Kolumne:

Mehr direkte Demokratie wagen

Cem Özdemir

Mehr direkte Demokratie wagen - dieses Versprechen ist, zusammen mit anderen BürgerInnenrechten, das Kernstück jenes "großen Demokratisierungspakets", das die Grünen über mehrere Wahlperioden hinweg immer weiterentwickelt haben.

Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen wurde dieser Grundsatz als Ziel der Regierungstätigkeit festgeschrieben. Wir sind uns mit der SPD darin einig, daß Demokratie mündige Bürgerinnen und Bürger braucht und daß die Akzeptanz unserer demokratischen Grundordnung davon abhängt, inwieweit wir die Menschen in Zukunft in die demokratischen Prozesse einbeziehen. Die Parteispendenaffäre verstärkt den Druck. Es besteht die Gefahr, daß durch die Parteienkrise die Demokratie insgesamt in eine Vertrauenskrise gerät. Nur eine offene und transparente Zivilgesellschaft kann die Herausforderungen der Zukunft hier lösen. Demokratie und Mündigkeit müssen an die Stelle von Geheimkabinetten und Bevormundung treten. Verantwortungsbewußtsein und aktive Beteiligung an die Stelle von Egoismus und Patriarchat. Lebendige Demokratie - wörtlich übersetzt "Herrschaft des Volkes" - muß mehr sein als "Zuschauerdemokratie".

Viele Menschen sehen seit langem nicht mehr ein, warum sie nur alle vier oder fünf Jahre ein "Kreuzchen" machen sollen, ansonsten aber von der Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen werden. Ob Nachrüstung, Atomenergie oder Einigungsvertrag - immer wieder wurde eine Bevölkerungsmehrheit von schwarz-gelben Parlamentsmehrheiten kalt übergangen. "Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten", war ein verbreiteter Spruch der 90er Jahre, der die politische Resignation in der Bundesrepublik sehr deutlich macht. Folge ist eine dramatische Wahlenthaltung der Wählerinnen und Wähler, deren Tiefpunkt jüngst bei den Bürgermeisterwahlen in Halle mit 37 Prozent Wahlbeteiligung erreicht wurde.

Politikerinnen und Politiker haben - ungeachtet davon, ob die eigene Partei in den Skandal um die Parteispenden involviert ist oder nicht - in den kommenden Monaten die Aufgabe, das Vertrauen in die Demokratie der Bundesrepublik zurückzugewinnen. Keine einfache Aufgabe. Als kleiner Koalitionspartner sehen wir eine wichtige Maßnahme darin, endlich Formen der direkten Demokratie im Grundgesetz einzuführen und unsere Forderungen aus den letzten Jahren in die politische Diskussion einzubringen.

1. Volksinitiative: Ziel einer solchen Initiative ist es, das Parlament dazu zu bewegen, sich mit einer bestimmten Thematik zu befassen. Wir halten ein Quorum von 100000 für durchaus angemessen. Ist die Volksinitiative erfolgreich, muß sich das Parlament binnen sechs Monaten damit befassen und eine Entscheidung treffen. Aus praktischen Erwägungen soll das Haushaltsgesetz von der Volksinitiative ausgenommen werden, da es notwendig ist, mit der Vorlage Deckungsvorschläge zu machen.

2. Volksbegehren: Sind die Initiatoren mit der parlamentarischen Befassung einer Volksinitiative nicht einverstanden, können sie ein Volksbegehren einleiten. Gegenstand muß nun aber zwingend ein Gesetzentwurf sein. Ausnahmen in Form einer Beschlußvorlage wären nur zulässig, wenn eine entsprechende parlamentarische Entscheidung ebenfalls nicht in Form eines Gesetzes getroffen werden könnte – wenn etwa Regelungsbefugnisse der Organe der EU betroffen sind. Der Inhalt des Volksbegehrens kann auf Antrag von mindestens einem Drittel des Parlaments sowie von Bundes- oder Landesregierungen vom Verfassungsgericht überprüft werden. Je früher dies geschieht, um so besser. Man sollte aber der Initiative grundsätzlich die Gelegenheit zur Anpassung ihres Entwurfs im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geben, ohne von vorne anfangen zu müssen. Bündnis 90/Die Grünen haben sich beim Begehren für ein Quorum von 1,5 Millionen Unterschriften ausgesprochen, die binnen sechs Monaten vorgelegt werden müssen. Es soll in der Tat nur dann abgestimmt werden, wenn eine gesellschaftlich relevante Zahl von Bürgerinnen und Bürgern dahintersteht.

3. Volksentscheid: Er wird nach erfolgreichem Volksbegehren nach sechs Monaten eingeleitet, wenn das Parlament den Entwurf des Volksbegehrens nicht übernommen hat. Das Parlament kann parallel einen eigenen Entwurf zur Abstimmung stellen. Anders als die Vorstufen eins und zwei ist ein erfolgreicher Volksentscheid ein direktes Gesetzgebungsverfahren durch die Wahlbevölkerung. Auch über internationale Verträge, die nationale Souveränitätsrechte auf internationale Organisationen übertragen, soll das Volk entscheiden können.

4. Minderheitenschutz: Unabdingbar ist bei dem Verfahren die Einhaltung bestimmter verfassungsmäßiger Garantien sowie des Minderheitenschutzes. Es ist dafür Sorge zu tragen, daß der Grundrechts- und Minderheitenschutz der Verfassung nicht gefährdet wird. Unzulässig müssen alle Initiativen sein, die den Grundrechtsschutz gefährden, gegen die Rechte von Minderheiten gerichtet sind oder die Wiedereinführung der Todesstrafe zum Ziel haben. Der Klarheit halber bedarf es dafür einer Klausel im Grundgesetz. Selbstverständlich ist: Das Volk ist im Rahmen der direkt-demokratischen Verfahren ebenso wie das Parlament den Beschränkungen des Grundgesetzes und der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen.

5. Fristen: Um populistische Schnellschüsse oder das Ausnutzen von Kurzzeitstimmungen zu verhindern, sind Fristen für die Abfolge von direkt-demokratischen Elementen unerläßlich. Sie dürfen aber nicht so lang sein, daß das Verfahren im Sand verläuft und sich möglicherweise sogar über mehrere Wahlperioden des Parlaments erstreckt. Der SPD-Vorschlag mit einer gesamten Verfahrensdauer von etwa 18 Monaten scheint hier ein akzeptabler Weg zu sein.

6. Quoren: Zustimmungs- oder Beteilungsquoren von einem Viertel der Abstimmungsberechtigten (über 50% bei Verfassungsänderungen) - wie teilweise vorgeschlagen - könnten dazu führen, daß viele Abstimmungen ins Leere laufen. Zur Sicherung der Durchsetzbarkeit des Vorhabens sollten zumindest realistische Mindestquoren eingeführt werden.

50 Jahre nach Verkündigung des Grundgesetzes ist es Zeit, bundesweit Formen der direkten Demokratie einzuführen. Die deutsche Demokratie ist gefestigt, die Bürgerinnen und Bürger mündig. Es gibt für mich keinen Grund mehr, eine Grundgesetzänderung abzulehnen. Mit ihrer Unterschriftenkampagne hat die CDU deutlich gemacht, daß auch sie auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger setzt. Dies sollte sie nun auch in praktische Politik umsetzen und Bereitschaft zeigen, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen.