Schwerpunkt

Japan im Modernisierungsstau

Siegfried Knittel

Japan, das so lange als Beispiel einer geglückten Verbindung von Tradition und Moderne gepriesen wurde, steckt in einer schweren Anpassungskrise. Mit dem System lebenslanger Beschäftigung gerät auch die gesellschaftliche Homogenität in Gefahr. Die Veränderungen, die den Japanern jetzt abverlangt werden, bestehen nicht in dieser oder jener Korrektur, sondern greifen eine ganze Lebensform an.

Nach westlicher Vorstellung verdankt sich Japans Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht paradoxalen Voraussetzungen, weil er wesentlich auf einem Gemeinschaftsdenken beruht, dem das Prinzip individueller Leistung fremd ist, der einzelne sich vielmehr ganz der Firma als Gemeinschaft verpflichtet fühlt.

Nun aber befindet sich das Modell Japan in einer Krise, die viel mehr ist als eine wirtschaftliche Rezession. Eine tiefe Verunsicherung hat das Land ergriffen. Der Zusammenbruch der <192>Bubble-Economy<169> hat den Japanern ähnlich wie die Ölkrise 1973 den Westdeutschen nach bewußt gemacht, daß der aus dem Nachholbedarf resultierende wirtschaftliche Aufstieg des Landes nicht endlos andauern konnte. Diese Erfahrung war für die Japaner äußerst schmerzhaft, weil er sie in ihrem Glauben an die Einzigartigkeit ihres Volkes und ihrer Kultur erschütterte, den bezeichnenderweise auch mehr und mehr Beobachter aus dem Westen übernommen hatten. Tatsächlich aber hatten die jährlichen hohen wirtschaftlichen Zuwachsraten wesentlich aus der nachholenden Entwicklung des Landes resultiert.

Aber der Nachholbedarf ist gesättigt, die Bereitschaft, aus Hunger nach einem besseren Leben viel und hart zu arbeiten, ist angesichts des erreichten Wohlstands schwächer geworden, die Japaner wollen die Früchte ihrer Arbeit genießen.

Zugleich aber ist Japan in den Industriestaaten, die jüngst erst in das Stadium der nachholenden Entwicklung eingetreten sind, eine aggressive Konkurrenz erwachsen und hat zudem auf einigen wichtigen Feldern der technologischen Entwicklung und Produktion seine frühere Überlegenheit eingebüßt. Gezwungenermaßen reagieren die Konzerne darauf mit einschneidenden Umstrukturierungen ihrer Firmen, durch die bislang als unveränderlich geltende Besitzstände der Arbeitnehmer in Frage gestellt werden.

Der Reichtum hat die Japaner und ihre Gesellschaft verändert und er hat die Stellung des Landes in der Welt verändert. Das aber erfordert ein neues Selbstverständnis der Japaner von sich als Individuen und als Gesellschaft, das sie bisher nicht gefunden haben und dies ist wohl der Kern der Krise Japans.

Von den sozialwissenschaftlichen Japanforschern wird die Krise der japanischen Gesellschaft auf dem Hintergrund ihres neuen Reichtums sehr unterschiedlich beurteilt. Auf ihrer Jahrestagung 1995 in Tutzing, vertrat etwa der Soziologe Christoph Deutschmann ausgehend von Georg Simmels Geldtheorie die Ansicht, daß der abstrakte Charakter des Geldes die Anonymisierung und den Individualisierungsprozeß in Japan vorantreiben werde. Sein Kollege Ulrich Teichler stellte dem die These entgegen, daß das Geld in Japan anders als im Westen nicht zur Reduzierung persönlicher Beziehungen auf Tauschwert beitrage, sondern gerade zur Sicherung personaler Abhängigkeiten und damit zur Stärkung der hierarchisch organisierten Gemeinschaften beitrage.

Die dahinter stehende Frage lautet: Geht Japan den Weg des Westens, oder bleibt es weiterhin eine Gesellschaft, die bei aller Übernahme westlicher Technik an ihrer eigenen Lebensform festzuhalten vermag?

