Wird es eine europäische Identität geben?

Gastarbeiter und Internationalismus der sechziger und Massenmigration der neunziger Jahre

Peter Mosler

Eine Stärke, aber auch Schwäche der Gesellschaft der Bundesrepublik ist, daß sie ganz in der Gegenwart fühlt. Die "Ostalgie", eine Gegenprojektion, keine Erinnerung, ist dafür nur eine Bestätigung. Als historischer Bezugspunktspunkt ist zwar das nazistische Dritte Reich der Deutschen präsent - in welcher Erinnerungs- und Denkfigur auch immer - aber die Bundesrepublik selbst stellt sich auch in Westdeutschland fünfzig Jahre nach ihrer Gründung fast geschichtslos dar. Dies ist ein Grund, weshalb es gelingen könnte, die Debatte um ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz zu hysterisieren. Manche Ältere reagieren auf ein neues Problem mit altem rassistischen Komplex und viele Jüngere sehen gar nicht, wo ein Problem liegen könnte. Um so wichtiger sind Erinnerungen in der Bundesrepublik für die aktuelle politische Auseinandersetzung.

 

Vor etwa zwanzig Jahren führten sechs Männer eine Diskussion über Internationalismus. Daß keine Frau dabei war, signalisiert auch etwa die Epoche und ihr Klima. Drei von den Teilnehmern des Gesprächs bekleiden heute hohe Staats- und Parteiämter, einer arbeitet an der Universität. Einer ist Publizist, und den sechsten habe ich aus den Augen verloren. Einer aus der Diskussionsrunde (auch er heute in einer prominenten Parteifunktion) sagte: "Die Verhältnisse ändern heißt, aufgrund der Geschichte, die wir gelernt haben: Macht zersetzen, Macht verunmöglichen, sich auch selber der Macht verweigern. Das ist für mich der Lernprozeß aus zehn, elf Jahren: mich jedesmal als alternative Macht verweigern."

Ich nenne den Namen des Sprechers nicht, und ich habe das auch nicht aus Häme zitiert, denn ich verlange von keinem Menschen "Kontinuität". Ich habe diese kleine Geschichte nur deswegen erzählt, weil ich zeigen will, daß es keinen Sinn hat, der Frage nachzugehen, was aus den damaligen Diskutanten geworden ist. Es ist wie bei einem Klassentreffen: Dort gibt es Erfolgreiche, weniger Erfolgreiche und Versager - und wenn man das Kriterium des Erfolges befragt, kehrt sich plötzlich die ganze Reihenfolge um.

Régis Debray sagte, es sei die Hunderttausend-Dollar-Frage, ob der Internationalismus möglich oder wünschenswert sei. Ich werde - auch Lebensgeschichten erzählend - der Frage nachgehen, was 1968 für uns Internationalismus hieß und wie wir heute diesem Thema wiederbegegnen.

In den USA waren es Zehntausende, die sich im Oktober 1965 am Vietnam Day beteiligten, in Berlin waren es im Februar 1966 Tausende, und ein paar Hundert von ihnen brachen ein zentrales politisches Tabu, als sie Eier auf das Amerikahaus warfen und das Sternenbanner auf halbmast setzten. Das war eine Reaktion auf die Heuchelei: Die Freiheit Westberlins wird in Vietnam verteidigt, Vietnam wird in Westberlin verteidigt.

Zugleich ist es ein Beispiel für die Buschtrommel im globalen politischen System der Neuen Linken, der New Left. In Tübingen verfolgten wir im SDS alles ganz genau und grübelten darüber nach: Was können wir machen? - und so erlebte ich meine erste Demonstration in dieser kleinen Universitätsstadt. Es war am 23. Februar 1966, und ich erinnere mich an dieses Datum, weniger deswegen, weil ein Autofahrer in die Demonstration hineinfuhr und einige Demonstranten leicht verletzte, sondern weil wir in der Nacht danach ein Flugblatt schrieben und es am 24. Februar verteilten, ein Flugblatt, das verdient, zitiert zu werden, weil es mit aller Sanftmut, Milde und Geduld geschrieben worden ist, in der Sprache aus der ersten Stunde der Vietnam-Kampagne des SDS.

