Das Ende einer nationalen Legende
Schweizer Mythen und der tabuisierte Antisemitismus

Kurt Seifert

Die jüngsten Enthüllungen über den Umgang der Schweizer Banken mit "nachrichtenlosen Vermögen", dem Verdacht also, sich an dem Vermögen durch die Nazis ermorderter Juden bereichert zu haben, treffen die Schweiz in einer Situation, in der viele Gewohnheiten und Übereinkünfte der Nachkriegszeit zu bröckeln beginnen. Der nationale Konsens ist in Frage gestellt.

"Grösse zeigt sich nur, wenn man zu seinem Versagen steht. Zu unserem Davonkommen gehört die Schuld; gerade hier erweist sich die Schweiz als klein, kleiner noch als auf der Landkarte. Sie sieht ihre Vergangenheit nur heldisch und human, sie will schuldlos davongekommen sein. Doch ist es falsch, unsere bewältigte Vergangenheit nun ins Teuflische umzudichten, dass sie menschlich war, genügt, man bedichte sie lieber nicht."1

Friedrich Dürrenmatts Sätze aus den späten sechziger Jahren hat sich die offizielle Schweiz lange Zeit nicht zu Herzen nehmen wollen. Noch 1989 wurde der "Diamant" lanciert: eine nostalgische Feier zum 50. Jahrestag der Mobilmachung. Zur Eröffnung einer Wanderausstellung über die Schweiz zwischen 1939 und 1945 erklärte Bundesrat Kaspar Villiger, Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, er weigere sich, bei der Darstellung jener Zeit "in gezielter Schwarzmalerei zu machen, das Licht zu verdrängen und die Schatten breit zu überzeichnen" (zitiert nach Tages-Anzeiger, 9.8.89). Genau diese Schatten haben die Schweiz sieben Jahre später wieder eingeholt: Die Meldungen über "nachrichtenlose Vermögen" von Opfern des Holocaust auf Schweizer Bankkonten, Berichte über die Rolle der Schweiz als Drehscheibe für den Goldhandel der Nazis sowie die Bedeutung der Schweizer Industrie als wichtiger Waffenlieferant der Wehrmacht wollen seit Wochen und Monaten nicht abreißen.

Um den Jahreswechsel herum häufte sich wieder einmal die Reihe der Peinlichkeiten im Umgang mit den dunklen Seiten der jüngeren Schweizer Geschichte. Kaum hatte das eidgenössische Parlament beschlossen, eine Kommission von in- und ausländischen HistorikerInnen einzusetzen, die die Rolle des Finanzplatzes Schweiz während des Zweiten Weltkriegs untersuchen soll, kam es zum Eklat wegen des designierten Kommissionspräsidenten: Vorgeschlagen war Urs Altermatt, der sich vor allem mit dem politischen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Josef Lang, rot-grüner Politiker und gleichfalls Historiker, machte darauf aufmerksam, daß Altermatt in seinen Untersuchungen den Antisemitismus des katholisch-konservativen Milieus einfach ausblendet2: keine guten Voraussetzungen, den Verstrickungen der Schweiz mit dem faschistischen Deutschland auf den Grund gehen zu wollen. Dies vor allem deshalb nicht, weil die schweizerische Politik gegenüber dem Nazi-Regime ohne Auseinandersetzung mit dem helvetischen Antisemitismus kaum zu verstehen ist. Über Nacht fand sich dann doch noch ein Präsident: der Wirtschaftshistoriker Jean-François Bergier - auch er kein Spezialist für Fragen des Zweiten Weltkriegs.

Den nächsten Streich leistete sich Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz mit seinen Interviews, die Ende Dezember in Westschweizer Zeitungen abgedruckt wurden. Von der Tribune de Genève danach befragt, welches der "schwierigste Moment" in seinem abgelaufenen Jahr als Bundespräsident gewesen sei, antwortete der Volkswirtschaftsminister: "Die Affäre um die jüdischen Vermögen und das Nazigold..." Hinter der ausländischen Kritik am Umgang der Schweiz mit den zurückgehaltenen Guthaben von Holocaust-Opfern sowie an den Geschäften von Schweizer Banken mit Hitler-Deutschland stünden Kreise, "welchen es um nichts anderes geht als um die Zerstörung des Finanzplatzes Schweiz". Auf die Frage, ob es eine gute Idee sei, "einen Hilfsfonds für die Opfer der Nazis zu schaffen", entgegnete der Bundesrat: "Ein solcher Fonds würde als Schuldeingeständnis angesehen werden. Die Forderung, die gegenüber Botschafter Borer (dem Leiter der eidgenössischen "Task Force" für die Frage der nachrichtenlosen Vermögen, Anm. K. S.) erhoben wurde, beträgt 250 Millionen Franken. Das ist doch nichts anderes als eine Lösegeld-Erpressung!" (zitiert nach: Weltwoche, Nr. 2, 9.1.97).