Das Ende des einzigartigen Aufstiegs hat die Japaner in tiefste Selbstzweifel gestürzt. Untergangsstimmung macht sich breit, die ihren Niederschlag in der dem Land drohenden Deflation1 findet. Denn die Preise fallen nicht nur deshalb, weil die Leute weniger Geld haben und der Wertverfall ihrer Immobilien fünf Jahre nach dem Aktiencrash noch immer nicht gestoppt ist, sondern weil sie kein Vertrauen in die Zukunft haben und deshalb kein Geld ausgeben oder investieren. Die fallenden Preise aber verstärken wiederum die wirtschaftlichen Krisenmomente. Die Angst vor der Verschärfung der Krise wird zu einer Selffullfilling-prophecy.

Zu gleicher Zeit, als auf dem Weltmarkt neue Billigpreiskonkurrenten heranwachsen, hat die japanische Industrie im Automobil- und Computerbereich ihre Weltmarktführerschaft verloren, teils weil die amerikanische Autoindustrie gelernt hat, kostengünstiger und qualitativ besser zu produzieren, teils weil die japanischen Hersteller die Bedürfnisse etwa des deutschen Marktes falsch eingeschätzt haben. Mit dem Absturz der Aktienkurse scheinen die Japaner ihre Gewinnermentalität verloren zu haben. Ihr Gespür für Produktinnovationen, nach denen der Markt lechzt, und die Fähigkeit, diese zur Serienreife zu bringen, scheint ihnen über Nacht abhanden gekommen zu sein. Das im Ausland bewunderte und gefürchtete Ministerium für Handel und Technologie, MITI, das mit seiner Industriepolitik die strategischen Ziele der japanischen Industrie jahrzehntelang mitbestimmte, wenn nicht gar vorgab, scheint seine innovatorischen Fähigkeiten verloren zu haben. Dem MITI seien <192>die Visionen ausgegangen<169>, so ein hoher Beamter der Behörde in der Süddeutschen Zeitung.2

Zugleich verlagern Auto- und Elektroindustrie zunehmend Teile ihrer Produktion in die Billiglohnländer Asiens, in die USA und nach Europa. Japan ist ein Hochlohnland, das sich plötzlich der aggressiven Konkurrenz der erst jüngst in das Stadium der nachholenden Entwicklung eingetretenen Länder ausgesetzt sieht.

Damit gerät das System der lebenslangen Beschäftigung in Gefahr. Die Zeit in der die Konzerne nach dem sozialen Modell des <192>ie<169>, des japanischen Hauses, organisiert wurden und von allen mit ihnen verbundenen, seien es Arbeitnehmer oder Zulieferer, unbedingte Gefolgschaft forderten, aber auch immer für sie sorgten, scheint zu Ende zu gehen. Solche Fürsorge war, wie aus der Rückschau immer deutlicher wird, auch nur in der Zeit der nachholenden Entwicklung möglich.

Vor allem in den Zentralen der exportorientierten Konzerne wird deren Zukunft in ihrer internationalen Ausrichtung und der Einführung westlicher Managementmethoden gesehen. So fordert der japanische Managementguru Ohmae Kenichi in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel The End of the Nation State die Abkehr von zentralistischen Konzernorganisationen zugunsten netzartiger über ganz Asien verteilter Geschäftssysteme. So könne etwa ein Anlagenbauer mit Basisstandort Singapur seine Produkt- und Softwareentwicklung in Indien betreiben, die Systemintegration in Malaysia, die Finanzabteilung in Hongkong und die Produktion in China.3 Und in einer ganzseitigen Anzeige im Handelsblatt propagierten der Vorstandsvorsitzende der <192>Mitsubishi Electric Corporation<169> Kitaoka Takashi und Sir Peter Parker, der Vorsitzende des Beirats von <192>Mitsubishi Electric Europe<169>, in ihrem Aktionsprogramm <192>Vision 21<169> gleichfalls die Dezentralisierung des Konzerns, durch die dieser zunehmend seinen japanischen Charakter verlöre.4 Und der neue Toyota-Vorstandschef Okuda Hiroshi, der neuerdings bei General Motors in den USA Autos mit dem Toyota-Logo bauen läßt, die dann nach Japan exportiert werden, predigt seinen meist nur Japanisch sprechenden Managern: <192>Wir wollen und können ein internationales Unternehmen werden, das selbst Vorstandssitzungen auf Englisch führt.5 Die Globalisierung der Märkte, die nicht nur eine stärkere weltweite Konkurrenz sondern auch Joint-ventures mit sich bringt, zwingt die Konzerne, ihre Unternehmenskultur grundlegend zu verändern.

