Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft von Individuen

Claude Lefort

Heute ergeben sich Anzeichen einer neuen politischen Sensibilität, neuer Formen des Engagements. Am Rande der großen Parteien bemühen sich minoritäre Gruppen, die öffentliche Meinung um konkrete Ziele herum zu mobilisieren, wie den Umweltschutz, die Gefahren der Kernenergie, willkürliche Entlassungen, die Unsicherheit in den Städten und den Vororten, die Lage und das Schicksal der Eingewanderten. Diese Art des Handelns entspringt einem neuen Realismus und hat insofern eine politische Bedeutung, als die Teilnahme der Citoyens an den öffentlichen Angelegenheiten das Ziel ist, sowohl auf lokaler als auf nationaler Ebene. Die neue Art, in das öffentliche Leben einzugreifen, scheint mir das Bild einer entpolitisierten Gesellschaft Lügen zu strafen. Dieses Bild entnimmt man der Feststellung, daß die großen Glaubensgrundsätze von einst verfallen – als ob es das beste aller Dinge wäre, zu glauben, selbst wenn man an Lügen glaubt oder sich selbst belügt. Aber diese Anzeichen kontrastieren mit anderen, die mir ebenfalls charakteristisch für die letzten Jahre zu sein scheinen: die Anzeichen einer Entwicklung von neuen Populismusformen. Es gibt einen Populismus in den Farben der Rechtsextremen: 15 Prozent der Wähler haben sich für Le Pen ausgesprochen und eine noch größere Zahl stimmt den Meinungsumfragen zufolge zu, daß manche seiner Ideen gut seien. Aber es gibt auch einen Linkspopulismus. Der Populismus hat drei Zielscheiben: die Macht der Technokratie, die Macht der Parteien und die Macht der Medien. Auf seiten der Linken haben wir es mit einem neuen Phänomen zu tun. Die soziale Kritik ist nun einer jeglichen einigermaßen glaubwürdigen Perspektive entledigt: Die Sprache des Klassenkampfs – Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie –, das Programm einer proletarischen Macht sind nun, und sei es nur deshalb, weil die Arbeiterklasse beträchtlich geschwunden ist, ihres Sinns entleert (außer in den durch nichts zu erschütternden Köpfen der Trotzkisten). Es bleibt also nur der Bezug auf das stumme Volk, auf ein Volk, das als kompaktes vorausgesetzt wird und dessen vielfältige Bestandteile angesichts derer, die über die Entscheidung oder das Wort verfügen oder die öffentliche Meinung manipulieren, keiner Analyse bedürfen. Vom Marxismus, selbst von dem durch Sartre simplifizierten und karikierten Marxismus, bleibt nichts: Der Konflikt wird somit auf den Gegensatz zwischen "denen da oben" und "denen da unten" zusammengestrichen.

Die Gefahr der Entwicklung einer technokratischen Schicht und eines technokratischen Geistes, die den Bürgern, die sich in die öffentlichen Angelegenheiten einmischen wollen, jegliche Kompetenz absprechen, ist nicht zu unterschätzen. Ich streife dies hier nur, aber wenn es etwas an der Bildung Europas zu befürchten gibt, dann ist es das Anwachsen einer Technokratie, deren Entscheidungen, mehr noch als heute schon, Gefahr laufen würden, jeglicher Kontrolle durch gewählte Vertreter zu entgleiten. Ich nehme aber andererseits sehr wohl die Fehler der Parteien wahr, die dahin tendieren – ich sage mit Vorbedacht "tendieren" –, nach dem berühmten Modell des "demokratischen Zentralismus" zu funktionieren. Nichtsdestoweniger kann man heute sowohl in Frankreich wie in Deutschland oder in Italien beobachten, daß diese Parteien und die Koalitionen, die sie bilden, bei weitem nicht mit einer einzigen Stimme sprechen. Wie jeder andere, mit einigem kritischen Sinn ausgestattete Beobachter auch, schätze ich schließlich die Wichtigkeit ein, die die Medien, insbesondere das Fernsehen, erlangt haben, und das Entstehen einer Art demokratischen Basars – um ein Bild aufzugreifen, das man schon in Platos "Republik" findet –, in dem Meinungen, Informationen, bedeutende oder unbedeutende Fakten unentwirrbar verschlungen sind. Unnötig, sich lange bei diesem Punkt aufzuhalten: Die Kritik der Medien ist zu einem Gemeinplatz geworden, der kaum glanzvoller ist als die Gemeinplätze, die diese Medien transportieren.