An die Tübinger Bürger

Sie hatten es eilig gestern nachmittag. Sie waren müde von der Arbeit, und wir, die Studenten, haben Sie eine halbe Stunde lang gewaltsam aufgehalten. Sie wollten Ihren Weg gehen, und wir sollten den unseren gehen. Aber in diese Gleichgültigkeit haben wir Ärger gebracht, den Sie für überflüssig halten. (...) Sie arbeiten den ganzen Tag, und wenn Sie nach Hause kommen, sind Sie zu müde, um noch viel und lange über Vietnam nachlesen zu können. Und ist es verwunderlich, daß Zeitungen, die im Privatbesitz weniger reicher Leute sind, verschweigen, daß andere, reiche Konzern-Herren auch in der Bundesrepublik Chemikalien und Waffenteile für den Vietnam-Krieg der USA herstellen? Die Konzernherren verdienen gut, verdecken gegenseitig ihre Geschäftemachereien. Gerade weil wir Studenten Zeit haben und weil wir wissen, daß wir auch auf Ihre Kosten leben, sind wir verpflichtet, Ihnen auch solche Dinge mitzuteilen, die Ihnen kein Chef gerne mitteilt. Die gleichen Herren haben schon einmal die Wahrheit ihrer Geschäfte wegen verschwiegen und uns in einen schmutzigen Krieg gestürzt. DAS WOLLEN WIR VERHINDERN - DESHALB GEHT UNS VIETNAM AN. Demokratie, Freiheit, friedliche Vereinigung ist nicht nur unser Ziel. Der Vietcong will das gleiche in seinem Land verwirklichen.

Die Studenten wollten, daß Sie ärgerlich werden, als wir Sie behinderten - ärgerlich allerdings nicht gegen uns, sondern gegen den Terror einer kleinen Gruppe von Mächtigen, den sie ihrer Geschäfte wegen über die Welt verbreiten. Wir wollten, daß Sie aufhorchen: den Anlaß Ihres Ärgers gaben wir, aber den Grund ihres Ärgers lieferten die Kriegsmacher, gegen diese sollten wir all unseren Ärger und gemeinsamen Widerstand richten. Um dies klarzustellen, mußten wir erst die Gleichgültigkeit zwischen uns und Ihnen beseitigen.

Sozialistischer Deutscher Studentenbund Tübingen

Das war der Ton der ersten Stunde, als wir es das erste Mal mit der "Bevölkerung" zu tun hatten, die uns so unbekannt wie ein Alien war - schwäbischer Gewerbefleiß und verbissenes schwäbisches Vorurteil -, und so entstand ein Text mit dem obligaten Verweis aufs Dritte Reich, auch auf die Wiedervereinigung, ein wenig hausbacken und mit Ärmelschonern wie seine Adressaten. Daß danach "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?" kam und "Waffen für den Vietcong!" wissen wir. Die zweite Parole brach ein pazifistisches Tabu und war darin wichtiger für das Selbstverständnis derer, die den Aufruf ausgesprochen haben als für den Vietcong, der vermutlich nie eine Waffe aus Berlin, Hamburg oder Frankfurt bekommen hat.

Das bürgerliche Erschrecken wuchs, nicht nur über den Ton der Neuen Linken, sondern auch über den Vietnam-Krieg. Martin Walser hielt am Internationalen Vietnam-Tag Oktober 1967 eine Rede, in der er erzählte, was der Bundespräsident Heinrich Lübke an den US-Präsidenten Johnson kabelte, als er ihm im Juli zum amerikanischen Nationalfeiertag gratulierte: "Zum Unabhängigkeitstag Ihres Landes übermittle ich Eurer Exzellenz und der amerikanischen Nation meine und des deutschen Volkes beste Glückwünsche... Möge auch der gegenwärtige Kampf, den Ihr Land als Vorkämpfer der Freiheit gegen die Mächte der Unterdrückung in Ostasien führt, von Erfolg gekrönt und es Ihnen bald vergönnt sein, sich ausschließlich Ihrem großen Friedenswerk zum Nutzen aller Völker der Welt zu widmen."

Martin Walser war damals schon der Sprecher eines liberalen Bürgertums, das den Spiegel und die Frankfurter Rundschau liest, ein Publikum, das in Sorge gerät, wenn zuviel Engagement gezeigt wird - sei es auf dem Schlachtfeld in Vietnam oder in der Politik der Erinnerung. Deswegen bat Walser damals seine Hörer um ihre Unterschrift unter diesen Satz: "Ich ersuche die im Bundestag vertretenen Parteien, Vietnam auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen."

Ich hielt so eine Unterschrift für mich nicht für angebracht, sondern ging demonstrieren. Wenn wir auf die Straße gingen, war es meistens für ein fernes Land, ob Vietnam, Persien oder Kongo - aber wir meinten kaum dieses Land, sondern die Aufkündigung der Loyalität mit unserem eigenen Land, mit Lübke und Kiesinger. - Später, bei der Besetzung von Hochschul-Instituten, lasen wir hochgestimmt den Beschluß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas über die Große Proletarische Kulturrevolution: "Eine große Anzahl revolutionärer junger Leute, die vorher völlig unbekannt waren, sind zu mutigen und wagenden Bahnbrechern geworden. Sie sind energisch in der Tat und intelligent. Sie kritisieren die Dinge gründlich und greifen entschlossen die offenen und versteckten Vertreter der Bourgeoisie an."

Wir fühlten uns nicht wenig geschmeichelt von dieser scharfsinnigen Beschreibung, als wir heldenhaft die Universität besetzten. Was die Kulturrevolution wirklich war, begriffen wir erst 10, 20 Jahre danach. Vorläufig nahmen wir uns die Theorie Lin Biaos von der "Einkreisung der Städte durch die Dörfer" zu Herzen, eine Revolutionstheorie, nach der die Länder der Dritten Welt sich zum Sozialismus bekennen - wie es der Kongo pünktlich 1968 mit einem marxistisch-leninistischen Einparteienregime tat - und dadurch unsere, die Erste Welt, zu einer Insel des Kapitalismus wurde.

In Wirklichkeit waren die Dritte Welt und ihre Befreiungsbewegungen eine Wunschlandschaft der außerparlamentarischen Bewegung der sechziger Jahre. Meine Revolutionstheorien waren global, aber mehr als die europäischen Nachbarländer kannte ich nicht. Im Urlaub fuhr ich zuerst nach Italien, Rom und in die Toskana. Dann nach Griechenland, Athen und Kreta, auch nach Jugoslawien. Die "Gastarbeiter" waren auch aus Italien, Griechenland und Jugoslawien, und sie hießen so, weil sie einen limitierten Arbeitsvertrag hatten. "Gäste läßt man nicht arbeiten", sagte mein griechischer Freund Nikos lakonisch, und richtige Migranten, Siedler oder Flüchtlinge kannten wir noch gar nicht. Es waren Arbeitskräfte aus fremden Ländern für deutsche Fabriken, und da sie geringe Kosten verursachten, fielen sie kaum auf. Ausländische Studenten sah man selten an der Universität, und ein Türke berichtet, daß ihm Anfang der sechziger Jahre die Ausländerbehörde zu seinen bestandenen Examina gratulierte und daß er zu Weihnachten und Silvester 19 Einladungen von deutschen Familien erhielt. Meine Küche reichte damals nicht viel weiter als bis Wiener Schnitzel im Süden oder Boeuf Bourgignon im Westen. Im SDS Tübingen war Mona, eine farbige südafrikanische Studentin, Mitglied, die ich nie näher kennenlernte, und die nie gebeten wurde, von ihrer Heimat zu berichten. In den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre war die alte Bundesrepublik das, was die DDR dreißig Jahre später noch sein sollte: Ganz unter sich. Lauter Deutsche.