Der propagierte internationale Managementstil, <192>schnelle Entscheidungen von oben statt langwieriger Konsensbildung von unten<169>, <192>mehr Individualismus und weniger Gruppengeist<169>6, bedeutet den Verlust der spezifisch japanischen Unternehmenskultur, jener hochformalisierten Konventionen, derer die Japaner zu ihrer Selbstdefinierung bedürfen und derer die Firma zu ihrer Konstituierung als Gemeinschaft bedarf.7 Gefordert sind plötzlich entscheidungsfreudige, selbsttätig handelnde Individuen, deren Herausbildung die japanische Erziehung und das Schulwesen verhindert.

Mögen auch viele der Versuche, eine neue Managementkultur in den Firmen einzuführen, im Sande verlaufen oder das Schicksal der Gruppenarbeit in Deutschland erleiden, von der bisweilen mehr gesprochen als daß sie praktiziert wird. Wenn aber nur ein Teil dieser Verwestlichung der japanischen Firmenkultur Realität wird, Lohn und Laufbahn mehr am Leistungsprinzip als am Senioritätsprinzip orientiert werden und das Prinzip der unbedingten Fürsorge der Firma für ihre Mitarbeiter und ihre Zulieferer aus Konkurrenzgründen seine Gültigkeit verliert, dann wird diese Veränderung über die Betriebe hinaus eine enorme gesellschaftliche Dimension bekommen. Sie wird nicht nur wegen des Wegfalls vieler Arbeitsplätze, sondern weil diese Veränderungen das Selbstverständnis der Japaner zutiefst berühren, die japanische Gesellschaft verändern.

Auf der oben erwähnten Tagung beschrieb Kerstin Teicher in einem Beitrag, mit welchen Tricks das Prinzip der Lebensarbeitszeit von den Konzernen unterlaufen wird. So ist es inzwischen übliche Firmenpraxis, entsprechend dem Personalbedarf Mitarbeiter in andere Firmen desselben Firmenverbundes auf Dauer oder befristet auszulagern. Gängige Konzernpraxis ist es auch, Leiharbeitsfirmen zu gründen, deren Mitarbeiter, zumeist Leute mit spezifischen Berufsqualifikationen, von den zum Konzern gehörigen Firmen je nach Bedarf angefordert werden.

Aber dem Bedürfnis der Firmen nach einer flexibleren Einstellungspraxis und mehr leistungsorientierten Löhnen, entspricht, so Brigitte Hamm in einem Vortrag auf der Jahrestagung 1991 der obengenannten Vereinigung zur <192>Individualisierung in der japanischen Gesellschaft<169> die wachsende Zahl junger Leute, die nach Abschluß der Oberschule oder des Studiums entgegen der gängigen Praxis kein lebenslanges Beschäftigungsverhältnis ohne eine berufliche Qualifkation eingehen. Statt dessen ziehen sie es vor, als ausgebildete Fachkräfte, vornehmlich im High-Tech- oder Computerbereich, in einer Firma zu arbeiten, ohne zu deren Stammbelegschaft zu gehören. Das damit verbundene höhere Maß an Freiheit, nämlich die Möglichkeit, entsprechend der eigenen Qualifikation sich auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle suchen zu können, ist ihnen wichtiger als die Sicherheit der lebenslangen Beschäftigungsgarantie.8

Aber die Profiteure dieses Umstrukturierungsprozesses sind bislang eine Minderheit; die Zahl der Verlierer ist mit Sicherheit größer. So ist die offizielle Arbeitslosenquote bei früher undenkbaren 3,2 Prozent angelangt, wozu noch eine ebenso hohe Dunkelziffer kommt. Einschlägigen Schätzungen zufolge, wird sich die offizielle Quote bis zum Jahr 2000 verdoppeln. Arbeitslosigkeit in Japan ist aber in ihren Folgen viel schwerwiegender als in Deutschland, weil es keine mit der deutschen Arbeitslosenversicherung vergleichbare soziale Absicherung für die von Betriebsverlagerungen und Rationalisierungen Betroffenen gibt. Das mag seinen Grund in der Neigung der Japaner haben, soziale Systeme immer auf ein Netz persönlicher Beziehungen und Abhängigkeiten aufzubauen. Die Form abstrakter Solidarität, wie sie in der deutschen Arbeitslosenversicherung zum Ausdruck kommt ist ihnen fremd. Zudem fiel es den Firmen in der Zeit immerwährenden überdurchschnittlichen Wachstums leicht, gemäß der Fürsorgepflicht des <192>ie<169>, des japanischen Hauses, für Arbeit und Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer die Verantwortung zu übernehmen.