Eine ähnliche Position, wenn auch nicht mit dieser drastischen Wortwahl, hatten zuvor schon die Bundesräte Flavio Cotti und Arnold Koller sowie der Generalsekretär der Schweizerischen Bankiervereinigung bezogen. Jüdische Organisationen in den USA wiesen den Vorwurf der Erpressung zurück, doch die heimlichen und offenen Fremdenfeinde und JudenhasserInnen fühlten sich durch Delamuraz' Stellungnahme offenbar bestätigt. In einem Interview mit der WochenZeitung (Nr. 3, 17.1.97) erklärte Sigi Feigel, Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich: "Die jüngsten Vorgänge, an denen die Erklärungen von Herrn Delamuraz nicht unschuldig waren, haben zu meinem Erschrecken viele antisemitische Reaktionen zur Folge gehabt. Sie sind wieder salonfähig geworden, man darf jetzt wieder!"

Schließlich bequemte sich Jean-Pascal Delamuraz zumindest zur Äußerung, daß es ihm sehr leid tue, die Gefühle vieler Menschen, vor allem der jüdischen Gemeinschaft, verletzt zu haben (siehe Dokumentation der NZZ vom 16.1.97).

Am Tag des bundesrätlichen Bedauerns wurde bekannt, der Archivar der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG) habe Anfang Januar Unterlagen der nicht mehr aktiven SBG-Tochtergesellschaft "Eidgenössische Bank" (EIBA) vernichten lassen. Der Bankenkenner und -kritiker Gian Trepp schreibt in der bereits erwähnten Ausgabe der WochenZeitung: "Wenn die SBG heute historische Akten ihrer Tochter EIBA vernichtet, so ist das für die Bankengeschichte ganz besonders schlimm. Die EIBA war die grösste jener Schweizer Banken gewesen, die auf einen Sieg Hitlers gesetzt und ihr Auslandsgeschäft gänzlich auf das nazikontrollierte Europa konzentriert hatten."

Drei Ereignisse, die schlaglichtartig beleuchten, wieviel unverarbeitete Vergangenheit dieses Land belastet. Dabei sind die Enthüllungen der letzten Monate, die von Alfonso d'Amato, dem Präsidenten des Bankenausschusses des US-amerikanischen Senats, öffentlichkeitswirksam vorgestellt werden, vielfach alles andere als neu: Deutsches Raubgold auf Schweizer Banken, blockierte Guthaben jüdischer und anderer Opfer der nazistischen Vernichtungspolitik, die abgewiesenen jüdischen Flüchtlinge an Schweizer Grenzen - dies sind seit über fünfzig Jahren Themen, die von Bankiers, bürgerlichen Politikern und anderen Schweizer Biedermännern immer wieder verdrängt und verharmlost wurden.

Ein eindrückliches Beispiel dafür war die staatliche Gedenkfeier fünfzig Jahre nach Kriegsende. So entschuldigte sich der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger zwar im Namen des Bundesrates (der Schweizer Regierung) für die Rückweisung von jüdischen Flüchtlingen - doch er relativierte diese zu nichts verpflichtende Geste mit den Worten: "Wohl alle, die damals Verantwortung für unser Land trugen, richteten ihr Handeln nur nach dem Wohl des Landes, wie sie es verstanden und sahen (Hervorhebung K. S.). Sie heute an den Pranger zu stellen, wäre ungerecht, wäre wohl auch selbstgerecht" (zitiert nach: NZZ, 8.5.95). Villiger blieb eine Antwort schuldig, wie denn ein Mindestmaß an Gerechtigkeit für die überlebenden und heute vielleicht noch lebenden Opfer dieser Einigelungspolitik, beziehungsweise deren Nachkommen geschaffen werden kann, wenn sich nicht auch die Täter wenigstens posthum dem Urteil der Geschichte stellen müssen. Und da diese Täter zumeist in offizieller Mission gehandelt haben, werden sich zugleich die Institutionen, in deren Auftrag sie handelten (Staat, Banken, Industrieunternehmen etc.), ein solches Urteil gefallen lassen müssen.