Im letzten Jahr habe ich einen Mann wiedergesehen, der mir schon damals im SDS Tübingen sympathisch war - ein rotblonder Haarschopf, der sich inzwischen grau gefärbt hat. Als er mir von seinem Leben erzählte, fiel mir auf: Wir wußten im SDS wenig voneinander.

Der Vater meines Freundes Bernard Mommer war Kommunist - bis zu den Moskauer Schauprozessen - danach Sozialdemokrat. Der Mann war nie für den Antisemitismus der Zeit anfällig - aber gleichzeitig ein strammer deutscher Nationalist ...! Die eigenen Eltern sind immer der Grund gewesen, wenn wir uns schämten, Deutsche zu sein. Bernard, in Frankreich geboren, seine Mutter aus Flandern, fühlte sich in Deutschland nie heimisch. Er ging mit fünfzehn ein Jahr in Belgien auf die Schule und machte als Student in Tübingen den einzigen ernsthaften Versuch, sich in Deutschland zu integrieren. Der Versuch schien auch ganz erfolgreich - wenn nicht der Vater gewesen wäre. Der richtete seine ganze Wut und Aggressivität gegen den SDS und überhaupt gegen jeden Versuch, sich politisch einzumischen. Dem fühlte sich Bernard nicht gewachsen, und er zog 1970 nach Venezuela.

Warum gerade in dieses Land? Bernard kannte über den SDS Linke aus Venezuela, und er arbeitete dort eng mit einer illegalen Gruppe zusammen, die sich aus der Guerilla-Tätigkeit der sechziger Jahre entwickelt hatte. Er versuchte nicht nur, Land und Leute zu verstehen, sondern er veröffentlichte auch politökonomische Schriften, in einem politischen Verlag, unter Pseudonym. Bis er begriff, daß er sich politisch auf einem Holzweg befand, und als er glaubte, ein richtiger Venezolaner geworden zu sein, kam die Krise auf eine andere Weise: Bernard war leitender Angestellter in der nationalen Ölgesellschaft, und mit dem Zusammenbruch des Landes feuerte die Reaktion aus allen Rohren gegen die nationalisierte Industrie. Bernard wollte nicht mitmachen bei diesem Autodafé und ließ das auch alle Welt wissen - was bei dem politisch überhitzten Klima in Venezuela nicht ungefährlich war. Er war inzwischen als Venezolaner eingebürgert und wollte vor allem eines: das Land verlassen.

Heute arbeitet er in einem wissenschaftlichen Institut in England, und er hat den Wunsch dazuzugehören nie ganz aufgegeben: Sein Paß ist venezolanisch, sein Wohnort England, seine Frau Venezolanerin, er spricht englisch mit deutschem Akzent, französisch mit belgischem Tonfall und spanisch wie ein Einwanderer.

Es hat nur zwanzig Jahre gedauert von jenem Hinterzimmer, an dessen Tür BRD stand - und drinnen wurde deutscher Skat gespielt, deutsches Bier gesoffen, und man blieb unter sich - bis zu der Zeit, da Millionen anderer Muttersprache im Lande leben. Unsere Epoche ist durch Globalisierung der Wirtschaft, rasch zunehmende Mobilität, gewaltige Wanderungsbewegungen und Vertreibung ganzer Bevölkerungen, Verstädterung und Wandel sozialer Muster gekennzeichnet.