In den USA mit seiner ebenfalls geringen Unterstützung für die Arbeitslosen fand in den vergangenen Jahren ein Großteil der aufgrund betrieblicher Rationalisierungen entlassener Arbeitnehmer im Dienstleistungsgewerbe eine mehr schlechte als rechte neue Existenz. In Japan ist dies so kaum vorstellbar, weil der Dienstleistungssektor traditionell personell sehr stark besetzt ist. Äußerst personalintensiv etwa ist der Einzelhandel mit seiner Unzahl kleiner Geschäfte, die das Gesicht der Wohnbezirke der Großstädte prägen und deren Existenz vom Staat gegen die Konkurrenz der Einkaufsmärkte geschützt wird.

Personalintensiv ist auch der Service den die Tankstellen ihren Kunden zuteil werden lassen <196> das Selbsttanken ist wegen angeblicher Brandgefahr verboten. Und an jeder größeren Baustelle ist eine Unzahl von Wachleuten damit beschäftigt, die Baustelle zu bewachen und den Verkehr zu regeln, auch wenn dies nach unserem Verständnis gar nicht notwendig ist. Und geht man zum Frisör, so wird man vom Meister, einem Gesellen und einem Lehrling zugleich bedient, muß dafür aber auch einen stolzen Preis bezahlen.

Natürlich kommt in der Servicefreundlichkeit auch eine Mentalität zum Ausdruck, die den Dienst am Kunden auf eine sehr angenehme Weise höher schätzt, als dies bei uns der Fall ist. Aber zwischen Produzent und Einzelhandel agiert in der Regel ein ganzes Geflecht von Zwischenhändlern, die alle an den Waren verdienen wollen. Auch sind beispielsweise viele kleine Geschäfte mit Elektrowaren per Vertrag an bestimmte Elektrokonzerne so weit gebunden, daß sie zur Abnahme von dessen Geräten verpflichtet sind. Loyalitäten, nicht nur der Preis, spielen in weiten Bereichen des Einzelhandels eine große Rolle. Ausländische Produzenten finden durch die oft exklusive Bindung der kleinen Geschäfte an Zwischenhändler und Hersteller schwer in den japanischen Markt hinein.

Veraltet und schwerfällig ist etwa auch die Arbeitsweise in den Banken. So sind zur Einlösung eines Reiseschecks grundsätzlich zwei Personen notwendig, eine Person, die den Vorgang abwickelt und eine die die Abwicklung kontrolliert. Als westlicher Besucher ist man zudem davon überrascht, wie wenig PCs ausgerechnet im Computerland Japan auf den Schreibtischen der Bankangestellten stehen. Der personalintensive Dienstleistungsbereich dürfte wohl auch wesentlich dafür verantwortlich sein, daß die Gesamtproduktivität Japans entgegen unserem Eindruck im Westen bis heute geringer ist als die deutsche.

Ohne Zweifel ist hier ein ungeheures Rationalisierungspotential ausschöpfbar. Weil Dienstleistungen zudem vergleichsweise teuer sind, tragen sie wesentlich zu den hohen Lebenshaltungskosten in Japan bei und machen das hohe japanische Lohnniveau praktisch notwendig. Die Rationalisierung des Dienstleistungsbereichs, die Ersetzung des Geflechts von Loyalitäten durch Wettbewerbsbeziehungen und die damit einhergehende Verbilligung von Leistungen sind daher eine wirtschaftliche Notwendigkeit, um das allgemeine Lohnniveau zumindest nicht weiter steigen zu lassen und damit zur weltweiten Konkurrenzfähigkeit Japans beizutragen.

Aber die Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften im Dienstleistungsbereich bedeutete für allzu viele den Fall in ein finanzielles Nichts oder würde viele Rentner um eine notwendige Einnahme zur Ergänzung ihrer kärglichen Rente bringen. So gesehen wirkt das Verbot von Selbstbedienungstankstellen und des Baus von Einkaufsmärkten in den Wohnbezirken der Städte wie ein Arbeitsbeschaffungsprogramm, dessen Kosten und Annehmlichkeiten die Japaner mit dem hohen Preisniveau bezahlen.

