Essays über Die neue Liebesunordnung, den ich zusammen mit Alain Finkielkraut schrieb, beschäftige ich mich besonders mit den Mythen in der Demokratie von heute. Natürlich mußte ich damit anfangen, meine eigenen Mythen kritisch zu hinterfragen, in diesem Fall die Mythen von 68 über die sexuelle Befreiung oder die Dritte Welt.

Man muß - zu den Ideen, aber auch zu sich selbst - Distanz halten und dennoch mittendrin sein; nur dann kann man den Blick in den Spiegel aushalten und die Chance wahrnehmen, sich zu korrigieren. All meine Bücher sind eigentlich Versuche in diese Richtung.

Sie sind 1948 geboren und werden der Generation der "nouveaux philosophes" zugerechnet. Welche Gemeinsamkeiten sind da vorhanden?

Trotz des unterschiedlichen Stils gibt es wahrscheinlich zwischen uns - ich spreche jetzt von André Glucksmann, Alain Finkielkraut, Bernard-Henri Lévy und mir - eine ähnliche Sicht auf die Probleme von heute, einen ähnlichen Impuls, sich von ihnen herausgefordert zu sehen. Natürlich muß man da einige Jahre zurückgehen, um an die Wurzel unseres Engagements zu kommen. Man darf ja nicht vergessen, wie lange der Marxismus in Frankreich populär war, wie lange die Faszination totalitärer Utopien bestand. Damals erhoben die "neuen Philosophen" Einspruch - André Glucksmann mit Verweis auf das skeptische Menschenbild der Antike, Bernard-Henri Lévy in seiner Untersuchung über die rotbraunen Ursprünge der "Ideologie française", Alain Finkielkraut in seiner Rezeption der Thesen von Emmanuel Lévinas. In meinem Essay Das Schluchzen des weißen Mannes habe schließlich ich versucht, die Dritte-Welt-Schwärmerei und den ihr innewohnenden latenten Rassismus zu analysieren und bloßzulegen.

Heute hat sich die Thematik geweitet, aber das ursprüngliche Mißtrauen gegen Mythen - konservative, aber auch vermeintlich emanzipatorische Mythen - ist gleichgeblieben. Die Arbeit des Denkens ist immer Wühlarbeit, sie besteht darin, verfestigte Normen zu attackieren ...

Eine Art Tabula rasa?

Im Gegenteil. Gerade der Wahn, alles umstürzen zu müssen, um eine neue "reine" Gesellschaft errichten zu können, zählt ja zu den blutigsten Irrtümern dieses Jahrhunderts. Um was es geht, ist die Skepsis gegenüber Großentwürfen, nicht um den Versuch, sie durch einen anderen Großentwurf einfach ersetzen zu wollen.

In Ihrem Buch Die demokratische Melancholie von 1990 beschreiben Sie die Demokratie als einen "sorgsam ausgearbeiteten Kompromiß zwischen politischem Liberalismus und sozialistischer Chancengleichheit", als etwas Ambivalentes, um das man immer kämpfen muß, um es vor den ihm innewohnenden Extremismen zu schützen. Was passiert, wenn der Bürger von heute einfach zu müde ist, diesen unheroischen Kampf wieder und wieder aufzunehmen?

Er wird passiv, pflegt ein völlig illusionäres Sicherheitsdenken und entmündigt sich damit selbst. Andererseits ist es heute schwieriger denn je, all die Konflikte in unseren demokratischen Massengesellschaften zu strukturieren. Überall gibt es kleine Kämpfe, die unbarmherzig ausgetragen werden: Stadtzentren gegen die vernachlässigten Vorstädte, Berufsgruppen gegen Ministeriumsentscheidungen, Einheimische gegen Zuwanderer. Obwohl nun jede Seite versucht, diese Kämpfe mit großen Worten zu führen, bleibt die Unüberschaubarkeit und damit auch die Unmöglichkeit, wie früher alles auf einer Rechts-Links-Achse zu verorten. Die Gewalt, die dann entsteht, dreht sich um sich selbst, nimmt politische Parolen höchstens noch als Alibi und entzieht sich damit einer Regulierung. Hinzu kommt - das habe ich in meinem letzten Buch La Tentation de l'innocence beschrieben (auf Deutsch: Ich leide, also bin ich) -, daß sich ohnehin jeder als Opfer fühlt, Verantwortlichkeiten verneint und immer mehr in eine Regression abkippt - mit dem Resultat, daß die wirklich Leidenden im Chor des herumnölenden Partikularegoismus völlig unterzugehen drohen.

Wäre es eine Lösung, bestimmte Werte wieder dadurch zu vitalisieren, indem man sie emotionalisiert, das Faszinierende der Demokratie herausstellt, sich auch vor der libidinösen Besetzung des Begriffs "Menschenrechte" nicht scheut?

Ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Natürlich ist eine Demokratie sexy im Vergleich zu einer totalitären Diktatur, wo die Menschen in völlig unerotischen Uniformen Fähnchen schwingen müssen, ganz klar. Das war ja auch das Dilemma im jahrzehntelang währenden Disput zwischen Raymond Aron und Jean-Paul Sartre - der vernünftige, ausgewogene Analytiker gegen den geistsprühenden Schriftsteller. Sartre wurde seine Komplizenschaft mit den roten Diktaturen immer verziehen, während man über Arons Mäßigung immer spottete. "Lieber mit Sartre irren, als mit Aron recht behalten", hieß damals in Paris ein unseliger Slogan. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich notwendig, die Demokratie mit Verve zu verteidigen und das rhetorische Feuerwerk nicht immer nur den revolutionären Schwarmgeistern zu überlassen. Dennoch macht es einen Unterschied, ob Sie in den Cafés an der Bastille vom Zauber der Fragmentierung schwärmen oder in irgendeiner tristen Banlieue Opfer der sozialen Marginalisierung sind. Die einen leiden unter der Unvollkommenheit, die die anderen gerade als Schutz vor totalitärer Übersichtlichkeit preisen. Was nun? Seit 1989 ist die kommunistische Bedrohung verschwunden, und die träge Selbstbezogenheit in den westlichen Gesellschaften nimmt zu. Deren Sonntags-Vokabeln jetzt neu aufzupolieren, halte ich für falsch. Worte wie Parlamentarismus, individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung et cetera hatten vor 1989 eine subversive Bedeutung und markierten einen klaren Standort - die politische Klasse in unseren Ländern aber hat sie längst zu Fetischen gemacht, die ihre Substanz verloren haben. Vielleicht ist es das Los der Demokratie, in ihrem vollen Glanz immer nur im Konflikt mit einer Diktatur zu erstrahlen.

Eine Frage zur Rolle der französischen Intellektuellen. Im Unterschied zu ihren deutschen Kollegen melden sie sich bei aktuellen Debatten zu Wort, unterzeichnen Appelle, initiieren ganz konkrete Aktionen und engagieren sich für die Universalität der Menschenrechte. Ohne dies kleinreden zu wollen, hat man doch den Eindruck, daß sie dieses Engagement gegenüber der französischen Gesellschaft etwas vermissen lassen. Selbst dem frankophilen Betrachter stellt sich der französische Staat als unzureichend demokratisch, aufgebläht, hierarchisch und ineffizient dar. Wo bleiben die Intellektuellen, um auf dieses einzigartige Modernitätsdefizit aufmerksam zu machen?

Sie sind durchaus da mit ihrer Kritik und ihren Reformvorschlägen. Vielleicht dringt das nur weniger ins Ausland als die großen Appelle, die zum Beispiel für verfolgte Menschenrechtler in anderen Teilen der Welt Stellung beziehen.

Aber auch die schon in Teilen kriminell zu nennende französische Afrika-Politik wird kaum kritisch durchleuchtet.

Vielleicht nicht ausreichend genug; aber die Enthüllungen einer Zeitung wie dem Canard Enchaîné können sich dennoch sehen lassen. Es gibt auch genug Bücher, die sich mit Frankreichs Haltung zu "befreundeten" Diktaturen auseinandersetzen: Gilles Perraults Notre ami, le Roi, in dem das Regime von Marokkos König Hassan völlig demaskiert wird, löste riesigen diplomatischen Wirbel aus. Desgleichen Bücher über Vichy und die Kollaboration, die miese Rolle der französischen Kommunisten oder über die Verbrechen während des Algerienkrieges. Aber in einem haben Sie schon recht: Der Wille, die französische Gesellschaft, wie sie sich uns heute darstellt, zu reformieren, ist weder bei den Intellektuellen noch bei den Politikern sehr stark ausgeprägt. Bei beiden kann man die gleiche Mischung aus Arroganz und Ignoranz beobachten, die vielen ohnehin als eines der typischsten französischen Wesensmerkmale erscheint.

Frankreich ist das schöne, oder besser: abschreckende Beispiel einer adligen Familie, die auch dann noch das Silberbesteck benutzt, wenn schon längst nichts mehr auf den Tellern liegt. Hier glaubt man noch immer, eine Weltmacht zu sein, und wenn es nicht bald zu einer mentalen Revolution kommt, sind wir verloren.

Würde für den Moment nicht schon eine Evolution reichen, auch wenn den Franzosen das Wort Revolution leichter von der Zunge geht?

Was not tut, wäre eine Einsicht in die eigene Begrenztheit. Das Ausmaß der gegenwärtigen Korruption und des permanenten Mißmanagements läßt sich von einem Land dieser geographischen Größe einfach nicht mehr verkraften; auch die Politik könnte es sich eigentlich nicht mehr leisten, so eitel Hof zu halten, wie es zuletzt unter Mitterrand zu einem fragwürdigen Höhepunkt getrieben wurde. Das Motto "Die Welt ist dort, wo wir sind" ist trotz all der schönen Dinge, die Frankreich der Welt gegeben hat, mittlerweile völlig inadäquat geworden, um einer veränderten Wirklichkeit noch gerecht werden zu können. Die Aura ist dahin, und je eher man das endlich begreift, um so besser. Auch der Intelligenz steht dieser überfällige Abschied vom feudalen Kastenwesen noch bevor.