Zurück in die fünfziger Jahre. Eine wenig beachtete Aktion jener Zeit war der Kampf gegen den Algerien-Krieg, obwohl uns die Parolen jener Jahre bekannt vorkommen: "Wenn Algerien fällt, ist das Abendland bedroht." Der Krieg der französischen Kolonialtruppen kam in den westdeutschen Medien, geschweige denn im westdeutschen Bewußtsein, kaum vor, und eine Gruppe Berliner Studenten, unter ihnen Reimar Lenz und Wolfgang Fritz Haug, wollten mit einer Dokumentarausstellung die Greuel des Kriegs in der BRD zum Thema machen. Das Motiv dieser Arbeit war keineswegs, dem Adenauerstaat die Loyalität aufzukündigen, sondern ein zugespitzter Menschenrechtsstandpunkt gegen die Folterverbrechen im Algerienkrieg. Die Ausstellung nannte Zahlen und Fakten, die die Presse verschwiegen hatte: 3 Millionen Verschwundene (Getötete, Flüchtlinge und Verschleppte), systematische Folterung durch die Kolonialtruppen. Auch die Methoden der Partisanen sollten nicht unkritisch dargestellt werden. Die kleine Gruppe Berliner Studenten fühlte sich nicht als Verbündete der FLN. Reimar Lenz dachte bei der Algerienausstellung an mehr als nur Politik, was ihm schon 1959, als er zu den Organisatoren des "Ersten Studentenkongresses gegen Atomrüstung" in Berlin zählte, den Vorwurf eintrug, unpolitisch zu sein. Auf diesem Forum war nicht nur der Wehrexperte der SPD, Helmut Schmidt, präsent, sondern auch Ulrike Meinhof und Klaus-Rainer Röhl. Lenz saß eine Nacht mit anderen Aktivisten der Anti-Atomtod-Bewegung zusammen. Ulrike Meinhof bestand bis in den frühen Morgen darauf, daß von den sowjetischen Atomwaffen in der Schlußerklärung nicht die Rede war. Röhl setzte in der Resolution die Forderung nach der Anerkennung der DDR durch.

1961 entstanden in der BRD an den Universitäten "Algerienausschüsse", die die Wander-Ausstellung über den Krieg weitertrugen. Sie kam von Westberlin nach Göttingen, Heidelberg, Frankfurt, München, Braunschweig, Kiel und Villingen. Der Algerienkrieg war damals ein Fokus der Linksintellektuellen. Enzensberger hielt bei der Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt eine Rede: "Wer wird uns glauben, wenn wir von 800000 getöteten Algeriern nichts wissen wollen? Schon einmal haben wir alle miteinander nichts wissen wollen." Lenz verstand den Krieg in Algerien in einer antitotalitären Tradition als Fortsetzung der Aufstände in Berlin, Budapest und Posen und wollte vor allem die Greueltaten der Kolonialtruppen anprangern. Seine Haltung war ein moralischer Rigorismus Camusscher Prägung, und dieser parteilose Internationalismus hätte den linken Aktivisten vielleicht auch besser zu Gesicht gestanden als jener parteigebundene Internationalismus, in dem sie ihre Solidarität vorzugsweise an Parteien gleicher Couleur vergeben.

Es gibt einen Kreis, den man von damals bis heute schlagen kann: mit Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde. Sartre schrieb im Vorwort: "Aus Paris, London und Amsterdam lancierten wir die Wörter ,Parthenon! Brüderlichkeit!` und irgendwo in Afrika, in Asien öffneten sich die Lippen ,<193>thenon! <193>lichkeit`." Sartre fügt hinzu: "Das war das Goldene Zeitalter." Jetzt sind sie, die Verdammten dieser Erde, aus den Dörfern in Anatolien, Ruanda oder Kasachstan zu uns nach Europa, nach Deutschland aufgebrochen. Die Bewegung aus Europa heraus nach Nordamerika begann 1496 mit Giovanni Caboto und hat sich inzwischen umgekehrt. Menschen aus Asien, Afrika, auch Lateinamerika kommen zu uns. Das heißt aber auch: Der europäische Wertekodex steht auf dem Prüfstand.

Nehmen wir Berlin: Ein Teil der Stadt war früher eine Insel, der andere die Hauptstadt eines abgeschotteten Landes, und als ich Anfang der neunziger Jahre in die wiedervereinigte Stadt kam, feierten die Glatzen "eine Party" in den S-Bahnen, das heißt: Bier saufen, Ausländer anpöbeln und prügeln. Ich besuchte in einem Krankenhaus in Berlin-Buch einen jungen Schwarzen, den Skinheads aus dem fahrenden Zug geworfen hatten und der dabei ein Bein verloren hatte. Durch die rechtsextremen Haßminoritäten werden Grundlagen der zivilen Gesellschaft zerstört. In Ostberlin und Brandenburg gibt es "no-go-areas" für Farbige, "nationale befreite Zonen", die von Glatzen bewacht werden.

Der verletzte Ghanaer ist inzwischen von einer Brandenburger Familie aufgenommen und adoptiert worden. Aus dem Krankenhaus hat er eine Rechnung über 40000 DM für die medizinische Behandlung erhalten... .

Der "Zirkel des Hasses", den Fanon für Algerien beschreibt und der aus Verachtung, Erniedrigung, Gewalt und Gegengewalt entsteht, hat seinen Weg in die "gute Stube" der "Mutterländer" gefunden. In den "neuen Ländern" ist die Gefahr für Leib und Leben dreißigmal so groß wie anderswo - auch wenn Feridun Zaimoglu im Vorwort von Koppstoff schreibt, daß Angriffe sich in Magdeburg-Olvenstedt ebensogut ereignen wie in Neumünster-Gadeland, Itzehoe, Kremperheide oder Hamburg-Bergedorf. Der "Zirkel des Hasses" schlägt inzwischen in Deutschland einen Kreis der Gewalt: Türkengangs, Skinheads und der Stammtisch, an dem es heißt, "Wer deutsch ist, bestimmen wir!"

In Berlin ist der äußerste rechte Rand der Parteien immer besetzt gewesen, ob Neubauer, Lummer oder Schönbohm, und diese Politiker haben ihre Klientel in den Vierteln der Stadt. Zugleich ist Berlin, soll Berlin eine Integrationswerkstatt sein: In dieser Stadt leben 172 Nationen, mehr als eine halbe Million fremdsprachiger Bürger, die größte ethnische Minderheit sind mit 160000 Menschen die Türken, davon 20000 eingebürgert. Die Berliner werden sich daran gewöhnen müssen, eine Weltstadt zu sein. Keine Weltstadt ohne Ausländer.

Als Schönbohm noch Innensenator von Berlin war, meldete er sich mit seinem Wunsch nach einer "deutschen Leitkultur", soll heißen: Primat der deutschen Kultur und Lebensverhältnisse. Es gebe Ghettos, Quartiere in der Stadt, monierte er, die so sind, daß man sagen kann: Dort befindet man sich nicht in Deutschland. Ebenso hieß es in der ursprünglichen, der ersten Fassung des Ausländerpapiers der CDU: Wer Berlin als Heimat wähle, "von dem muß auch die Hinwendung zur deutschen Lebenswelt erwartet werden". Dieses Papier ist in seiner wünschenswerten Klarheit nicht verabschiedet worden, weil die Ausländerbeauftragte von Berlin, Frau John, es nicht mitgetragen hat. In interessierten Kreisen heißt es, daß die Integration gescheitert sei.