Diese Beobachtungen verleiten mich jedoch nicht dazu, auf einen Verfall der Demokratie zu schließen. Anstatt die Technokratie global zu verdammen, ist es wichtig, nach Mitteln zu suchen, um die Rekrutierungsmethoden für Führungskräfte in der höheren Verwaltung zu verbessern. Anstatt das Parteiensystem anzuprangern, ist es lohnender, sich für seine Finanzierungsweise zu interessieren und jene Reformen zu unterstützen, welche die Ämterhäufung untersagen. Anstatt sich über die Medien zu empören, ist es angebrachter, über die Ethik des Journalistenberufs zu streiten und das Recht auf Information und die Interessen der Justiz gegeneinander abzuwägen. Nun vervielfältigen sich bemerkenswerterweise Diskussionen dieser Art. Sie zeugen von einer neuen, bewußten Wahrnehmung der Probleme, die schon seit langem bestanden. Aber sie sind nur unter der Bedingung fruchtbar, daß die unausweichlichen Spannungen, die im Wesen der Demokratie liegen, auch zugelassen werden.

Die Gefahren, die die Ausbreitung der Technologie darstellen, verdienen zu Recht Aufmerksamkeit. Dieses Phänomen wird jedoch erst verständlich, wenn man das große Charakteristikum der modernen Demokratie nicht aus den Augen verliert: die Trennung der politischen Macht und der administrativen Macht. Auf der einen Seite eine Macht, die nicht mehr in einer souveränen Person oder Institution verkörpert ist: Eine Macht, die voraussetzt, daß die Ausübung der öffentlichen Autorität zeitweilig den vom Volk Gewählten anvertraut wird, so daß diese Autorität immer in Abhängigkeit von den Konflikten der Interessen, der Glaubensgrundsätze und der Meinungen bleibt. Auf der anderen Seite eine Verwaltung, deren Ausführende entsprechend dem Kriterium der Kompetenz rekrutiert werden und die Fortdauer des Staates garantieren. Die Bürokratie, insbesondere die auf höherer Ebene, entspricht nicht nur Funktionalitätserfordernissen, wie es Max Weber nahelegt; sie bildet ein "Milieu": Ihre Mitglieder werden dazu angestiftet, ihre Macht zu maximieren – zugleich als Individuum und als Teilnehmer einer Gruppe, die sich in Distanz zu den Zusammenhängen der Bürger abgrenzt und aus ihrer Position den Anspruch auf einen universellen Standpunkt ableitet. Diese Bemerkung erscheint banal, aber sie wird es weniger, wenn man gewahr wird, daß sich in einem totalitären Regime niemals eine Technokratie herausgebildet hat (im Widerspruch zu den Hypothesen zahlreicher Sowjetologen, die aufgrund der wachsenden Komplexität von Aufgaben, denen sich der Staat im Zeitalter der Technik gegenübersieht, dachten, eine Technokratie sei dabei, sich auf Kosten der Partei durchzusetzen). Wie groß auch immer das Ausmaß der Bürokratie in Rußland war, die Natur des Regimes untersagte jede Trennung von Politischem und  Nicht-Politischem, einschließlich der Abkoppelung von Partei und Staat; diese Natur des Regimes ließ keinen Platz für einen unabhängigen Brennpunkt der Autorität.

Es ist unnötig, diese Argumentation länger fortzuführen: Ich beschränke mich auf die Bemerkung, daß auf der anderen Seite die Kritik an den Unzulänglichkeiten der Parteien die Entwicklung dieser Mängel unaufhörlich begleitet hat und daß sie, so begründet und notwendig sie auch war, die für die freiheitliche Demokratie konstitutive Anforderung eines repräsentativen Systems nicht vergessen machen kann. Die Vielzahl der partikularen und gruppenförmigen Interessen kann nur durch Organe geordnet werden, die befähigt sind, eine Alternative oder allgemeine Alternativen zu formulieren. Ich unterschätze bei weitem nicht die Funktion der Parteien: Die Wirksamkeit der Repräsentation setzt die Existenz eines Netzes von Organisationen voraus und hängt von dessen Stärke und Kraft ab. Nicht weniger sicher ist, daß allein der Wettstreit der Parteien, die die Ausübung der Regierung anstreben, die von den sozialen Gruppen formulierten Forderungen in ihrer Allgemeinheit erscheinen läßt und daß allein dieser Wettstreit einen Rahmen bietet, in welchem sich diese Forderungen ohne Rückgriff auf Gewalt übersetzen können. Ebenso entspringt die Kritik der Macht der Medien, so begründet und notwendig sie ist, dem Umstand, daß es der politischen Macht – abgesehen von Grenzsituationen – unmöglich ist, eine Zensur über den Gebrauch der Meinungs- und Redefreiheit auszuüben.

Ein Hauptmerkmal des allerletzten Abschnittes des 20. Jahrhunderts scheint zu sein: die Verleugnung des Politischen unter dem Deckmantel von demokratischen Diskursen. Zwei große Wandlungen haben sich vollzogen: Die eine ist mit einem datierbaren Ereignis verbunden; die andere hat sich allmählich vollzogen, bevor man sich ihres Ausmaßes bewußt wurde. Die eine hängt mit dem Auseinanderfallen des sowjetischen ebenso wie der osteuropäischen Regimes und mit dem Verschwinden des Modells einer kommunistischen Gesellschaft zusammen. Die zweite besteht in einer Destrukturierung der modernen westlichen Gesellschaften als Folge einer technologischen Revolution, die den Sektor der Großindustrie und den Platz, den die Arbeiterklasse in dieser Gesellschaft innehatte, erheblich reduziert. Ich habe dieses Phänomen, das die alten Klassengegensätze verwischt, bereits angesprochen. Man müßte jedoch einen dritten, viel schwerer zu erfassenden Wandel berücksichtigen, der sich in den Lebensgewohnheiten durchsetzt und nicht die einfache Folge der beiden vorhergehenden Wandlungen ist.

Was sich als Folge dieser Ereignisse allmählich durchsetzt – oder besser gesagt: was eine neue Kraft erhält –, ist die Vorstellung der Gesellschaft als "Gesellschaft von Individuen". Diese Vorstellung wird hauptsächlich vom Neoliberalismus verfochten, der sich in den letzten Jahren ausgebreitet hat und dessen Auswirkungen wir erst jetzt zu ermessen beginnen. Aber der Begriff der "Gesellschaft von Individuen" befindet sich außerhalb des liberalistischen Rahmens, als Eckpunkt einer Ethik, welche die Anerkennung des "Anderen" – was immer er sei – für sich beansprucht.

Ich komme auf das erste Ereignis zurück, um die Verleugnung des Politischen herauszustellen. Aus dem Zusammenbruch des Kommunismus hat man geglaubt, schließen zu können, daß es keine Alternative mehr zur Demokratie gäbe. Die durch den Philosophen Fukuyama erstellte Prognose eines Endes der Geschichte hat einen erstaunlichen Erfolg erfahren. Wie man weiß, zeugte sein Urteil in Wirklichkeit nicht von einem Glauben an den Fortschritt: Die Herrschaft der Demokratie bestätigte eher die Strausssche und darüber hinaus die nietzscheanische Vision eines endgültigen Verfalls der Menschheit. Wie dem auch sei ... Der Fall des Kommunismus bedeutete für die liberalen Experten das Ende einer Utopie und in erster Linie die Wiederentdeckung der Zwänge der Wirklichkeit. Die Wiederherstellung der Unternehmens- und Handelsfreiheit und der damit einhergehenden Vertragsverfahren mußte notwendigerweise zur Errichtung eines Rechtsstaates führen. Kurz gesagt war das dieser Prognose zugrundeliegende Schema dieses: die Errichtung einer neuen wirtschaftlichen Infrastruktur, auf der sich, unabhängig von den Schwierigkeiten des Übergangs, ein demokratisch-liberaler Überbau errichten mußte. Der zu Anfang der 90er Jahre bevorzugte Begriff war eben jener des "demokratischen Übergangs". Die Probleme, die das vom Kommunismus hinterlassene Erbe der Knechtschaft, der Mißachtung des Rechts und der Korruption stellte, wurden völlig verkannt. Was den demokratischen Übergang angeht, so bestätigen nur Polen, Ungarn und Tschechien, vielleicht auch Slowenien die Prognose, das Europa des Balkans gewiß nicht. Was die ehemalige Sowjetunion angeht, so ist ihr Reich zerfallen und man sucht vergeblich nach den Spuren eines Demokratisierungsprozesses in den neuen Staaten. Rußland schließlich versinkt in der Anarchie und man weiß nicht, wie es dort herauskommen wird. Besonders aber ist hier jenes Ereignis zu erwähnen, das die Vorhersagen der Experten am meisten widerlegt und die westlichen Regierenden gelähmt hat: der Krieg, der das ehemalige Jugoslawien verwüstet hat; ein Krieg, der von einem Nationalismus und einem Säuberungsplan angestachelt war und der, inmitten eines Europas, von dem man dachte, es habe keine andere Wahl mehr als das Modell der westlichen Gesellschaft, zuvor für undenkbar gehalten worden war.