Daß die Härte der helvetischen Flüchtlings- und Asylpolitik nicht bloß äußeren Einflüssen folgte, sondern auch Ausdruck eigener Interessen war, ist bereits im Bericht von Carl Ludwig unter dem Titel Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, der 1957 im Auftrag des Bundesrates erschien, thematisiert worden: "Einem offiziellen Druck des Auslandes, der sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen richtete, war die Schweiz während des ganzen Zweiten Weltkrieges nie ausgesetzt."3 Der entscheidende Grund für den vorauseilenden Gehorsam von Schweizer Politikern und Polizisten ist in ihrer Angst vor einer "Verjudung der Schweiz" zu suchen, wie dies der damalige Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, freimütig erklärte.4 Als durch eine Publikation des Schweizerischen Beobachters 1954 bekannt wurde, die Erfinder des im Oktober 1938 eingeführten, berüchtigten "J"-Stempels in den Pässen reichsdeutscher Jüdinnen und Juden seien in der Schweiz zu suchen, kam es "zu einer eigentlichen Rothmund-Affäre", wie der schweizerisch-jüdische Historiker Jacques Picard in seiner Untersuchung Die Schweiz und die Juden 1933-1945 schreibt.5

Der Bundesrat wehrte bereits damals den aufkommenden Antisemitismusvorwurf ab und machte Rothmund zum Sündenbock für eine insgesamt verfehlte Politik. Die - für seine Zeit durchaus "erfolgreiche" - Arbeit des Fremdenpolizeichefs läßt sich aber kaum begreifen, wenn nicht auch der ihn fördernde soziale und ideologische Kontext in den Blick kommt. Der bereits erwähnte "Ludwig-Bericht", eine Folge der "Rothmund-Affäre", beschränkte sich ganz auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik, ohne die schweizerische Haltung zur "Judenfrage" gesamthaft zu überprüfen. Der Schriftsteller Alfred A. Häsler popularisierte die Ergebnisse des Berichts in seinem Buch Das Boot ist voll, das 1967 erstmals erschien, doch auch Häsler beließ es weitgehend bei einer Darstellung der Flüchtlingsfrage.6 Eine umfassende Analyse der eidgenössischen "Judenpolitik", mit dem Schwerpunkt einer Untersuchung der Zeit zwischen 1933 und 1945, ist erst Jacques Picard gelungen. (Er gehört auch zur im Dezember 1996 eingesetzten HistorikerInnenkommission.)

Im Mittelpunkt helvetischer Mythenproduktion in der zweiten Hälfte des 19. sowie in diesem Jahrhundert stand und steht - so werde ich in meiner Vermutung durch die Lektüre des Picard-Buches bestärkt - die Frage nach dem "Fremden", personifiziert in der Gestalt des "Juden". Ohne den versteckten und offenen Antisemitismus zu benennen (der nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedene Spielarten der Fremdenfeindlichkeit mutierte, aber auch noch als solcher virulent werden kann, wie die jüngsten Ereignisse zeigen), werden wir SchweizerInnen uns selbst und unsere Geschichte kaum begreifen können. Um noch einmal Dürrenmatt zu Wort kommen zu lassen: ",Der Antisemitismus wurde nicht besprochen, man war zwar nicht antisemitisch, aber auch nicht judenfreundlich`, heißt es bei einer sonntäglichen Diskussion um die Frage, ob Hitler Christ sei oder nicht, ,am Antisemitismus waren die Juden selber schuld, und im übrigen geisterte auch in der Schweiz das Schlagwort vom jüdischen Bolschewismus herum`."7

Die "Judenfrage" hatte konstitutive Bedeutung für den modernen schweizerischen Bundesstaat: Die Verfassung von 1848 gewährte nur den Schweizern, "welche einer christlichen Konfession angehören", freie Niederlassung sowie Kultusfreiheit. Die Gleichstellung aller Schweizer vor dem Gesetz (von den Schweizerinnen war zu jener Zeit noch nicht die Rede) gelang erst mit der Verfassungsrevision von 1866. Damit hatte die Schweiz als eines der letzten Länder in Europa die Emanzipation der Juden zugelassen - und dies auch nur auf ausländischen Druck, insbesonders seitens Frankreich und den USA (manche Parallen zu heute sind frappierend): Die meisten Kantone verweigerten ausländischen - genauso wie den Schweizer - Juden die Niederlassung. 1851 wies Basel elsässische Juden sogar aus. Das war dem französischen Außenministerium zu viel. Es verlangte "in aller Form die Änderung einer untoleranten Gesetzgebung, die den Prinzipien einer freien Zivilisation widerspricht".8 Das Interesse an einem lukrativen Handelsvertrag wog dann aber doch schwerer als antijüdische Vorbehalte. Was man 1864 den französischen Juden zugestand (Niederlassungsfreiheit), konnte den "eigenen" Juden nicht vorenthalten werden. So kam es schließlich zur Verfassungsrevision.

Nach einer eher liberalen Phase nahmen judenfeindliche Argumente und Aktionen um 1900 und dann wieder im Ersten Weltkrieg zu. Die Einbürgerungspolitik wurde zum Instrument eines staatlich approbierten Antisemitismus, der sich aber als Abwehr gegen eben diesen verstand. Jacques Picard beleuchtet das am Beispiel der Stadt Zürich, die bereits 1912 besondere Vorschriften zur Einbürgerung von "Ostjuden" erlassen hatte. Ihr "tiefer Kulturstand" und das "ausgesprochene Fremdtum", die "starren Satzungen ihrer Religion" und die Weigerung, sich nicht "in steigender Zahl" durch Mischehen aufzulösen, wurden als Begründungen dafür genannt. Picard resümiert: "Mit judenfeindlichen Maßnahmen gab man vor, die Judenfeindschaft eindämmen zu wollen. Der Logik der Antisemiten entsprechend betrachtete der Stadtrat die Ostjuden als für die Judenfeindschaft selbst verantwortlich und brachte damit bereits jene verkehrte Designation ins Spiel, wonach die Juden an ihrem Unglück selbst schuld seien."9 Die Zürcher Einbürgerungspraxis wurde 1926 in der ganzen Schweiz übernommen. Die antisemitischen Züge der eidgenössischen Flüchtlingspolitik während der Nazi-Ära waren hier bereits vorgezeichnet. Erst im Verlauf der späten dreißiger Jahre habe, so Picard, "der judenfeindliche Geist in der helvetischen Flasche das drohende Gesicht mit den Zügen des Nazismus erhalten".10 Die Abgrenzung vom Antisemitismus Hitler-Deutschlands führte aber nicht zu einer breiten Solidarisierung mit den jüdischen Flüchtlingen. Dazu noch einmal Picard: "Die Ignorierung des nazistischen Rassismus lief parallel zur Ignorierung seiner Opfer."11

Eine Frage, die Jacques Picard nur am Rande beleuchtet, betrifft die speziellen Bedingungen dessen, was heute als "nationaler Konsens" bezeichnet wird.12 Sein Ursprung ist in der Bereitschaft der schweizerischen Arbeiterbewegung zu sehen, angesichts der Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre mit den Vertretern des Kapitals zu kooperieren, anstatt sie zu bekämpfen. Dies schlug sich unter anderem im Friedensabkommen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverband in der Metall- und Maschinenindustrie aus dem Jahre 1937 nieder: Mit dem Versprechen einer über längere Zeit hinweg auch fast verwirklichten Vollbeschäftigung für den Schweizer Arbeiter erkauften die Unternehmer die Zurückhaltung der Gewerkschaften in Lohnfragen. Dieser Konsens hatte auch eine fremdenfeindliche Komponente, die vom sozialdemokratischen Nationalrat (Mitglied des eidgenössischen Parlaments) und späteren Bundesrat Willi Ritschard in der Nachkriegszeit so formuliert wurde: "Es ist ein unveräußerliches Prinzip der Gewerkschaftspolitik, daß einheimische Arbeiter nicht durch die Anwesenheit ausländischer Arbeiter benachteiligt sind."13 Kein Wort von notwendiger Solidarität über nationale Grenzen hinweg! Die Frage, wie die gewerkschaftliche Angst vor einer "Überfremdung" der Arbeiterschaft sich im Verhältnis der Linken zur "Judenfrage" ausgewirkt hat, müßte wohl noch genauer untersucht werden. Exemplarisch dafür mag die Biographie des Schweizer Arbeiterführers Walther Bringolf stehen. Als Mitglied der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission äußerte er im Mai 1939 Verständnis für die Rückweisung jüdischer Flüchtlinge an den Schweizer Grenzen: "Wir haben in der Tat kein Interesse daran, daß die Zahl der Juden in der Schweiz ansteige."14 Zu Bringolfs Ehrenrettung ist allerdings zu sagen, daß er nach der erneuten Grenzschließung im August 1942 ins Lager der KritikerInnen der Schweizer Asylpolitik wechselte. Der bereits zitierte Sigi Feigel bezeichnete ihn als einen der wenigen, der "nicht nur redete, sondern den Flüchtlingen auch praktische Hilfe leistete".15