In dieser Zeit haben wir uns zusammengesetzt, beleidigt von politischen Rüpeleien und angegriffen von dem Haß und der Gewalt gegen Minoritäten in der Stadt. Wir: Das waren Professoren, Politiker, Soziologen, Architekten, Stadtentwickler - auch Reimar Lenz und ich -, fast alle geprägt von 68 und mit dem Wunsch, die Verhältnisse in Berlin nicht hinzunehmen. Als wir uns trafen, war es in einer Verbindung kühler analytischer Fähigkeit und eines emotionalen Surplus, eine Verbindung, die selten bei Politikern und Wissenschaftlern zu finden ist. Der Staatssekretär für Stadtentwicklung in der Umweltverwaltung, Hans Stimman, sagte, es gebe dieses Déjà-vu, das Gespräch mit den Eltern: Was hast du damals getan, und das wolle er sich nicht von seinen Kindern fragen lassen. Hartmut Häußermann, 68 im AStA der FU, heute Professor an der Humboldt-Universität, sagte: "Ich fühle mich mitschuldig, daß so etwas in der Stadt passieren kann." Der Elan der ersten Stunde war kein Dauerzustand. Wie üblich schälte sich ein arbeitender Kern heraus, der in unregelmäßigen Abständen alle zusammenruft. Wir wollen eine Toleranzdeklaration entwerfen, von der wir wünschen, daß sie unter Politikern diskutiert wird wie in Schulen oder Polizeistationen. Wir haben eine Internet-Homepage "Civilgesellschaft" eingerichtet, auf der jeder aufgefordert wird, zu notieren, wie er die Forderungen der Deklaration in seinem Umfeld verwirklicht - damit die Zustimmung keine folgenlose Gutmenschenerklärung bleibt. Was können wir tun, damit der Landfrieden in Berlin wiederhergestellt wird?

Gibt es nicht genug andere Initiativen, die gegen Fremdenhaß kämpfen? Das stimmt - es gibt 300 Ausländerprojekte in Berlin, die gefördert werden, und <%10>1<%0>638 Berliner Adressen im Internet zu Ausländern und Rassismus. Die "Werkstatt Berlin" unterscheidet sich von ihnen jedoch darin, daß sie ein offenes Fenster für Politik und Wirtschaft hat.

Die Industrie- und Handelskammer hat ihr Interesse angemeldet. Vertreter der Wirtschaft haben ein Interesse daran, daß Bürgerrechte nicht verletzt werden und daß es eine Zuwanderung gibt, die jährlich zwischen 300000 und 400000 liegt. Nur im öffentlichen Diskurs ist das nicht konsensfähig, auch wenn gesagt wird: Es geht nicht um Nächstenliebe, sondern um wirtschaftliche Interessen, so CDU-Mitglied Professor Oberndörfer.

Wir werden respektieren müssen, daß in der U-Bahn türkisch, russisch oder vietnamesisch gesprochen wird. Zur Integration im neuen Jahrtausend gehört nämlich, daß die Zuwanderer eine doppelte Identität entwickeln werden. Sie geben die Kultur ihres Herkunftslandes nicht auf, weil die Türkei im 20. Jahrhundert näher an Deutschland liegt als Polen im 19. lag. Polen aus der Wanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts leben heute hier als die deutschesten Deutschen und heißen Radunski, Marczinkowski, Pawlowski, Sczymanski. Die Türken des 21. Jahrhunderts in Deutschland heißen Özcan oder Dilmac, aber nicht mit Vornamen Gerd oder Rainer. Man kann sich heute einschalten in sein Herkunftsland durch das Fernsehen (93 Prozent der türkischen Haushalte in Berlin haben Kabelfernsehen), durch Internet oder durch Telefon. Das ist einer der Gründe, warum Migranten auch auf ihrer Herkunftskultur bestehen und im besten Fall eine doppelte Identität entwickeln. Sie wachsen zweisprachig und bikulturell auf. Ich weiß, es gibt auch zweisprachigen Analphabetismus, aber doppelte Identität kann auch eine große Erweiterung des politischen und kulturellen Horizonts sein. - Die europäische Einigung kann sich nur deshalb vollziehen, weil es nicht mehr den gesellschaftlich herrschenden Typ des Kriegers, des Soldaten gibt. An seine Stelle tritt der Typ des Spielers, sagt György Konrád. Vielleicht ist es auch einer, der mit den Kulturen spielt und Dolmetscher seines Landes für uns sein wird.