Der Anblick des Dahinsiechens eines Teils von Osteuropa, das Unvermögen Rußlands, demokratische Institutionen zu errichten, und das Fortbestehen von Methoden, die der Autokratie zuzurechnen sind (erinnern wir uns der Bombardierung des Parlaments in Moskau), schließlich die Anzeichen eines Erwachens des Nationalismus – all dies hat die Gewißheiten des Neoliberalismus nicht erschüttert. In dieser Weise hat man die lautstarke Ankündigung einer Mutation in der Geschichte der Menschheit unter dem Einfluß der Liberalisierung des Handels im Weltmaßstab vernommen. Das damalige Modewort war: Globalisierung. Infolgedessen wurde der Gedanke des demokratischen Übergangs auf die ganze Welt angewandt. Ich will hier nicht an die Einwände erinnern, welche die Prognose eines von einer "unsichtbaren (und ach so vergrößerten) Hand" geregelten Weltmarktes von einem rein ökonomischen Standpunkt her wachrief. In Wahrheit ist kein Beweis dafür erbracht worden, daß die Marktgesetze eine Restrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Ländern ermöglichen würden, in denen ein erheblicher Bruch besteht zwischen dem Teil der Bevölkerung, der die Vorteile des Marktes zu nutzen in der Lage ist, und der Masse der Armen, die des Lesens unkundig sind und die jeglicher Mittel zum Widerstand gegen die Ausbeutung durch Arbeit beraubt sind. Ich berühre hier das utopischste aller Argumente, daß man nämlich das Entwicklungsschema der westlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts auf Gesellschaften übertragen könne, deren Traditionen gänzlich andere sind. Wie ich selbst anläßlich eines Kolloquiums zur Globalisierung vor drei Jahren in Rio de Janeiro bemerken konnte, gab es eine Spezies von liberalen Ökonomen, die überzeugt waren, daß sich die von Tocqueville beschriebene "Gleichheit der Stände" im Laufe des 21. Jahrhunderts über die ganze Erde ausbreiten würde – das heißt, nachdem man über die Schwierigkeiten hinweggekommen und es den verschiedenen Ländern gelungen wäre, unter der Wirkung der Marktzwänge ihre Investitionen auf jene Sektoren zu konzentrieren, die ihnen die größte Wettbewerbsfähigkeit sichern. Für diese Ökonomen stellen die Gegenwart, die Konflikte, die sich in Afrika, Asien oder im Nahen Osten oder auch inmitten Europas abspielen, lediglich Wechselfälle dar. Die Krise, die wir gegenwärtig als Folge einer brutalen Liberalisierung des Handels erleben, hat der Euphorie der Liberalen ein Ende gesetzt. Aber es ist bezeichnend, daß die meisten von ihnen (angefangen beim Präsidenten des IWF) sich damit begnügen, von Ausrutschern der finanziellen oder monetären Ordnung zu sprechen. Sie sehen nicht, daß die Globalisierung, oder genauer: die Bildung eines Welt-Raums, oder auch die Tatsache, daß die Erde, einem Ausdruck Valérys folgend, ein "abgeschlossener Raum" geworden ist – daß also dieses Phänomen sich nicht nur in die Zirkulation von Waren, von Techniken und von Kapital übersetzt, sondern daß dies ein In-Bezug-Setzen von heterogenen gesellschaftlichen Strukturen, heterogenen Regierungsformen, Verhaltens- und Glaubensweisen einschließt. Man sollte nicht nur sagen, daß die Modernisierung ein Hindernis in den in der Vergangenheit verankerten Praktiken findet, sondern eher die Wirbel beachten, die aus dem Aufeinandertreffen von divergierenden Strömungen resultieren und neue, zuvor undenkbare Phänomene erzeugen können. Zwei Beispiele drängen sich sofort auf: das Auftreten eines völkermörderischen Nationalismus in Europa selbst und der Aufstieg des Fundamentalismus und des Integrismus. Man spricht gern vom Zusammenprall der Kulturen oder der Religionen, aber es heißt zum Teil, die Bildung neuer Herrschaftsmodelle zu maskieren, die nichts anderes tun, als ethnische Rivalitäten und religiöse Bestrebungen auszunutzen, um Massen um revolutionäre Ziele herum zu mobilisieren. Es wäre nutzlos, die Augen davor zu verschließen, daß uns der Globalisierungsprozeß unvorhersehbaren Ereignissen aussetzt, die um so mehr zu fürchten sind, wie die Bedrohung nicht beachtet wird und wie sich die UNO, im Namen des Prinzips der Nichteinmischung oder einfach aufgrund von internen Streitigkeiten, der notwendigen Interventionsmittel – außer in Grenzsituationen – entledigt sieht.

Mir scheint, man kann sich eine Vorstellung des Unvorhersehbaren machen, wenn man sich der Vergangenheit zuwendet und eines der großen Ereignisse des Jahrhunderts befragt: die Bildung des sowjetischen Regimes und des von ihm propagierten kommunistischen Modells. Die liberale Legende besteht darauf, der Kommunismus sei das Produkt einer im Westeuropa des 19. Jahrhunderts geborenen Utopie, des Marxismus. Er ist jedoch nur zu verstehen, wenn man die Verbindung betrachtet, die zwischen heterogenen Elementen zustande gekommen ist. Diese Elemente entstammen einerseits der Demokratie, den Organisationsschemata des Kapitalismus, der sozialistischen Bewegung Europas. Und auf der anderen Seite entstammen sie dem alten Regime Rußlands, welches das Land mit dem Despotismus asiatischen Typs verband, sowie den konspirativen und terroristischen Bewegungen, deren Bühne dieses Land im ausgehenden 19. Jahrhundert geworden war. Bereits das kommunistische Phänomen zeugt von den Auswirkungen der Bildung eines Welt-Raums, das heißt von einem Prozeß, den der Erste Weltkrieg beschleunigt hatte. Wie Hannah Arendt anmerkt: Nichts versichert uns, daß das Ende des Totalitarismus (das sie zugegeben zu Unrecht mit dem Ende des Stalinismus verwechselte) die Menschheit vor noch monströseren Abenteuern schützen wird.

Wenn es ein Erfordernis gibt, das wir anerkennen müssen und das durch das totalitäre Phänomen anschaulich gemacht worden ist, so ist dies die Rückkehr zum Konkreten. Ich wage es, diesen oft übermäßig verwendeten Begriff zu benutzen, um ihm die Bedeutung zurückzugeben, die ihm Marcel Mauss, einer der Meister der sozialen Anthropologie, gab. Wie er uns aufforderte, sind wir immer gehalten, zu versuchen, das Ineinandergreifen der politischen Tatsachen (im gewöhnlichen Sinn), der wirtschaftlichen und sozialen Tatsachen, der rechtlichen Tatsachen, der religiösen und – allgemeiner gefaßt – der moralischen Tatsachen (hier verstanden als die Lebensweisen, die kollektiven Verhaltensweisen und die Mentalitäten betreffend) zu begreifen. Nur unter dieser Bedingung kann man die Prinzipien eines "In-Form-Setzens", eines "In-Sinn-Setzens" und eines "In-Szene-Setzens" der Beziehungen zwischen den Menschen in einem gemeinsamen Raum des Zusammenlebens unterscheiden. Kurz gesagt: Nur unter dieser Bedingung kann man die Spezifität einer politischen Gesellschaft deutlich unterscheiden, ohne ihre historische Dimension aus dem Blick zu verlieren (hier gebe ich dem Ausdruck "politische Gesellschaft" einen Sinn, der dem antiken Begriff politeia benachbart ist).