Auch sind die vielen kleinen Läden Teil einer sozialen Infrastruktur und Orte einer sozialen Kommunikation, die für den Wohnwert der Wohnviertel der Städte von großer Bedeutung ist. Wenn man weiter davon ausgeht, daß eine intakte Sozialstruktur zudem die Entstehung der in Japan bekanntermaßen sehr geringen Kriminalität hemmt, die ja letztlich auch hohe von der Gesellschaft zu tragende Kosten verursacht, dann sind die hohen Preise in Teilen des japanischen Dienstleistungssektors letztlich gar nicht mehr so hoch. Das Problem ist nur, daß es für den Wert einer intakten Sozialstruktur in Japan so wenig wie in Deutschland eine Berechnungsgrundlage gibt.

Aufhalten lassen wird sich die Rationalisierung des tertiären Sektors langfristig nicht. Der Konkurrenzdruck des Weltmarkts wird Japan in zunehmend mehr Bereichen jenen wirtschaftlichen Ausleseprozeß aufzwingen, der in den Staaten des Westens Normalität ist, ja für das Funktionieren des Kapitalismus so lange als unabdingbar galt, bis die japanische Volkswirtschaft dieses <192>Gesetz<169> zu widerlegen schien.

Zu befürchten ist, daß mit diesem Ausleseprozeß das Land seine Homogenität verlieren wird. Der neue zu Wohlstand gekommene Mittelstand wird noch reicher werden und zu den im Bahnhof Shinjuku von Arbeits- und Obdachlosen aufgeschlagenen Pappkartonhütten werden noch andere hinzukommen.

Das Japan des neuen Wohlstands zeigt sich in Tokyos Modeviertel Harajuku, dessen französische und italienische Restaurants und Straßencafés, Galerien und Boutiquen den Besucher fast vergessen lassen, daß er sich in Japan befindet. Hier flaniert und kauft der neue Mittelstand <196> Menschen, die schon in Europa waren oder zumindest aus Fernsehen und Kino wissen, was man dort ißt und anzieht. Von Krise und Depression ist dort wenig zu spüren.

Harajuku ist das Viertel der in ihrem indivdualistischen Lebensstil an der westlichen Kultur orientierten Lonely people die die Romane Murakami Harukis bevölkern. Dort trifft man jene jungen Leute, die, wie Georg Blume in der Zeit schrieb, gegen Frankreichs Atomversuche im Pazifik protestierten, indem sie statt französischem Bordeaux italienischen Chianti trinken <196> entgegen der seit Jahrzehnten aus handelspolitischen Rücksichten praktizierten politischen Zurückhaltung.9

Das bedeutet, daß im Unterschied zu früheren vergleichbaren politischen Situationen und trotz aller wirtschaftlichen Probleme des Landes Japaner vermehrt beginnen, immaterielle, moralische Motive in ihr politisches Handeln mit einzubeziehen. Bezeichnenderweise ist es wie zuvor in der BRD die mit dem wachsenden Wohlstand Japans großgewordene Generation, die diesen als Basis eines individuelleren Lebens und eines höheren Maßes an politisch-moralischer Entscheidungsfreiheit betrachtet.

Zu Recht hat der Politologe Paul Kevenhörster 1991 <196> zwei Jahre vor dem Ende der vierzigjährigen LDP-Herrschaft <196> auf dem oben erwähnten Symposium zur <192>Individualisierung in der japanischen Gesellschaft<169> davon gesprochen, daß die Gewichtung der Streitfragen materieller Natur zugunsten der Fragen, die die politische Legitimität des Systems betreffen, abnehmen werden.10 Vor diesem Hintergrund muß man die sich über Jahre erstreckende Aufdeckung des Korruptionssumpfes sehen, in dem mehr oder weniger die gesamte politische Klasse Japans steckte und die zur Änderung des japanischen Wahlgesetzes und zur Kontrolle des Spendenzuflusses an die Parteien führte. Ganz offensichtlich hat für einen Großteil der Japaner das Sprichwort, daß man alles, was stinkt, zudecken soll, seine frühere Plausibilität verloren. Neben dem Wohlstand nennt Kevenhörster die zunehmende berufsbedingte Mobilität und die Urbanisierung der Städte als Ursache wachsender politisch-moralischer Unabhängigkeit. Das ist die andere, positive Seite des oben beschriebenen Verlusts der quasidörflichen Gemeinschaftsstrukturen und der gewachsenen Kommunikationsstruktur der Stadtteile: Durch die zunehmende Anonymisierung verlieren die das soziale Leben organisierenden Chonaikai genannten Nachbarschaftsvereinigungen ihren Einfluß auf das Wahlverhalten der in den Wohnbezirken lebenden Menschen, der jahrzehntelang vor allem der LDP zugute gekommen war.