Der Historiker Walter Wolf weiß zu berichten, Bringolf habe es nicht ertragen, auf die Schwachstellen seiner Politik hingewiesen zu werden. Die jüngsten Ereignisse in der Schweiz deuten darauf hin, daß viele unter denen, die die Kriegszeit noch erlebt haben, von den neuerlichen Enthüllungen nichts wissen wollen. Problematischer und folgenreicher aber ist, daß die nicht unmittelbar Betroffenen, heute Verantwortliche in Politik und Wirtschaft, in die Abwehr flüchten. Kein Zweifel: Der Kitt, mit dem der seit mehr als einem halben Jahrhundert wirkende nationale Konsens zusammengefügt war, zerbröckelt. Die Legende, man habe durch den Zusammenschluß im Innern so gut als möglich den feindlichen Kräften entgegentreten könne und habe - abgesehen von einigen Fehlern - auch nur die allernötigsten Kompromisse mit dieser feindlichen Außenwelt geschlossen, müsse sich deshalb auch nichts außergewöhnlich Verwerfliches vorwerfen (lassen): sie erweist sich als Lebenslüge, in die sich ein ganzes Volk verstricken ließ.

Diese Erkenntnis ist um so schmerzlicher, als jetzt auch spürbar wird, dass der Nutzen dieses nationales Konsens rapide abnimmt: Die Kombination zwischen wirtschaftlicher Öffnung nach außen und geistigem Rückzug nach innen, wie sie exemplarisch in der Kriegszeit entwickelt wurde, läßt sich angesichts der Nachkriegsentwicklung in Europa kaum noch länger aufrechterhalten. Die Frage nach einer eigenständigen Mitwirkung am politisch-gesellschaftlichen Integrationsprozeß auf unserem Kontinent stellt sich immer dringlicher. Ein anderer Nutzen - die relativ krisenfreie Wohlstandsentwicklung - ist seit Anfang der neunziger Jahre auch dahin. Die weltmarktorientierten Bereiche der Schweizer Wirtschaft dokumentieren immer deutlicher, daß sie auf die Sozialpartnerschaft bedeutend weniger Rücksicht nehmen wollen als in den Jahren zuvor.16

Die Auseinandersetzung um die nationale Vergangenheit wie um die politische und wirtschaftliche Zukunft der Schweiz mündet in die Frage, ob es möglich sein wird, einen anderen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Visionen eines neuen Gesellschaftsvertrags sind vorhanden. Es kommt darauf an, sie zu debattieren und entsprechende politische Projekte zu gestalten.

1 Friedrich Dürrenmatt, Politik. Essays und Reden, Zürich (Diogenes-Verlag) 1986, S. 69 f.

2 Josef Lang, Katholisch-konservativer Antisemitismus in der Schweizer Geschichte. Professor Altermatts "Freiburger Schule" zwischen Verdrängung und Verharmlosung, in: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik, Heft 32, Januar 1997.

3 Zitiert nach: Markus Heiniger, Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde, Zürich (Limmat Verlag) 1989, S. 223.

4 Vergl. Heiniger, a. a. O., S. 224.

5 Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933-1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich (Chronos Verlag) 2. Aufl., 1994, S. 145.

6 Wieder zugänglich gemacht wurde es durch eine Ausgabe im Diogenes Verlag, Zürich 1989.

7 Zitiert nach: Picard, a. a. O., S. 42.

8 Zitiert nach: Niklaus Meienberg, Eidg. Judenhass (Fragmente). Möglichkeiten u. Grenzen des selektiven Gedächtnisschwundes, in: ders., Weh' unser guter Kaspar ist tot. Plädoyers u. dgl., Zürich (Limmat Verlag) 1991, S. 165.

9 Picard, a. a. O., S. 63.

10 Ebenda, S. 49.

11 Ebenda, S. 39.

12 Vergl. dazu: Peter Farago/Hugo Fasel/Claudia Kaufmann/Carlo Knöpfel, Nationaler Konsens am Ende? Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag für die Schweiz, Luzern (Caritas-Verlag) 1996.

13 Zitiert nach: Urs Zuppinger, Die zerbrochene Solidarität. Zur gewerkschaftlichen Ausländerpolitik der Nachkriegsjahre, in: Arbeitsfrieden - Realität eines Mythos, Widerspruch-Sonderband, Zürich 1987, S. 73.

14 Zitiert nach: Walter Wolf, Walther Bringolf. Eine Biographie. Sozialist, Patriot, Patriarch, Schaffhausen (Verlag am Platz) 1995, S. 188.

15 Zitiert nach: Wolf, a. a. O., S. 202.

16 Vergl. dazu: David de Pury/Heinz Hauser/Beat Schmid (Herausgeber), Mut zum Aufbruch. Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz, Zürich (Orell Füssli Verlag) 1995.