Für die Analyse der Demokratie im allgemeinen und insbesondere in der gegenwärtigen Konjunktur muß man dieser Notwendigkeit um so mehr nachkommen. Wie ich bereits anmerkte, zeichnet sich heute die Vorstellung ab, daß die demokratische Gesellschaft eine Gesellschaft von Individuen sei. Eigentlich ist diese Idee nicht neu; sie spukt bereits in den Vorstellungen der Theoretiker eines ursprünglichen Gesellschaftsvertrags herum. Aber wenn man sich fragt, warum sie aus der Philosophie herausgetreten ist, um sich in der Sprache, wenn nicht in der Erfahrung unserer Zeitgenossen festzusetzen, dann muß man, wie ich glaube, mehrere Faktoren miteinander verbinden, die ich bereits erwähnt habe: den Zerfall des Kommunismus, der den Glauben an eine organische Gesellschaft ins Wanken gebracht hat; die Auflösung – zu einem großen Teil – der Klassenidentitäten, die – wie wir im nachhinein bemerken – eine Verbindung zum Begriff einer Identität des Volkes und der Nation unterhielten; die Expansion des Marktes und der sie begleitende technologische Wandel. Letzteres ist ein Phänomen, dessen Folgen zugleich widersprüchlich und komplementär sind. Denn der Markt tendiert dahin, das Bild des Individuums als Verbraucher durchzusetzen und er verursacht den Ausschluß eines Teils der Bevölkerung aus dem Wirtschaftskreislauf und das Erscheinen eines entbundenen oder sozusagen entblößten Individuums. Zu diesem Phänomen hinzu kommen die Veränderung der Lebensweisen und deren sichtbarste Zeichen: die Emanzipation der Frauen, weiter die Unsicherheit der ehelichen Beziehungen und die Erosion der Bezugspunkte, die in allen Bereichen (angefangen bei der Familie und der Schule) den Abstand zwischen dem Inhaber der Autorität und den ihr Unterliegenden absteckten. Der Abbau der bürgerlichen Ideologie betrifft, wie ich vor ungefähr zwanzig Jahren in einem Text anmerkte, ihre gesamte Architektur. Sie hatte an der Stelle der Zeichen einer durch die Religion gesicherten Transzendenz diejenigen einer Transzendenz der "Ideen" unter der Gewähr der Vernunft errichtet. Alle Institutionen, begonnen beim Eigentum, wurden in der Sprache der Bourgeoisie großgeschrieben. Ein kleines, ganz neues Beispiel für das Bemühen, die Höhe, auf der sich der Inhaber der Autorität aufhält, zu vernebeln – ich erwähne es nur um des Vergnügens willen –: die "Nationale Vereinigung der Patrons" hat ihren Namen geändert. Das Wort "Patron" ist obszön geworden, man spricht lieber von "Unternehmer": Der einzig schickliche Wortschatz ist der der Funktionalität.

Muß man daraus schließen, daß das demokratische Regime wesensgleich mit der bürgerlichen Gesellschaft war? Ich glaube nicht. Die Demokratie neigt, wie Tocqueville es ankündigte, unaufhörlich zum Egalitarismus (der nicht mit dem Fortschritt der Gleichheit in der Realität zusammenfällt) und zum Individualismus (der nicht mit der Unabhängigkeit des Individuums zusammenfällt). Nichtsdestoweniger glaubte er, daß man den Veränderungen, die den Wunsch nach Gleichheit und den Wunsch nach individueller Freiheit anspornten, nicht entgegenwirken konnte. Wir sind immer noch dabei, zu entziffern, was das Kennzeichen einer Befreiung und was das Kennzeichen neuer Knechtschaftsformen trägt. Ich habe darauf keine Antwort. Ich nehme nur deutlich die Gefahr einer Entsymbolisierung der gesellschaftlichen Beziehungen wahr. Die Verkleidung der Unterschiede der Plätze in allen Bereichen in eine auf Vernunft gründende Hierarchie war ein Kennzeichen der bürgerlichen Ordnung. Aber die Ablehnung dieser Ordnung stellt uns vor Unterschiede (deren vorrangige die Geschlechtsbeziehung und die Abstammung betreffen), die für das gesellschaftliche Leben konstitutiv sind.

Wenn man der Vorstellung einer Gesellschaft von Individuen verfällt, ist man Opfer eines Mythos. Und man sieht nur zu gut, wie dieser Mythos partikulare, durch den Markt beförderte Interessen zufriedenstellt. Noch einmal ist es wichtig, die Verflechtung der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Tatsachen zu begreifen. Wenn sich die Träger der politischen Autorität im Namen der ökonomischen Notwendigkeit mit einem gesellschaftlichen Bruch abfinden und den Staat nur noch als Geschäftsführer des nationalen Unternehmens – mehrfach habe ich den Ausdruck "Unternehmen Frankreich" gehört – darstellen, dann sind sie die Hauptverantwortlichen für den Verlust des Symbolischen. Wenn die Macht nicht mehr auf einen Pol des Gesetzes hindeutet, auf einen Brennpunkt gesellschaftlicher Institutionen, der sich nicht im Rahmen der Wirklichkeit befindet, so zerfällt die Gesellschaft deswegen durchaus nicht in ein Netz von Beziehungen zwischen Individuen; sie wird nur immer undurchsichtiger. Ihre Geschichte wird erduldet, anstatt interpretiert zu werden.

Übersetzung aus dem Französischen: Ariane Cuvelier und Hans Scheulen

Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags anläßlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für Politisches Denken – Bremen, im November 1998.