Zu dieser Urbanisierung trägt neben der Rationalisierung des Dienstleistungsgewerbes die schon seit Jahrzehnten zu beobachtende Abnahme der Zahl der Drei-Generationen-Haushalte bei. Die jungen Leute bemühen sich, nach der Heirat eine eigene Wohnung zu finden, um dort ihr eigenes, nicht von ihren Eltern bestimmtes Leben leben zu können. Dies hat einen zunehmenden Bedarf an Wohnungen zur Folge. Da Baugelände knapp ist, kaufen Wohngesellschaften große Areale mit den für Japan typischen Einfamilienhäusern auf, um dort Appartmenthäuser mit integrierten Supermärkten zu errichten. Wer vorher in einem im Winter schlecht beheizbaren Haus oft ohne Kanalanschluß wohnte, tauscht dieses dann gegen eine kleine, aber moderne Wohnung ein und kauft dann in dem im Haus befindlichen Supermarkt, mit seinem riesigen Angebot ein. In den neuen Wohnarealen, in denen ungleich viel mehr Menschen wohnen, kann sich so nur schwer jene soziale Infrastruktur entwickeln, die mit dem Abriß des alten aus Einfamilienhäusern bestehenden Wohnquartiers zerstört wurde.

Von vielen Japanern wird der Zerfall der Nachbarschaftsvereinigungen begrüßt, weil sie in den Chonaikai ein aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammendes Instrument der sozialen Kontrolle sehen, während andere sich in deren Gemeinschaft geborgen fühlen. Das größere Maß an Anonymität vergrößert zum einen die Wahlmöglichkeiten in Fragen des Lebensstils, zwingt die Menschen zugleich aber dazu, sich selbst ihre sozialen Zusammenhänge zu organisieren. Das von vielen ersehnte Mehr an persönlicher Freiheit bedeutet zugleich den Verlust an Wärme und Geborgenheit, deren viele Japaner in ihrem sozialen Leben so sehr bedürfen.

Diese der Freiheit gewissermaßen innewohnende Ambivalenz spiegelt sich in der Einstellung der Japaner gegenüber allem Fremden und Andersartigen wider. So kann man das zunehmende Interesse an europäischen Konsumgütern wie holländischem Bier und die steil anwachsenden Verkaufszahlen von Importautos, zwischen Januar und November 1995 stiegen die Zulassungen um 30 Prozent, als ein Stück Ausbruch aus der hermetischen Geschlossenheit der japanischen Gesellschaft und Kultur interpretieren.11 Die Panikkäufe in den Reisläden im letzten Jahr nach Pressemeldungen, denen zufolge die japanischen Reisvorräte zur Neige gehen sollten, machen aber deutlich, wie gefährdet diese Öffnung gegenüber dem Fremden immer noch ist. In den Greuelberichten über die angebliche Ungenießbarkeit thailändischen Reises lebte urplötzlich wieder die alte tiefsitzende Angst gegenüber allem Fremden auf, hinter der ein fragiles Selbstwertgefühl sichtbar wird. Die Begegnung mit dem Fremden, die Möglichkeit, es mit dem Eigenen zu vergleichen, konfrontiert die japanische Gesellschaft mit dem schwach entwickelten individuellen Identitätsgefühl, das in der Vergangenheit durch ihre hermetische Geschlossenheit kompensiert werden konnte.