Sie sind neben der Essayistik auch als Romancier hervorgetreten. Roman Polanskis Bitter Moon ist die Verfilmung Ihres Romans Lune de fiel gewesen. Liebe und Haß, Eifersucht und Obsessionen aller Art, fixe Ideen und gefährliche Charaktere werden bei Ihnen immer wieder thematisiert. In den Essays wird in luzider Sprache eindringlich vor ihnen gewarnt, in den Romanen werden sie in vibrierender Prosa ausgelebt - ist dieser Eindruck richtig?

Er ist zumindest nicht ganz falsch, obwohl Lune de fiel sicherlich eine Extremposition markiert. Der Roman zeigt, wie die totale Befreiung aller Wünsche und Triebe, ein Ideal der "sexuellen Befreiungsbewegung" aus den sechziger Jahren, eigentlich nur zu einer Restauration der Gewalt führt. Auch eine befreite Sexualität kann repressiv werden - das ist vielleicht eine der wichtigsten Entdeckungen unserer Generation. Natürlich konnten wir uns dabei auch auf die französische Tradition stützen, in der wie nirgendwo anders seit Jahrhunderten über die Liebe in all ihren Erscheinungsformen geschrieben und reflektiert wird; übrigens auf sehr hohem Niveau. Libertinage und die Ambivalenz der Gefühle zählen zu den integralen Themen französischer Literatur überhaupt. In Deutschland gibt es so etwas kaum.

Das hat den einzigen Vorteil, daß dort glücklicherweise auch nicht Sloterdijk und Habermas auf die Idee kämen, eine erotische Confessio zu verfassen. - Aber zurück zur Trennung zwischen Essay und Roman ...

Im Essay, so wie ich ihn verstehe, ist "gefährliches Denken" völlig fehl am Platz. Im Roman aber kann es nötig sein, dort ist auch jene barocke Opulenz erlaubt, die in der politischen Prosa nur peinlich wäre.

Was halten Sie von der französischen Gegenwartsliteratur?

Sie ist ein unfreiwilliges Abbild der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, sie teilt deren Stagnation und Trägheit, sie verweigert sich gegenüber der Realität. Eigentlich ist der französische Roman schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges krank. Der nouveau roman war ein Irrweg, eine Sterilisation statt einer Befreiung der Phantasie, und was danach kam, war meistens auch nicht viel origineller. Jeder erzählt sein eigenes Leben, was völlig uninteressant ist, da sich die Biographien in demokratischen Massengesellschaften außer einigen Nuancen nicht sonderlich voneinander unterscheiden.

Das wage ich zu bezweifeln.

Jedenfalls ähneln sich die meisten Geschichten, mit denen die Verfasser autobiographischer Prosa an die Öffentlichkeit treten. Freudlose Kindheit, dominierende Väter, sexuelle Frustrationen - alles wird durch den gleichen Fleischwolf gedreht und damit banalisiert. Die zweite Möglichkeit ist der psychologische Roman: Du schläfst mit ihr, ich schlafe mit dir - weshalb sind wir dennoch nicht glücklich, und welche Rolle spielt deine Mutter dabei? Es gab große Könner dieses Genres, gegen Ende unseres Jahrhunderts aber wirkt das alles nur noch farblos und epigonal. Toujours les mêmes histoires. Kein Wunder, daß dies keinen mehr interessiert, weder die Leser im Ausland noch in Frankreich selbst. Wirklichkeit, soziale Konflikte, Verwerfungen kommen in den Büchern kaum noch vor, und mit der französischen Literatur passiert genau das, was auch bei der französischen Gesellschaft zu beobachten ist: Ihre Leser, ihre Bürger wenden sich von ihr ab. Das einzige, was blüht, ist der Detektivroman. Hier wird Realität so ausgeleuchtet, daß keiner gähnen muß. Allerdings glaube ich nicht, daß es für die Lebenskraft einer Gesellschaft spricht, wenn sie sich nur noch mit den Kriterien des Krimis beschreiben läßt.

Pascal Bruckner, geboren 1948, zählt zu den bekanntesten "nouveaux philosophes" in Frankreich. Er studierte Philosophie an der Sorbonne und promovierte bei Roland Barthes. Auf Deutsch erschien von ihm: Die neue Liebesunordnung (zusammen mit Alain Finkielkraut - Hanser Verlag), Die demokratische Melancholie (Junius Verlag), der Roman Bitter Moon (Goldmann Verlag) sowie zuletzt der Essay Ich leide, also bin ich (Beltz-Quadriga Verlag), für den Pascal Bruckner in Frankreich mit dem renommierten "Prix Medicis" ausgezeichnet wurde.