Wird die japanische Gesellschaft diese notwendigen Veränderungen ihrer Lebensform verkraften? Gewiß, die japanische Geschichte kennt mehrere Beispiele einer erfolgreichen Integration fremder Religionen und Kulturformen in die eigene Kultur. Was den gegenwärtigen Modernisierungsbedarf aber kennzeichnet, ist, daß er von den Japanern eine Veränderung ihrer Lebensform abverlangt, die sie nicht nur der Sicherheit alter Gewohnheiten beraubt, sondern die die individuelle Unsicherheit, der die Japaner mittels ihrer Gemeinschaftsorientierung zu entgehen trachten, zum Lebensprinzip erhebt.

Zu Schwarzmalerei besteht wohl trotzdem kein Anlaß. Daß die vorhandene existentielle Verunsicherung in einen neuen Chauvinismus umschlägt, wie manche Intellektuelle und Linke argwöhnen, und der auch ein Motiv der Terroraktionen der Aum-Sekte war, ist letztlich wohl einfach deshalb nicht zu befürchten, weil die Japaner wie die Deutschen ihren erworbenen Wohlstand zu schätzen gelernt haben und auch wissen, daß dieser Wohlstand an den Export japanischer Produkte gebunden ist. Dieser aber bekäme die negativen Folgen einer nationalistischen Außenpolitik am stärksten zu spüren.

Ebenso erscheint es recht unwahrscheinlich, daß Japan in seiner mentalen Verunsicherung technologisch so ins Hintertreffen gerät, daß es seine Konkurrenzfähigkeit und dann auch seinen Wohlstand verliert. Das erscheint schon deshalb unwahrscheinlich, weil das technologische Niveau und die dazugehörige Infrastruktur sehr hoch sind. Auch ist das Land bei aller Krisenstimmung immer noch viel zu innovationsfreudig <196> schon die Zahl der jährlichen Patentanmeldungen im Vergleich zu denen der USA und Deutschlands macht dies deutlich.

Aber Japan muß seine auf den einmaligen Höhenflug folgende Depression durch ein neues Realitätsbewußtsein überwinden, muß begreifen, daß der Wohlstand das Land und seine Stellung in der Welt verändert hat, die Menschen trotz des härteren globalen Wettbewerbs, dem Japan als Hochlohnland ausgesetzt ist, weniger arbeiten und individueller leben wollen. Es ist dies ein Wettbewerb, den die Japaner zunehmend als Individuen zu bestehen lernen müssen. Ob die Veränderung der sozialen Beziehungen in den Betrieben und im Zusammenleben der Menschen möglich sein wird, ohne den einzigartigen sozialen Zusammenhalt, der die japanische Gesellschaft kennzeichnet, zu zerstören, ist fraglich. Immerhin aber war dieser Zusammenhalt eine der Ursachen des Erfolgsmodells Japan, auch wenn er angesichts einer veränderten Gesellschaft und einer veränderten Welt teilweise zum Hemmnis geworden ist und in der bisherigen Form bereits in Auflösung gerät.

1 Wirtschaftswoche 45/95, S. 219

2 Helmut Maier-Mannhart:: Japan am Ende der Aufholjagd. Ein Land steckt im Reformstau, in: SZ 87/95 v. 13./14.4.95

3 Zitiert nach Bernd Ziesemer: Von allen Seiten. Der wankende Wirtschaftsriese und seine Konzerne schlagen zurück<169>, in: Wirtschaftswoche 29/95, S. 56-58

4 Handelsblatt Nr.127/95

5 Rainer Köhler: Fernöstliche Autoträume, in: SZ 249 vom 28./29.10.95

6 Bernd Ziesemer: Praktisch schon tot; Die Managementkultur des Landes wandelt sich<169>, in: Wirtschaftswoche 45/95, S.116-19.

7 Gerhard Preyer, Jakob Schissler: Kulturelle und gesellschaftliche Voraussetzungen der japanischen lean production und ihre gegenwärtige Bedeutung, Harwood, Academic Publishers GmbH, 1995.

8 Brigitte Hamm: Die Sozialstruktur Japans unter dem Blickwinkel der Individualisierungsthese, in Band 14 der Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, 1992, S. 22-38.

9 Georg Blume: Der Musterkunde muckt auf, in: Zeit, 31/95, S. 19.

10 Paul Kevenhörster: Individualisierung des politischen Verhaltens neuere Tendenzen des Wahlverhaltens, in: Band 14 der Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin 1992, S. 57-68.

11 Standortflucht bei Nippons Herstellern, in: Handelsblatt 237/95, S. 21.